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TEXT+KRITIK 208 - Angela Krauß
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eBook213 Seiten2 Stunden

TEXT+KRITIK 208 - Angela Krauß

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Über dieses E-Book

Für ihre seit Anfang der 1980er Jahre veröffentlichte Prosa und Lyrik erhielt Angela Krauß zahlreiche renommierte Auszeichnungen, u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Titel ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen "Die Gesamtliebe und die Einzelliebe" spannt den poetischen Bogen einer Weltwahrnehmung, die nach den Worten der Autorin die "Einübung der Zartheit zur Wahrung des Gleichgewichts" versucht. Das Heft nähert sich verschiedenen Facetten ihres Werks, das sich einem linearen Erzählen verweigert und sich in einer fragilen und zugleich virtuosen Sprache der Flüchtigkeit von Ich und Welt, den Erinnerungssplittern der Kindheit sowie dem unergründlichen Zauber von Liebe und Empfindung widmet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Nov. 2015
ISBN9783869164342
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    Buchvorschau

    TEXT+KRITIK 208 - Angela Krauß - edition text kritik

    Notizen

    [2|3]Angela Krauß

    Geschätzte Leserinnen und Leser !

    Wie auch immer Sie ein Buch zu lesen pflegen, von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn – es vermag nicht alle Antworten zu geben, nach denen es Sie verlangen mag. Denn zugrunde liegen rätselhafte Fragen, der Mensch ist ihnen ohnehin ausgesetzt und hält sich tapfer. Aber mitunter stellt er sie, natürlich nur die dringendsten, und harrt auf Antwort. Sie finden diese nirgendwo sonst gedruckt, nur hier, denn die Befragte wirft ihre Antworten in den Wind, in den Luftzug gelegentlicher Gespräche mit Ihnen, so Sie literarische Zusammenkünfte jemals besuchten. Dort werden Fragen laut, zu denen sich im Buch offenbar niemand geäußert hat. Die stoische Wiederkehr dieser Fragen läßt auf ein Defizit schließen, das schmerzt, besonders mich, die ich in jedem Buch mein Innerstes nach außen gewendet zu haben glaube. Das ganze Buch ist eine einzige Antwort. Jedes ! Auf alles !

    Dennoch werden mir diese häufig gestellten Fragen niemals zuviel. Dort, wo sie laut werden, kann ich nicht falsch sein. Ich habe mich nicht in der Tür geirrt. Ich bin zuhause. Ich bin von Fragen umgeben, deren Antworten in die Mitte dieser Behausung führen: zu mir selbst. Dies verdanke ich den Fragen. Am meisten den einfachen, von keinerlei Mitwissen und eifrigem Vorahnen getrübten Fragen, jenen, die in schlechtem Ruf stehen und von manchen Kollegen gefürchtet oder verlacht werden. Es sind kaum mehr als drei. Den sogenannten dummen Fragen verdanke ich viel. Den dümmsten alles. Die eine, jene mit dem Ruf der allerdümmsten Frage, stelle ich mir in bohrenden Zyklen seit dreißig Jahren immer aufs neue selbst.

    Warum schrei­ben Sie eigentlich ?

    Sie reißt einen Abgrund auf zwischen mir und den anderen, die ich für Nahestehende hielt. Ist es denn möglich, nicht zu schrei­ben ? Ist das denkbar? Und um welche Spezies handelt es sich dabei ? Ich bin ihr noch nicht begegnet. Oder habe ich etwas übersehen ? Erst nachdem sie mir zum ersten Mal gestellt wurde, diese Frage, richtete ich sie an mich selbst. Ich fühlte mich wie Adam und Eva, da sie erkannten, daß sie nackt waren. Seitdem schaue ich argwöhnisch an mir hinab, wie wir alle das gelernt haben. Was ist falsch an mir ? Habe ich einen Defekt ? Handelt es sich um einen Mangel oder einen Überschuß ? Hat das einen Namen ? Ist das meldepflichtig ? Wer bin ich überhaupt ? Einst küßte mich ein Römer, und jemand, der sich Ich nennt, erinnert sich daran aus Mangel an anderer Arbeit beim Liegen auf einer [3|4]Decke neben einer gleich explodierenden Fabrik. Muß das aufgeschrieben werden ? Sie hat sich heimlich in mein Nachdenken über die Welt geschlichen, die Frage, und ich bin erleichtert, wenn sie aus der Leserschaft heraus regelmäßig laut wird. Sie unterstellt etwas Unnormales, um nicht zu sagen : Verrücktes. Und dies ausgesprochen zu hören, kann eine Befreiung sein.

    Er hieß Angelo.

    Angelo Molini, Via E. Cialdini 3/2 Roma.

    Einhundert Briefe schrieb ich ihm in jenem Jahr, als die alte Karbol­fabrik explodierte. Ein einziges Mal erhielt ich eine An­sichtskarte: Eine blauorangene Fotografie, von der ich den an einer Ecke abgeriffelten Zipfel der Glanzfolie fassen und über das Bild weg abziehen konnte.

    Ich merke, im Liegen lassen sich leichter waagerechte Gedankenbewegungen machen als senkrechte. Zuerst werden die in der Tiefe ruhenden Ereignisse durch einen blitzschnellen artistischen Akt des Gehirns in die Waagerechte befördert. Nun liegt alles ausgebreitet da wie auf einer Tafel, an der ununterbrochen ge­­schnuppert, geschleckt, gekostet und geschlungen wird. Die Römer speisten im Liegen, und auch die Kinder in den Freibädern tun es, danach geben sie sich wie die Menschen zu allen Zeiten dem Liegen auf Decken ohne Vorwand hin. So wie jetzt ich. Wie konnte ich das so lange vergessen ?

    Ich weiß noch, wie das war mit dem Kuß : Ich schrieb es am Abend in ein verschließbares Buch, dabei stand mir schon vor Augen, wie es jemand aufspürte und las. Als ich die Tinte trocknen sah, fürchtete ich im selben Moment, jemand entdeckte mich. Warum ich es trotzdem tat, weiß ich nicht. Vielleicht wollte ich den Schatz irgendwo bergen wie ein Tier eine ungewöhnlich schöne große Nuß, von der es später leben würde. Ich sehe es noch heute an der tadellosen Schrift : Ich habe mit der Entdeckung durch eine Autoritätsperson gerechnet und suchte sie sofort durch vorbildliches Schönschreiben für mich einzunehmen. Die schöne Form gelang mir so gut, weil ich bereits hunderte Stunden mit dem Training verbracht hatte. Meine Kinderjahre hatte ich an sie verwendet. Niemand hatte mich dazu aufgefordert. Mir scheint, als ich in dieser Gegend auf die Welt kam, habe ich durch den Schwebstaub hindurch in ihr den einzig verbleibenden Sinn meines Hierseins erkannt. Seitdem war ich gewöhnt, hart zu arbeiten. Jede Schönheit muß man hier dem Dasein entreißen; ich hatte es verstanden, kaum, daß ich geboren war. Es ist das erste, was man versteht.

    Das liegt schon Jahrzehnte zurück, und diese Schönschrift ist nicht ein bißchen verblaßt. Ein schmiedeeisernes Gitter; ich komme so wenig von außen hinein wie von drinnen heraus. Der Kuß des Römers steckt [4|5]irgendwo rückwärtig fest; nur ein sehnsüchtiger Lichtschein hängt von ihm in der Luft, wie von einem lebenslänglich eingekerkerten Mond. (»Sommer auf dem Eis«)

    Die Einkerkerung, sie ist fundamental. Jegliche große Erfindung der Menschheit, als was sie sich auch verkleiden möge, dient in Wahrheit der Überwindung der Einkerkerung. Nicht minder unsere kleinen Aktionen; täglich von früh bis spät trachten wir nach Befreiung, vom Kaffee am Morgen angefangen bis zum Traum vor Mitternacht. Als müßten wir den Weg ins Leben immer aufs neue nehmen, diesen traumatischen Vorstoß ins Offene, hin zum ersten Atemzug. Ins Freie ! Auch die zu Dichtung verdichtete Welt setzt ein Ungenügen an der vorgefundenen voraus; ich teile es. Man sieht es mir nicht an. Irgendwer muß dafür gesorgt haben, daß mein Äußeres der Welt rückhaltlos zuzustimmen scheint. Sie lacht, wozu schreibt sie ? Wer lacht, schreibt nicht ! Das steigert die unterstellte Verrücktheit zur Absurdität. Es bringt mich in Verlegenheit. Ich nehme mein Lachen gar nicht wahr, es ist eine Emanation meiner Zellen im Zustand der Liebe. Eine beständige, leise, nach allen Richtungen wellenschlagende Liebesbereitschaft als Modus meines Daseins.

    Du ! Bis zu diesem Tag hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, ob die Schneeflocken in der Luft zusammenstoßen. Damals hörte ich es das erstemal: Sie stoßen nicht zusammen ! Die Nähe von ihresgleichen läßt sie wegschnellen, ist zu vermuten. Sie tragen um sich einen Hof von feinen Luftwellen, ein unsichtbares Röckchen, das hält sie in einem Abstand, der einer Choreografie unterliegt. Nichts zwischen Himmel und Erde stört diesen lich­ten, euphorischen Tanz, begleitet von einem Gesang auf einer unhörbaren Frequenz. Wenn ich ihm zusehe, beginnt mich eine Ahnung zu erfüllen, gleichsam zu befallen von oben herab : daß es so auch inwendig gedacht sein könnte. Daß alle Anblicke, sämtliche Weltteilchen, deren wir ansichtig werden, mitsamt unseren Mut­maßungen, Meinungen, Erinnerungen und Spintisierereien zu feinen und einmaligen Flocken auskristallisieren und in einem Massenballett zu Boden schweben, dort vielleicht noch ein wenig ruhen, um dann unwiderruflich zu schmelzen in einen anderen Aggregatzustand hinein. Was hat man sich dabei gedacht ?

    Nichts, befand meine Großmutter eine Stunde nach Einlaß zum Tanz in Alberoda, als sie keine Tour gesessen hatte und mit glühenden Wangen die erste Tanzpause nutzte, um die noch verbleibenden Möglichkeiten am Ort gegen die noch vollzähligen im Goldenen Krug von Neu[5|6]städtel abzuwägen. Die Entscheidung für die Vollzähligkeit traf sie, noch erhitzt, binnen Sekunden. Es lagen zwei Kilometer Fußmarsch zwischen dem, was sie besichtigt hatte, und dem, was noch vor ihr im Dunkeln lag. Einen gemischten Begleitschutz fand sie ebenso schnell, wie sie stets Tänzer fand, sie erreichten den Goldenen Krug binnen einer Viertelstunde, während der sie auf keine Schäkerei einging, die mit Stehenbleiben verbunden war. Sie rechnete sich das nahende Ende der Tanzpause aus, trieb zur Eile und langte, schon wieder erhitzt vom Marsch in der eiskalten Nachtluft und von der Erwartung, im Goldenen Krug an, als gerade die dritte Tour gespielt wurde. Mit einem vorgetäuschten Gang zur Toilette wich sie dem ihrem Begleiter versprochenen Tanz aus und erfaßte von der dem Eingang gegenüberliegenden Saalseite aus mit einem Blick die Lage.

    Weiter ! drängte ich, und sie wurde rot und behauptete, dieses Glühen habe sie schon immer, seit hundert Jahren, von Anfang an, und deshalb bedeute es gar nichts. Und erst kürzlich habe sie geträumt, sie sei in einem hellblauen Seidenkleid und hellblauen seidenbespannten Schuhen die Strecke von Alberoda nach Neu­städtel und dann nach Oberschlema gelaufen, in einer Nacht, in der es ganz leise geschneit habe, und all die Schneeflocken seien auf ihr geschmolzen, so heiß war sie mitten im Winter 1914. (»Wie weiter«)

    Ich schreibe aus Hingabe – an wen, an was ? An das aus seiner schweren eisigen Materie in einen anderen Aggregatzustand hinein Schmelzende. Ich muß es zum Schmelzen bringen, zurück in den Zustand, aus dem es einst gekommen ist, als noch alles eins war. Etwas drängt mich mit Macht zu dieser alchemistischen Handlung. Ich vollziehe sie mit dem Ernst einer Meisterin und lasse mir dies freilich nicht anmerken. Nirgendwo sonst stehen mir Geduld und Besonnenheit, Eigensinn und Klarheit in einem so unerschöpflichen Ausmaß zur Verfügung wie bei der Verwandlung eines beliebigen vorgefundenen Stoffs in mein Leben.

    Als Kind habe ich siebenunddreißig Stifte zu Stümpfen geschrieben. Einhundert Briefe schrieb ich dem ersten Mann, der mich küßte. Nach dem Kuß wollte ich, daß er wußte, wer ich bin. So wie keinem Menschen wollte ich mich ihm zeigen; in einem Alter, in dem sonst Königskinder vergeben werden, faßte ich diesen Entschluß. Ich war Eisläuferin. Er war Römer. Das Briefeschreiben hielt ein Jahr an. Gegen Ende entging mir nicht, wie vom vielen Briefeschreiben in mir etwas entstand, das, je inbrünstiger ich schrieb, immer schwirrender, luftiger, [6|7]durchsichtiger wurde, schließlich wirklich ungreifbar, ein bezauberter Geist, flüchtig wie die Figur, die der Schwerpunkt des tanzenden Körpers in der Luft beschreibt. (»Sommer auf dem Eis«)

    Ich schreibe jemandem. Er hat keine Gestalt. Er kommt mir entgegen, ich muß ihm nicht von hinten auf die Schulter tippen, er füllt im Entgegenkommen meinen gesamten Horizont. Gestaltlos. Er umfängt mich jetzt von allen Seiten. Zwischen uns ein Resonanzraum, der meine Stimme widerhallen läßt. Dies zur zweiten häufig gestellten Frage : Denken Sie an Ihre Leser beim Schrei­ben ?

    Ja, an alle ohne Gestalt, die einen Raum bilden.

    Meine Antwort fiel zu vage aus ?

    Nur einen Tag verbrachte ich mit dem römischen Jungen. Träge war er, besonders im Gegenlicht, schön seine Beine : träge nach außen gebogen. Er stand da in italienischen Schuhen. Die Absätze wurden zum Boden hin schmaler, und die Spitzen zeigten weit nach außen, ziemlich frech, und wenn er saß, zeigten sie nach oben, als ob er die Zehen im Gehäuse der Schuhe hob. Davon waren auf dem Lackleder Falten entstanden, scharf, als wollten sie die Spitzen abschneiden. Träge ging er, mit den Schuhspitzen nach außen und kleinen straffen Knittern in den Kniekehlen. Ein Zucken überlief sie, sobald ich hinschaute. Er balancierte auf einer bröckelnden Zementkante, auf einer Treppenstufe, auf dem kleinstädtischen Aufmarschplatz der berühmten Industrieregion.

    Ich schlug vor, den Friedhof zu besuchen.

    Es war Hochsommer; ich kannte jeden Winkel auf dem Friedhof und die mamornen Gesichter, die durch die Wacholderbüsche guckten. Ich wußte die Biegungen, wo einem plötzlich ein Zug Trauernder gegenüberstehen konnte, wenn man mit der Schubkarre, über deren Rand die glitschigen Stengel der verwelkten Gebinde spießten, in die Kurve schießen wollte, ich verbrachte manche Ferientage bei den Gärtnerinnen.

    Die Stadt war festlich mit Kosmodromen geschmückt, mit Schaukeln, die sich überschlugen und oben eine jähe Ewigkeit stehenzubleiben schienen, während dem kleinen Kosmonauten die Haare zum Erdmittelpunkt standen. Ich aber liebte mehr den Friedhof mit den Toten und ihren kaum bekleideten Schutzengeln und den Frauen, die in den Rosenbeeten knieten in ihren Kleiderschürzen mit Blumenmustern: die kleinen Jungen stellten sich vor sie hin, wenn sie beim Jäten waren, und ließen sie in ihre Zündholzschachteln mit den gefangenen Marienkäfern sehen.

    [7|8]Der Römer stand so unvermittelt in meinem Leben, wie es nur ein Pionier der Kommunistischen Partei Italiens konnte.

    Ich malte Fragezeichen in den Wegsand, weil er mich etwas fragen sollte, denn die Fragen klangen am schönsten. Heimlich hoffte ich, sie würden in direkter Weise von Liebe handeln, ohne daß ich sie verstehen und darauf reagieren müßte. Ich hoffte, solche Worte einmal probeweise zu hören und kosten zu können. Er verstand mich nicht und fragte, was ich wolle. Ich sagte es, und er verstand nichts. So konnte ich ihm alles schamlos erklären, und er drängte sich mit ungestümen, ratlosen Fragen dazwischen, die Spitzen seiner Schuhe hoben sich manchmal, und der Sand auf dem Friedhofsweg knirschte leise darunter. Schließlich nahm er meinen Kopf und küßte mich mit fest

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