Das Erbe des Wasserdrachen: Roman
Von Jutta Draxler
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Über dieses E-Book
In dieser Lebenskrise ist es Paul selbst ein Rätsel, warum ihm die Worte seiner Mutter nicht mehr aus dem Sinn gehen: »Dein Großvater war Lehrer in Tsingtau.« Schließlich begibt er sich auf die Suche nach den Spuren seines Großvaters Ernst Hartung, den es drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach China verschlagen hatte und dessen Schicksal im Dunkeln liegt. Doch Pauls Recherchen erweisen sich als schwierig, zu verwirrend sind die Spuren, die 1947 im Internierungslager Sachsenhausen zu enden scheinen. Am Ende fliegt Paul nach Shanghai und Qingdao, dem einstigen Tsingtau – und entdeckt ein geradezu unglaubliches Familiengeheimnis...
Jutta Draxler
Jutta Draxler, Jahrgang 1952, wurde im westfälischen Soest geboren. Heute lebt sie in Seeon.
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Buchvorschau
Das Erbe des Wasserdrachen - Jutta Draxler
Für meine Kinder,
die mein Firmament sind
Jemanden zu lieben bedeutet auch,
das Glück des Anderen zu wollen.
Françoise Sagan
Ernst Hartung, 1912
Inhaltsverzeichnis
Shanghai, 22. Januar 2012
Chiemsee, Herbst 2011
Bodensee
Anna
Anna
Chiemsee, Dezember 2011
Shanghai, Dezember 2011/ Januar 2012
Anna
Shanghai
23. Januar 2012
Quellenverzeichnis
SHANGHAI, 22. JANUAR 2012
Liang rieb seine Hände aneinander, um sie ein wenig zu wärmen. Dann steckte er sie in die Jackentaschen und vergewisserte sich, dass er den Ladenschlüssel bei sich hatte. Es war ein kalter Wintertag in Shanghai und der ständige Dunst schien noch undurchdringlicher als in den letzten Tagen. Die schmalen Gassen der Altstadt, in denen die Garküchen noch weiteren Dunst erzeugten, wirkten fast unwirklich; Menschen und Häuser verschwanden wie hinter einem Vorhang, die Welt schien geschrumpft, auf einen winzigen Kosmos reduziert. Die vielen Dekorationen, die das morgen beginnende Drachenfest ankündigten, brachten kaum Farbe in die Düsternis.
Liang machte das trübe Wetter nichts aus, er war guter Dinge. Er hatte in den letzten Tagen redlich verdient in seinem kleinen Teegeschäft. Touristen und Einheimische hatten Geschenke gekauft, als würde es bald nichts mehr geben.
Liang schloss die Ladentür auf, schaute in die lichten Regale und begab sich in den hinteren Lagerraum, um neue Ware auszupacken. Er war bekannt in der kleinen Geschäftsstraße, durch die kaum ein Auto fahren konnte, weil sie durch die Karren, die Kochstellen vor den Läden und den ständigen Menschenstrom wie ein enges Labyrinth war. Die Besonderheit, die Liang auffallen ließ, war seine Größe. Er überragte die meisten Männer um eine Kopflänge und hatte hohe Wangenknochen, die ihm ein gutes Aussehen verliehen. Er war beliebt in dem alten Viertel, weil er mit seiner Frau den kleinen, altmodischen Laden nicht aufgab, um in der schnelllebigen Welt, die schon ein paar Straßen weiter als Hochhausskyline glänzte, ein moderneres Leben zu führen. Hier in den schmuddeligen Gassen lebte noch ein wenig die alte Tradition fort.
Viele Menschen waren auf dem Weg, das pulsierende Shanghai für ein paar Tage zu verlassen, um ihre Familien auf dem Land zu besuchen. Andere kamen mit Zügen oder Autos zu den Feierlichkeiten in die Stadt. Die chinesische Bevölkerung war in Bewegung, Firmen und Baustellen hingegen standen still für das traditionelle Fest. Wie jedes Jahr zum chinesischen Frühlingsfest, dem Wechsel in ein anderes Sternzeichen, war die Hölle los.
Morgen würde das Jahr des Wasserdrachen beginnen. Im chinesischen Kalender war dies etwas Seltenes und Besonderes. Alle sechzig Jahre verband sich der neunte Himmelsstamm mit dem fünften Erdzweig, und dieses Mondjahr, durch das Glückszeichen des Wasserdrachen symbolisiert, stand nun bevor.
Liang mochten den Trubel nicht besonders, was er jedoch für sich behielt, weil das in China kein Mensch verstehen würde. Aber in diesem Jahr wollte er ausgelassen feiern. Seine Frau Shenmi würde ihm im Juni ein Kind gebären. Er war überglücklich, dass sich der lang ersehnte Wunsch gerade jetzt, im Jahr des Wasserdrachen, erfüllte. Liang arbeitete schnell, er wollte fertig sein, bevor seine Frau ins Geschäft kam. Er fragte sich immer wieder, ob sie die Geschenkartikel und Tees mit ihrem besonderen Lächeln oder über das liebevoll dargebrachte Tee-Zeremoniell so gut verkaufte, während er sich um die Tee-Plantage kümmerte. Nach dem Fest, so hatte Liang beschlossen, würde er seine Plantage verpachten, um in Shanghai zu bleiben und seiner Frau zur Seite zu stehen. Sie wäre sonst fast immer allein mit dem Kind und könnte den Laden nur mit Hilfe ihrer Eltern betreiben. Nein, er wollte anders leben, als es in den meisten chinesischen Familien üblich war. Ihm war es wichtig, das Kind mit Shenmi aufzuziehen und die Fürsorge nicht den Großeltern zu überlassen. Schließlich beherrschte er zwei Fremdsprachen und konnte als Übersetzer oder Dolmetscher etwas dazuverdienen. Das hatte ihm schon vor einigen Jahren gutes Geld eingebracht und würde seiner kleinen Familie das Auskommen sichern.
Der Dunst lichtete sich, die Luft tauschte sich aus und verscheuchte das Gefühl, irgendwann im Smog von Shanghai ersticken zu müssen. Die Sonne hing als matte Scheibe am Himmel und war nur zu erahnen.
Liang liebte seine Heimatstadt und besonders dieses Viertel, in dem das alte Brauchtum seine Bedeutung noch nicht verloren hatte. Er liebte ebenso seine Teeplantage, die Arbeit, das einfache Leben und die Zufriedenheit, die darin lag. Doch er wollte einen Schnitt machen, weil er davon überzeugt war, dass es nichts Schöneres gab, als mit Frau und Kind zusammen zu sein.
Vor einigen Tagen, als er noch nichts von der Schwangerschaft ahnte, hatte er eine besondere Begegnung, die sein Leben veränderte. Auf diesen fast unwahrscheinlichen Zufall hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt. Dieses Ereignis war es, das Liang letztendlich auf die Idee brachte, die Plantage zu verpachten und für einen annehmbaren Preis den Tee von dort zu beziehen. Liang fühlte sich wie in einem wunderbaren Traum. Zuerst diese Zufallsbegegnung und wenige Tage später die frohe Botschaft von Shenmi. Seine Frau war zufällig, oder vielleicht ahnte sie etwas, bei einer befreundeten Ärztin gewesen. Ein leichtes Ziehen in den Leisten und in den Brüsten gaben keinen Grund zur Sorge. Die Ärztin untersuchte Shenmi und diagnostizierte die Symptome mit einem strahlenden Lächeln als Schwangerschaft im dritten Monat.
Liang räumte weiter die Regale ein, bis ihm eine der Geschenkschatullen in die Hände fiel, die er kürzlich seiner besonderen Begegnung als Andenken überreicht hatte. Er öffnete das verzierte Holzkästchen, nahm den Wasserdrachen aus Porzellan heraus, umschloss ihn zärtlich mit seinen Händen und hielt ihn, als wollte er eine Botschaft senden, zum Fenster. Bei den vielen schöne Gedanken, die er in diese Richtung schickte, kamen ihm die Tränen der Rührung.
Shenmi kam in den Laden. Sie lächelte und umarmte Liang.
CHIEMSEE, HERBST 2011
»Dein Großvater war in China Lehrer, in Tsingtau, am Gelben Meer.« Diese Worte, die Pauls Mutter in der letzten Zeit wiederholte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Was sollte das? Jahrzehntelang war in der Familie keine Rede von diesem Mann gewesen und jetzt ließ ihm das Leben des Großvaters keine Ruhe, so als wäre seine Seele zurückgekehrt.
Paul konnte sich kaum darauf konzentrieren, den kleinen Koffer für die Reise zu packen. Er irrte durch sein Haus, das für ihn allein viel zu groß war. Ständig suchte er Gegenstände und hätte viel dafür gegeben, wieder in seine alte Verfassung zurückzufinden. Er fand kein Konzept, weil er sich weder in seinen Sachen noch in seinem Leben zurechtfand.
Er wollte in seine Heimat fahren, seinen Geburtsort Soest in Westfalen besuchen, vielleicht einen neuen Anfang für sich finden und nach den Spuren seines Großvaters suchen. Möglicherweise war es kein Zufall, dass die Veränderungen in Pauls Leben mit der Suche nach der Vergangenheit seines Großvaters einhergingen.
Noch vor ein paar Monaten hätte er nicht gedacht, dass das Leben an seinen Grundmauern rütteln würde. Seine Frau Anna hatte ihn nach fünfundzwanzig Jahren Ehe wegen seiner Affären verlassen. Die Kinder waren aus dem Haus und sein Geschäft hatte er weitgehend einem Nachfolger übergeben, nur einige Kunden betreute er noch selbst.
Die Veränderung seiner Lebenseinstellung verlief anders als der Prozess der unfreiwilligen Akzeptanz des Alterns oder die Anpassung nach einem Ortswechsel oder in einen anderen beruflichen Wirkungskreis. Es war, als suchte er nach einem anderen, vielleicht verlorenen Teil in sich, mit dem er die Lücke füllen könnte. Der schmerzliche Verlust des Vertrauten an seiner Seite brachte ihn dazu, Weichen zu stellen und andere Einschätzungen in seinem Leben zuzulassen.
Wenn er an Anna und die Kinder dachte, fürchtete er, dass sein Bemühen vielleicht zu spät war. Das war der Preis für sein langes Zögern und all die Lügen.
Gleichzeitig war ihm rätselhaft, warum sein Großvater, den er nur von Bildern kannte und dessen Vergangenheit im Dunkeln lag, für ihn nun so wichtig war. Als hätte sein Großvater eine magische Hand auf seine Schulter gelegt, um ihm verständlich zu machen, was er in seinem Leben übersehen hatte. Als wollte er ihm zu verstehen geben, dass er das, was er am meisten liebte, mit Füßen getreten hatte. Es fühlte sich an, als wollte sein Großvater ihm eine neue Richtung geben. Manchmal waren Paul seine eigenen Gedanken geradezu unheimlich.
Das Interesse an seinem Vater hatte sich weniger entwickeln können. Paul wollte immer anders sein als sein strenger und pedantischer Vater. Doch mit zunehmendem Alter entdeckte er stattdessen Verhaltensweisen an sich, die denen seines Vaters glichen. Die eingeimpften Eigenschaften wie Ordnungsliebe, strukturiertes Arbeiten, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer hatten zu seinem beruflichen Erfolg beigetragen. Die Strenge des Vaters hatte er stets verinnerlicht und sie ließ sich nicht einfach abschütteln wie das Wasser aus dem Fell eines Hundes. Paul setzte hohe Maßstäbe an sich und seine Mitmenschen. Als wäre es eine genetische Formel, übertrugen sich diese Eigenschaften in ähnlicher Form auf seine Kinder. Paul war nicht preußisch streng wie sein Vater, doch auch die Kinder stellten hohe Anforderungen an sich selbst und andere.
Leider war das Vertrauen seiner Kinder in ihn als Vater erschüttert, weil er sich nicht an das gehalten hatte, was er über Jahre lauthals als eine für ihn wichtige Eigenschaft propagierte: Ehrlichkeit.
Paul ertappte sich hin und wieder dabei, dass er begann Selbstgespräche zu führen, bei denen er sein Verhalten verfluchte. »Was bist du nur für ein Narr. Deiner Eitelkeit bist du zum Opfer gefallen und hast dich einlullen lassen. Warum hattest du übersehen, dass du Anna, Sara und Lisa verlieren könntest?«
Bei den Streitgesprächen mit Anna fühlte er sich stets im Recht und suhlte sich in einer vermeintlichen Überlegenheit.
»Paul, hör auf damit, ich werde dich verlassen.« Wenn Anna ihm mit diesem Satz der Verzweiflung drohte, wollte er es nicht glauben.
Jetzt, wo er es geschafft hatte, die Familie zu vertreiben, blieb ihm nur die Vergangenheit seines Großvaters. Dahinter konnte er sich gut verstecken und den Schmerz des Verlustes für kurze Zeit vergessen.
Er war nicht besser als sein Vater, der seine Probleme allerdings mit Schweigen besiegelte. Paul erinnerte sich an die eingerahmte Liebeserklärung seines Vaters für seine Frau Magdalena. In schönster Schrift und mit Zeichnungen umrandet hingen diese Worte im goldenen Rahmen und unbeachtet in jeder Wohnung seiner Eltern, Wolfgang und Magdalena Hartung, über dem Telefon.
Die Worte waren vermutlich, wenn er an die Ehe seiner Eltern dachte, nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie geschrieben wurden.
Er holte das Memorandum aus dem Keller, um die Zeilen, die zur Hochzeit der Eltern entstanden waren, einmal bewusst zu lesen. Er war überrascht über die fast kitschigen und eigenartig formulierten Worte seines Vaters. Was hatte seinen Vater so verändert, dass Paul meinte, eine andere Person gekannt zu haben?
Zum 15. Februar 1947
Heute ist nun der Tag in unseren zwei Lebenswegen, an dem sie sich, nachdem sie bereits geraume Zeit nebeneinander parallel herlaufen, vereinigen, um in der Zukunft auf einem guten Weg weiter zu gehen.
Als ich im Jahr 1943 hier im schönen Soest diente, kam an einem schönen Frühlingstag ein junges schönes, ein wenig blasses Mädchen mit ihrer Freundin zur Funkstation, um dort zur Feier des Tages am Labskausessen teilzunehmen. Dazu gab es auch eine Flasche Bier und eine saure Gurke, letztere hatte wohl am meisten zum Kommen gereizt.
Jedenfalls sah ich dieses liebe Geschöpf zum ersten Mal, als ich, beim Wachtmeister in Ungnade gefallen, Geschirr spülen mußte. Und der Anblick genügte, daß der Aufwasch im Nu bewältigt war. Bei einem Tänzchen kamen wir uns näher und bei einer Fahrt zum Mond (bis zum siebten Himmel kamen wir nicht) hatte ich das geliebte Wesen zum ersten Mal im Arm, denn ich dachte mir: Die oder keine!
Nach einigen Tagen fanden wir uns dann. Doch da schlug es gleich dazwischen. Eine Versetzung trennte uns, und ich mußte das mir lieb gewordene Soest verlassen. Auf dem Kursus, auf den ich kommandiert war, war mir dieses alles nur ein Ansporn, die Briefe, welche täglich hin und her gingen, machten mich stark.
Einen Wochenendurlaub verlebten wir an einem herrlichen Maientag an der Möhne. Dort gelobten wir auf Grund unserer Liebe, ewig einander treu zu sein, treu bis in den Tod. Und die Sonne und der blaue Himmel waren die einzigen, welche sahen, wie zum ersten Mal die goldenen Ringe an unseren Fingern blinkten und zwei glückliche Menschenkinder sich in tiefster Liebe küßten.
Das Leben ging weiter. Beseelt von der Liebe ging ich hinaus, Flandern, Frankreich, aufs U-Boot, nach Italien, dort unter dem ewig blauen Himmel des Südens, überall war