Levada: Erzählung
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Buchvorschau
Levada - Jürgen-Thomas Ernst
Jürgen-Thomas Ernst
Levada
Erzählung
Für Natalie und Melanie
Eigentlich hatte ich an diesem Abend vorgehabt, mit dem Boot an das andere Ufer des Grundlsees zu rudern, um im Hotel Post mein Nachtmahl einzunehmen, und eigentlich hätte alles Weitere niemals geschehen dürfen. Da es jedoch, kurz bevor ich am südlichen Ufer des Grundlsees ablegen wollte, plötzlich wolkenbruchartig zu regnen begonnen hatte, änderte ich den Plan und fuhr mit meinem neuen Ford, Baujahr neunundfünfzig, nach Bad Aussee, wo ich mich in den Speisesaal des Kaiser Maximilian Hotels begab, um mich beim Anblick der dicken Mauern innerlich beinahe erdrücken zu lassen, ganz abgesehen vom Appetit, der mir in diesem Gebäude augenblicklich abhandenkam.
Trotzdem wollte ich an jenem Abend mein Nachtmahl dort einnehmen, da ich wenige Tage zuvor in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass kein Geringerer als Arthur Schnitzler einst in den Räumlichkeiten dieses Hotels mehrere Male hervorragend gespeist habe. Diese sentimentale Schwäche – für kurze Zeit ebenfalls an einem Ort dieses Dichters zu verweilen – sollte sich allerdings fatal auf mein weiteres Leben auswirken. Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet Arthur Schnitzler, den ich verehre, letztlich der Auslöser einer jahrzehntelangen Tragödie sein sollte. Seit Jahren verbiete ich mir deshalb, aus den Werken dieses Autors zu lesen, sodass ich nunmehr auf über fünfunddreißig schnitzlerlose Jahre zurückblicken muss. Ein Umstand, der auch weiterhin andauern wird, falls sich in meinem Leben nichts ändert, wovon allerdings auszugehen ist.
Hätte es nicht geregnet, wäre ich auf der Terrasse des Hotels Post am Grundlsee gesessen, um eine ausgezeichnete Käsepressknödelsuppe zu essen, dachte ich mir, während ich im Kaiser Maximilian Hotel saß und noch nichts von den nahenden Ereignissen wusste.
Aufmerksam studierte ich wenig später die Speisekarte, die mir von einer jungen, blondhaarigen Bedienung an den Tisch gebracht worden war, ohne auf dieser Speisekarte jedoch eine Käsepressknödelsuppe angeboten zu finden, sodass ich mich lediglich für eine hausgemachte Rindssuppe mit einer Fleischstrudeleinlage entschied, da ich wusste, dass ich einen Hauptgang in diesen Räumlichkeiten, die mich an den Moder eines Kellergewölbes erinnerten, gewiss unberührt in die Küche zurückgeschickt hätte, was ich mir und auch dem dadurch womöglich in seiner Ehre gekränkten Koch ersparen wollte.
Während ich an meinem Tisch saß, begann es mich, obwohl diesem Abend ein schwüler Hochsommertag vorausgegangen war, auf einmal zu frösteln, sodass ich meine Strickjacke anziehen musste, um einer etwaigen Verkühlung oder einer noch schlimmeren Sommergrippe vorzubeugen. Während ich meine Jacke zuknöpfte, war es auch, dass mein Blick kurz abirrte und ich zufällig deine Schuhe erblickte. Vermutlich aus Italien, dachte ich, während ich diese außergewöhnlichen, aus bestem Leder verarbeiteten Schuhe genauer besah. Vermutlich Florenz oder Mailand, aus einer der renommiertesten Schuhmacherwerkstätten Italiens. Deine Schuhe waren auch der Grund, weshalb ich mich dazu verleiten ließ, dich für einen kurzen Moment anzublicken. Und es waren ebenfalls deine Schuhe, die mich wenig später zu einer fatalen Fehleinschätzung verführen sollten.
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als mir die junge, blondhaarige Bedienung, die in weiterer Folge wesentlich für den Verlauf dieses Abends verantwortlich sein sollte, die bestellte Fleischstrudelsuppe an meinen Tisch brachte. Das lange Warten auf die Suppe entschuldigte sie damit, dass die Köchin den Fleischstrudel erst noch habe zubereiten müssen und ich demzufolge versichert sein dürfe, dass es sich bei der servierten Suppe um eine frisch zubereitete handle. Wenig später bemerkte ich, dass du ebenfalls eine Fleischstrudelsuppe serviert bekamst, und vernahm bruchstückhaft, dass die Bedienung dir den Grund des langen Wartens auf die Suppe mit denselben Argumenten wie mir beschrieb.
Mit großem Appetit griff ich nun zum Löffel und dachte kurz an die erfreulichen Kindheitserinnerungen, die mit dem Verzehr einer Fleischstrudelsuppe jedes Mal in mir wachgerufen werden. Mit einem Seufzer ließ ich den Löffel in den Teller gleiten, um ein kleines Stück Fleischstrudel abzustechen und es anschließend zu verzehren. Doch bereits der erste Löffel dieser Suppe weckte ein unbeschreibliches Unbehagen in mir. Ein Unbehagen, das sich mit dem zweiten Löffel so sehr steigerte, dass ich den Teller von mir schob und mich umgehend auf die Toilette begab.
Auf der Toilette stellte ich mit Bedauern fest, dass jede dieser Toiletten lediglich mit allerdünnsten Resopalplatten von den anderen abgetrennt war und am Fuß- und Kopfende jeder Toilettentür zudem riesige Zwischenräume klafften, sodass mir jede Intimität – und ein Gang zur Toilette ist ein intimer, wenn nicht der intimste aller Menschengänge überhaupt – vollkommen verunmöglicht wurde, so sehr verunmöglicht, dass ich mich nicht einmal dazu überwinden konnte, mich zu übergeben, was mich ja eigentlich bewogen hatte, die Toilette aufzusuchen.
Einem fatalen Zufall war es zuzuschreiben, dass du dich genau in diesem Augenblick mit bleichem Gesicht auf dem Weg zur Damentoilette befandest. Kurz standen wir einander gegenüber und lächelten verlegen, worauf ich dir auf einmal mitteilte, dass ich wegen einer unmöglichen Fleischstrudelsuppe eben die Toilette aufgesucht hätte. Lächelnd und gleichzeitig überrascht entgegnetest du mir, dass du die Toilette ebenfalls aufsuchen musstest, um dich deinerseits dieser unzumutbaren Suppe zu entledigen, obwohl dein beabsichtigter Verzehr dieser Suppe ausschließlich auf ein Versehen der Bedienung zurückzuführen gewesen sei. Bringen Sie mir eine Frittatensuppe, hattest du die junge, blondhaarige Bedienung gebeten, eine hausgemachte Frittatensuppe. Serviert wurde dir allerdings keine Frittaten-, sondern die eben erwähnte Fleischstrudelsuppe. Kurios und tragisch zugleich erscheint mir noch heute der Umstand, dass eine Fleischstrudelsuppe unser erstes Gespräch vor den Toiletten des Kaiser Maximilian Hotels überhaupt ermöglichte. Wären wir gewissenhaft bedient worden, hätte uns jede Grundlage für ein Gespräch gefehlt. Aus heiterem Himmel vor einer Toilettentür ein Gespräch über Suppen zu beginnen, wäre absurd gewesen, vollkommen absurd.
Dass ausgerechnet eine Fleischstrudelsuppe unser Unglück auslösen sollte, schmerzt mich allerdings doppelt, da ich erstens über Jahre hinweg eine Vorliebe für Fleischstrudelsuppen hegte und zweitens bis zum Zeitpunkt, als ich vom Gegenteil überzeugt wurde, stets die besten Gedanken mit dem Verzehr einer Fleischstrudelsuppe in Verbindung brachte; fuhr ich doch als Kind mit meiner Mutter regelmäßig von Graz nach Gleisdorf, um bei weitschichtigen Verwandten mit großem Appetit eine Fleischstrudelsuppe zu verspeisen. Natürlich schmeckte uns in diesen Tagen jede von unseren Verwandten vorgesetzte Suppe und andere Speisen immer aufs Beste, da wir in dieser Zeit nicht selten Hunger litten, sodass jeder Ausflug von Graz nach Gleisdorf stets einem Ausflug ins Paradies glich, wie meine Mutter noch im hohen Alter – an frühere Zeiten denkend – regelmäßig zu bemerken pflegte.
Und da mir diese Bad Ausseer Fleischstrudelsuppe im Nachhinein zum Verhängnis wurde, habe ich, mit Ausnahme einer Fleischstrudelsuppe, die ich einige Wochen später in einer Gaststätte in Bad Ischl zu mir nahm, nie wieder eine solche Suppe gegessen. Die Fleischstrudelsuppe wurde für mich zum Inbegriff eines lebenslänglichen Unglücks, so viel kann ich mit dem heutigen Tag, an dem wir unseren fünfunddreißigsten Hochzeitstag begehen, mit aller Gewissheit sagen.
Zu Beginn unserer Beziehung glaubten wir natürlich, dass wir nicht unser Unglück, sondern im Gegenteil unser Glück jener blondhaarigen Kellnerin, die uns so nachlässig bediente, zu verdanken hatten. Wäre sie nicht gewesen, hätten wir uns niemals kennengelernt. Was auch besser gewesen wäre, wie wir uns des Öfteren noch heute gegenseitig versichern.
Noch Jahrzehnte später habe ich mir vorgeworfen, den Fehler begangen zu haben, dich nach diesem Toilettengespräch an meinen Tisch einzuladen. Hätte ich dich nicht eingeladen, wäre unserer Beziehung von vornherein der Boden entzogen worden, in dem sie hätte wurzeln können. So aber hatte