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Freundschaftsdienste: Thriller
Freundschaftsdienste: Thriller
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eBook265 Seiten4 Stunden

Freundschaftsdienste: Thriller

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Über dieses E-Book

Job gekündigt, Ehe kaputt - Tom Hansen möchte vor allem eins: in Ruhe gelassen werden. Das von ihm spontan übernommene kleine Hamburger Buchantiquariat abseits von Trend und Trubel scheint dafür genau der richtige Ort zu sein. Doch dann wird ein Nachbar vom Bücherregal erschlagen, eine Frau fällt vom Himmel, Toms Tochter vertont Anleitungen zum Elternmord, und seine besten Freunde spielen verrückt. Damit beginnen erst Toms Probleme. Und bald steht er vor der Frage: Ab wann kann man sich nicht mehr aus den Dingen heraushalten? Gruseln und Grinsen - in diesem Roman geht beides. Der erfahrene Drehbuchautor Jan Schröter verwebt feinste Krimi-Suspense mit dem alltäglichen Wahnsinnsmix aus Beziehungschaos, Generationenkonflikten und schräger Situationskomik.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Temmen
Erscheinungsdatum18. Juni 2013
ISBN9783837880052
Freundschaftsdienste: Thriller

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    Buchvorschau

    Freundschaftsdienste - Jan Schröter

    Jan Schröter

    Freundschaftsdienste

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Titelgestaltung:

    Natalie Eichhorst-Ens

    © Edition Temmen 2013

    Hohenlohestraße 21

    28209 Bremen

    Tel. 0421-34843-0

    Fax 0421-348094

    info@edition-temmen.de

    www.edition-temmen.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Gesamtherstellung: Edition Temmen

    E-Book ISBN 978-3-8378-8005-2

    ISBN der Printausgabe 978-3-8378-7003-9

    1.

    Ich hatte etwas anderes erwartet. Eine Blutlache vielleicht. Kratzspuren, in letztem Aufbäumen mit brechenden Nägeln durch die Auslegeware gepflügt. Oder wenigstens die Kreide­silhouette eines am Boden liegenden Körpers, Arme und Beine dramatisch von sich gestreckt. Ich sah nur: massenweise Bücher. Überall in Regalen, in Stapeln auf Tisch und Stühlen und in einem ungeordneten Haufen auf dem Fußboden. Hinter dem Haufen war die Wand leer.

    »Genau hier ist es passiert«, wies Frau Burghausen beiläufig auf eine Stelle neben dem Bücherhaufen. »Die Polizei hat nur das schwere Möbel von ihm heruntergenommen, die Bücher haben sie einfach liegen lassen.«

    Ich kurvte vorsichtig um den Haufen herum und musterte die glatte, weiß gestrichene Wand. »Keine Dübellöcher. Kein Wunder, wenn ein Regal dann umfällt.«

    »Wissen Sie, Bernhard war Professor für Literatur …«

    So wie sie das betonte und dabei leicht die Augen verdrehte, erklärte es das handwerkliche Unvermögen ihres Mannes vollauf. Das mit der Professur wusste ich bereits. Bernhard Burghausen hatte mir seinen Titel schon bei seinem ersten Besuch in meinem Laden unter die Nase gerieben und damit in mir die Hoffnung geweckt, einen neuen Stammkunden zu gewinnen, an dem ich noch viele Jahre verdienen könnte. So kann man sich täuschen.

    Frau Burghausen klaubte ein Buch vom Haufen, wog es einen Augenblick lang nachdenklich in der Hand und ließ es wieder fallen. »Eigentlich ein angemessener Tod. Ein Seemann sinkt mit seinem Schiff, ein Rennfahrer fliegt mit seinem Wagen aus der Kurve und ein Literaturprofessor wird von seinem Bücherregal erschlagen. Das macht doch Sinn, finden Sie nicht, Herr Hansen?«

    »Ich bin Buchhändler. Dann weiß ich ja jetzt, was mir dereinst blüht.«

    Sie lachte. Ein strahlendes Lachen, ein bisschen zu viel für einen Trauerfall. An ihr erschien einiges ein bisschen zu viel: das Make-up einen Hauch zu dick, die Lippen eine Spur zu voll und an der Figur ein paar Pfunde über dem Idealgewicht – zugegebenermaßen an den richtigen Stellen. Mir fiel spontan eine Toni-Weisheit ein, Toni, der immer ausspricht, was andere sich nicht mal zu denken trauen: »Kurz bevor sie aus dem Leim gehen, sind die Frauen am schärfsten!« In diesem magischen Moment erwische ich sie offenbar nie. Entweder zu früh oder zu spät. Oder zur Abwechslung mal als lustige Witwe, wie heute. Was auch nicht meinem Ideal von erotischer Spannung entspricht. Schon gar nicht, wenn der Flirt exakt an dem Ort stattfindet, an dem der verstorbene Gatte gerade mal zwei Tage zuvor den Löffel abgegeben hat.

    »Als Buchhändler ziehen Sie wenigstens praktischen Nutzen aus der Literatur«, behauptete Frau Burghausen. »Bernhard haben die Bücher bloß wahnsinnig gemacht. Ich weiß, wovon ich rede – ich war über zwanzig Jahre mit dem Mann verheiratet.« Die Erinnerung daran verfinsterte ihr Gesicht, sie kickte wütend gegen den Bücherhaufen. Prompt flitzte ein schmales Bändchen über den Teppich wie ein Eishockey-Puck und verschwand unterm Schrank. Astreiner Spannstoß, und das mit Riemchensandalen. Anscheinend reichte das zum Abreagieren, denn schon trat sie dicht an mich heran und beschenkte mich mit einem entspannten Lächeln und einer dezenten Duftwolke ihres Parfums.

    »Halten Sie mich bitte nicht für gefühllos. Bernhard und ich lebten seit Jahren getrennt. Und davor hatten wir uns schon lange nichts mehr zu sagen. Jetzt ist er tot, und ich will das alles nur schnell hinter mich bringen – zum Glück gibt es außer den Büchern hier nicht viel, was ich entrümpeln muss …«

    »Dafür bin ich ja nun hier, Frau Burghausen«, versuchte ich die Konversation auf den Grund unseres Zusammentreffens zu lenken.

    »Theresa. Oder auch Terry, wenn Sie mögen!« Sie rückte eine Spur näher. »Den Namen Burghausen hätte ich auch gerne längst entrümpelt. Aber das kann ich meinem Sohn noch nicht antun. Haben Sie Kinder?«

    Ich nickte nur stumm. Theresa Burghausen registrierte meine Zurückhaltung, reduzierte umgehend den Flirtfaktor und kam zum Geschäftlichen. »Sie sehen ja die Bücher, hier und in der ganzen Bude. Es sind durchaus wertvolle Stücke darunter, wie ich weiß. Aber ich will nicht wochenlang alles scheibchenweise verhökern müssen. Wenn Sie den ganzen Kram auf einmal nehmen, werden wir uns über den Preis bestimmt einig.«

    Reichlich mehr als zweitausend Bände, gestopft in eine Zweizimmerwohnung. Überwiegend Klassiker und literaturwissenschaftliche Fachschriften. Eher nicht die Titel, die meine Laufkundschaft zu Hamsterkäufen animieren würden. Ich führte ein Buchantiquariat im Erdgeschoss desselben Gebäudes, in dem sich auch die Wohnung des jäh dahingerafften Professors befand. Das Haus stand in einer kleinen Hamburger Nebenstraße, an der Schnittstelle zwischen Altona und St. Pauli – dort, wo Graffitisprüche vom Kaliber »Fuck 4 all« schon als Krönung der Poesie durchgingen und wo die paar intellektuell gestrickten Gemüter ihre meist spärliche Kohle eher in billigen Roten als in bildungsrelevante Hardcover investierten. Eigentlich war in dieser Gegend jede andere Form des Ablebens wahrscheinlicher, als ausgerechnet unter einem Stapel Bücher zu sterben. Andererseits hat diese Art Tod vermutlich überall Seltenheitswert.

    Noch etwas unentschlossen stöberte ich in den Regalen, als könnten mir die mehr oder weniger eingestaubten Buchrücken die Entscheidung abnehmen. Theresa Burghausen – oder Terry, wenn ich denn mögen würde – öffnete eines der beiden Wohnzimmerfenster und lehnte sich weit hinaus. Irgendwo hämmerte aggressiver Hip-Hop, mischte sich mit schluchzendem Sirtaki und dem Geruch von heißem Frittenfett aus Tonis Imbiss. Jemand schrie nach seinem Köter und ein Kind heulte auf. Wahrscheinlich vom Köter gebissen. Frau Burghausen wandte sich ab und schloss angewidert das Fenster. Der Lärm blieb draußen, der Frittenfettgeruch war schon drin. Sie rümpfte abfällig ihre Nase.

    »Miese Gegend. Dass Bernhard es hier ausgehalten hat, zeigt nur mal wieder, dass ihm außer den Büchern sowieso alles egal gewesen ist!«

    »Ich wohne auch hier«, konterte ich ruhig.

    Das ignorierte sie. »Dreitausend für alles, okay?«

    Dreitausend waren geschenkt, aber nicht unbedingt für mich. Maria heulte schon herum wegen des ausstehenden Unterhalts vom letzten Monat. Theresa Burghausen zog ihre Schlüsse aus meinem Zögern. Um ihre Mundwinkel zuckte es verächtlich.

    »Also gut – zweieinhalbtausend. Aber dann sorgen Sie dafür, dass diese Bude bis zum Monatsletzten entrümpelt ist! Von mir aus können Sie alles auf den Sperrmüll schmeißen.«

    Vermutlich könnte ich irgendeinen Kumpel zum Tragenhelfen überreden. Und von den Büchern ließen sich bestimmt einige ziemlich flott an meine Kollegin Elfie weiterverscherbeln, deren Laden in Uni-Nähe lag und zu deren Kunden etliche bekennende Germanisten zählten … Ich gab mir einen Ruck.

    »Einverstanden.«

    Das brachte mir endlich wieder ein Lächeln ein – nicht mehr wirklich flirtverdächtig, aber immerhin. Sie schüttelte mir die Hand, kramte einen Schlüssel aus der Handtasche und reichte ihn mir. »Hier, für die Wohnung. Ich habe noch einen. Ich nehme an, Sie tragen die Summe nicht bei sich?«

    Ha, ha. Ich deutete ein Kopfschütteln an, bevor ich vorschlug: »Meine Bank ist vorn an der Ecke. Wenn Sie möchten, können wir alles gleich über die Bühne bringen.«

    Sie mochte. Wir verließen die Wohnung, doch bevor Theresa Burghausen die Tür hinter sich schloss, verharrte sie einen kurzen Moment und warf einen Blick zurück in das triste, verlassene Wohnzimmer. Es schien mehr als eine sentimentale Geste zu sein. Etwas von Abschied und Endgültigkeit lag darin, gepaart mit der bitteren Erkenntnis des wahrhaftig Unwiederbringlichen. Manchmal dreht sich die Welt atemberaubend schnell, und trotzdem bewegt sich nichts. Plötzlich bleibt sie nur für eine Sekunde stehen – man begreift und altert jäh.

    Für Theresa Burghausen war etwas zu Ende gegangen.

    Für mich fing es gerade erst an.

    2.

    Schwalbenzirpen ließ sich nicht vernehmen, dafür war es auf der Straße zu laut. Trotzdem durchwehte die Luft ein Hauch von Frühling. Vielleicht hatte Toni bloß das Fett gewechselt. Immerhin lagen die Temperaturen nach langen, nasskalten Wochen endlich solide im zweistelligen Bereich. Ich hätte die Fenster in Professor Burghausens Wohnung allerdings selbst bei Permafrost aufgerissen. Auf den Buchreihen und in den Regalen lag der Staub in dicken Flocken, und beim Ausräumen kam mir der ganze Mist entgegen. Saubermachen schien offenbar nicht Bernhards Ding gewesen zu sein. Es war überhaupt schwer zu sagen, wofür sich der Professor – abgesehen von der Literatur – begeistert hatte. Theresa Burghausen war nach unserer geschäftlichen Transaktion nur noch einmal zurückgekehrt, um den Schreibtisch ihres Mannes leer zu räumen und ein paar persönliche Dinge mitzunehmen – die Ausbeute füllte gerade mal einen kleinen Pappkarton. Das war gestern gewesen, und seitdem nutzte ich die ruhigen Stunden im Geschäft – also annähernd alle – für eilige Beutezüge durch Burghausens Wohnung, wo ich Kiste um Kiste mit eingestaubten Büchern füllte und sie drei Stockwerke hinunter zur Haustür, draußen ein paar Meter weiter in meinen Laden und dort eine Treppe tiefer ins Kellerlager schleppte.

    Endlich war das letzte Regal zwar nicht staub-, aber wenigstens literaturfrei. Die Bücher stapelten sich in der randvollen Transportkiste. Kein Platz mehr für die verstreuten Exemplare auf dem wirren Bücherhaufen auf dem Fußboden, um die ich bis jetzt einen Bogen gemacht hatte – ob aus einem Anflug von Pietät oder aus Faulheit, war mir nicht ganz klar. Jedenfalls würde ich eine weitere leere Kiste anschleppen müssen, um diesen Restposten einsammeln zu können. Schwer beladen stapfte ich aus der Wohnung. An der Tür erwog ich einen Moment lang, hinter mir abzuschließen – aber dann ließ ich es. Der Schlüssel steckte in meiner Hosentasche. Ihn zu erreichen hätte bedeutet, die verdammte Bücherkiste einmal mehr abzusetzen und anschließend wieder hochzuwuchten. Ich bin 44 und kein Stammkunde in der Muckibude. Meine Bandscheiben jaulten sowieso schon öfter. Die paar Bücher auf dem Fußboden würde niemand klauen. Und Burghausens spärliche Möbel vom Stil »frühes Ikea« – wer so dämlich wäre, davon etwas zu nehmen, ersparte mir nur den Gang zum Sperrmüll. Außerdem würde ich sowieso in ein paar Minuten wieder hier sein …

    Ich schaffte es bis auf die Straße, ohne die Kiste abzusetzen. Die paar verbliebenen Meter bis zum Antiquariat erwiesen sich als echte Herausforderung, aber gegenüber stand Toni vor seinem Imbiss und grinste feixend zu mir herüber. Also markierte ich den Harten und tänzelte trotz brennend schmerzender Arme beschwingt bis zu meiner Ladentür, wo ich die Last endlich absetzen konnte. Ich streckte Toni im Geiste die Zunge heraus, schloss auf, buckelte die Kiste wieder hoch und trat ins Antiquariat, wo – wie üblich – statt Kundschaft zuhauf nur Pamela auf mich wartete. Pamela hieß nicht bloß so, sie sah auch so aus. Ich schaffte es mit letztem Dampf bis zum Kassentisch, setzte die Kiste krachend ab und ließ bodybuildermäßig den Bizeps spielen.

    »Hier kommt dein Held, Pam! Was sagst du dazu?«

    Pamela sagte nichts. Sie sagte nie etwas. Das macht sie im Umgang so angenehm, meint Frank. Von ihren optischen Vorzügen ganz zu schweigen, pflegt Micha ebenso regelmäßig wie träumerisch zu ergänzen. Vermutlich hätten meine beiden alten Schulfreunde die Dame gerne selbst behalten, aber sie waren beide noch verheiratet. Ich zwar auch, aber eigentlich auch nicht. Also schenkten sie mir Pamela zur Geschäftseröffnung, und sie trug heute dasselbe wie jeden Tag: einen knappen, silberflirrenden Paillettenbikini, ein transparentes, zartrosa Negligé und das abgründige Lächeln einer Sphinx. Es wäre ein harter Schlag für Frank und Micha, hätte ich an diesem Outfit etwas verändert – und wer will schon die Gefühle guter Freunde verletzen? Pamela störte es ohnehin nicht. Sie war eine Schaufensterpuppe – auch wenn speziell Micha das, glaube ich, hin und wieder gern verdrängte.

    Den Laden besaß ich seit einem Jahr. Mein Vorgänger hatte das Geschäft seit den bewegten Tagen von Rudi Dutschke, Kommune Eins und Che Guevara geführt und das Sortiment in dieser Zeit kaum verändert. Linkslastig, friedensbewegt, politisch und ökologisch korrekt. Lauter gut gemeintes Zeug, für das sich heute kein Mensch mehr interessierte. Oder wann haben Sie zuletzt ein Gedicht von Pablo Neruda gelesen? Auch ich war immer nur an diesem Laden vorbeigegangen, bis eines Tages der Zettel im Fenster hing: »Nachfolger gesucht«. Erst Stunden zuvor hatte ich meinem Chefredakteur bei der »Sonntagspost« die Brocken hingeworfen und mich mit Maria – meiner Gattin – in problemorientierten Gesprächen zermürbt. In diesem seelischen Ausnahmezustand hätte ich sogar schnöde Betonpoller für Winke des Schicksals gehalten. Der Zettel und die verschnarchte Lektüre in der Schaufensterauslage überzeugten mich sofort davon, meine Oase gefunden zu haben. Ich wollte nichts als meine Ruhe, und die gab es hier gratis. Selten wohl wurde ein Buchladen schneller transferiert: Nach einer Tasse aromatisch duftenden Yogitees war ich im Besitz der Schlüssel und mein Vorgänger auf dem Weg in eine makrobiotische Land-WG auf La Gomera, wo er seinen wohlverdienten Ruhestand im Kreise spätreifer Hippiemädchen zu verbringen gedachte. Wir pflegen eben alle unsere individuelle Vorstellung vom Paradies.

    Gertrud Holle verschwendete sicher wenig Gedanken an paradiesische Perspektiven, obwohl sie mit ihren annähernd achtzig Jahren dem Elysium vermutlich näher stand als die meisten. Dafür mangelte es ihr an Fantasie. Sie wurzelte fest im Hier und Jetzt. Von wegen »nomen est omen« – ihr märchenhafter Nach- und der trutschige Vorname gingen glatt als Etikettenschwindel durch. Frau Holle schüttelte keine Daunen, sondern zahlungssäumigen Mietern den letzten Heller aus der Tasche – und zwar höchstpersönlich, wenn’s Not tat. Von einem bereits vor Jahrzehnten entflohenen Gatten mit einigen wohlvermieteten Immobilien ausgepolstert, lebte sie zusammen mit ihrem Sohn, der zumeist schweigend und verhuscht durch die Gegend schlurfte und keinen Beruf auszuüben schien, in der Beletage des Nachbarhauses. Sowohl dieses Haus als auch jenes, in dem sich mein Antiquariat befand, gehörte zu ihrem Besitz und somit zu dem kleinen Reich, über das Gertrud Holle die Erste – und hoffentlich Letzte – in einem Stil herrschte, der selbst nahöstliche Autokraten vor Neid erblassen ließe. Den jähen Besitzerwechsel in »ihrem« Ladenlokal, von ihr weder eingefädelt noch autorisiert, empfand sie als Putschversuch. Allerdings lief der Mietvertrag noch vier Jahre, und meinen politisch wie mietrechtlich permanent auf Krawall gebürsteten Vorgänger auf diese elegante Art loszuwerden erschien ihr damals wahrscheinlich im Vergleich zum diplomatisch zurückhaltenden Neumieter – also zu mir – als kleineres Übel, weshalb sie der Transaktion schließlich gnädig zustimmte. Außerdem konnte ich als solide verheirateter Familienvater punkten – wie es wirklich darum stand, band ich ihr natürlich nicht auf die Nase.

    Mit meiner allmählichen Umstellung des Sortiments – weniger Politik, dafür auch mal Bestseller, Kochbücher und Reiseführer – machte ich weiteren Boden gut. Frau Holle legte großen Wert auf bürgerliche Reputation, jedenfalls, solange es ihrer Kasse diente. Und weil ihre Häuser leider nun mal so gut wie auf St. Pauli standen, weltweit nicht gerade als typisches Biotop solider Mittelklasse bekannt, lag ihr umso mehr an glatter Fassade. »Kochen mit Biolek« ertrug Frau Holle selbst als verschmuddelte Gebrauchtaus­gabe viel wohlwollender als stapelweise fabrikneue Schriften mit Titeln wie »Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten«, die mein Vorgänger im Schaufenster dekoriert hatte. Die meisten meiner Kunden schienen ähnlich zu denken, und mir selbst war es schlicht egal. Ich verspürte keinerlei Missionsdrang. Längst nicht mehr. Solange man mich in Ruhe ließ, war ich zufrieden.

    »Herr Hansen!«

    Leider ließ man mich nicht sehr oft in Ruhe. Gertrud Holle rauschte herein wie eine Fregatte unter Volldampf, gefühlte Wasserverdrängung tausend Tonnen. Die Frisur tornadosicher mit einer Überdosis Festiger betoniert. Glitzernde Schweinsäuglein unter sorgsam gezupften Brauen. Dezentes Kostüm in Hanseatenblau, Perlenbrosche und Lacktäschchen. Schwer bemüht, bis ins letzte Detail akkurat und ordentlich zu wirken – so ordentlich, dass ich sie am liebsten mit Sagrotan aus der Kulisse gewischt hätte. Schnaufend warf sie einen missfälligen Blick auf Pamela, die Wundermaus.

    »Wenn die hier schon rumsteht, sollten Sie ihr wenigstens was Anständiges überziehen!«

    Ich zuckte die Achseln. »Hier hat noch keiner nach der Pornoabteilung gefragt.«

    »Werden Sie ja nicht kiebig, Herr Hansen! Was sagt eigentlich Ihre Gattin dazu?«

    Schade, dass du nicht regelmäßig mit der Puppe vögelst – dann würdest du vielleicht mal an etwas anderes denken! Genau das war Marias Kommentar nach ihrem ersten Blick auf Pamela gewesen. Wenn das die Holle wüsste, träfe sie augenblicklich der Schlag. Einen Moment lang war ich in großer Versuchung.

    »Die freut sich darüber. Schließlich profitiert sie davon.«

    Frau Holle stutzte irritiert, dann funkelten die Schweinsäuglein gierig. Profit interessierte sie immer. »Wie denn das?«

    »Seitdem die Puppe hier im Laden steht, wird kaum noch geklaut.«

    »Wirklich?«

    »Wirklich. Männer gucken immer wieder zu ihr rüber …«

    »Typisch. Denken nur ans eine …«

    Ich kniff verschwörerisch ein Auge zu. »Genau das ist der Clou. Wer an Sex denkt, kann sich nicht aufs Klauen konzentrieren.«

    Sie nickte verblüfft. »Gar nicht so blöde, Herr Hansen, gar nicht blöde! Aber was ist mit den Frauen? Die klauen doch auch.«

    »Frauen betrachten die Puppe sofort als Konkurrentin und vergleichen sich mit ihr – gerade weil sie so leicht bekleidet ist und man freien Blick auf die Figur hat. Sogar attraktive Frauen denken an nichts anderes.«

    Frau Holle verzog zweifelnd das Gesicht. »Tatsächlich?«

    Ich knipste mein charmantes Schwiegermutterlächeln an. »Wie war das eben bei Ihnen? Sie kommen herein, und das Erste ist: Sie gucken zu der Puppe und reden darüber. Sehen Sie – sogar attraktive Frauen denken an nichts anderes.«

    Tausend Tonnen Wasserverdrängung liefen voll aus dem Ruder. Gertrud Holle war sich nicht sicher, ob sie sich geschmeichelt oder auf die Rolle genommen fühlen sollte.

    »Auf was für Ideen Sie immer kommen, Herr Hansen … Also, pfiffig sind Sie ja, das habe ich meinem Karsten auch schon gesagt!«

    Karsten, ihr Thronfolger, der immer Ja und Amen zu Mamas Meinung sagte. Er war ungefähr in meinem Alter. An seiner Stelle hätte ich mich längst aufgehängt. Wahrscheinlicher noch hätte ich natürlich Gertrud aufgehängt. Ich öffnete die Ladentür und rollte einen Postkartenständer vor die Tür, in der Hoffnung, Frau Holle würde hinterherrollen. Die Rechnung ging auf.

    »Also, was ich Sie eigentlich fragen wollte, Herr Hansen …«

    Da war also noch was. Wäre ja auch zu schön gewesen.

    »Sie hatten gestern ja schon wieder so spät noch Licht im Büro! Und heute hab’ ich Sie schon ganz früh zum Bäcker

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