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Nur noch das Leben zählt
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eBook686 Seiten9 Stunden

Nur noch das Leben zählt

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Über dieses E-Book

Der Autor erlebt als Kind den Zweiten Weltkrieg in der Nähe von Stettin bei seinen Großeltern. Zuerst war alles nur ein Abenteuer, doch bald schon wurde daraus bitterer Ernst.
- Bomben und Flugzeug-Angriffe machten den Luftschutzkeller zum 2. Zuhause zuerst nur nachts, dann aber sehr schnell auch am Tage.
- Die Ungewissheit, ob man gehen oder bleiben soll, machte sich in der Familie breit und übertrug sich auf die Kinder. Dann kam die überhastete Flucht vor den Russen in den Westen...
-
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Dez. 2014
ISBN9783869922225
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    Buchvorschau

    Nur noch das Leben zählt - Bodo Städing

    AtheneMedia

    Es beginnt mit dem Zweiten Weltkrieg

    1. Kapitel

    Bereits als kleines Kind begann ich, das Wort Krieg zu hassen, obwohl ich seine wahre Bedeutung nicht einmal ansatzweise kannte. Es waren nicht allein die ernsten Gesichter, die ich bei den Erwachsenen beobachten konnte, wenn sie über Luftangriffe auf unsere Städte sprachen, sondern eher die Einschränkungen, die mich – den kleinen Knirps von nicht einmal fünf Jahren – bedrückten: „Lauf nicht so weit vom Haus weg!; „Wenn die Sirenen heulen, nimmst du die Beine in die Hand und rennst so schnell du kannst sofort nach Hause! ... Wobei ich sagen muß, dass am Tage kaum einmal eine Sirene heulte, jedenfalls keine Luftschutzsirene. Dagegen konnte ich ganz schön bockig werden, wenn ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde.

    Je länger dieser Krieg dauerte, desto mehr neue Ermahnungen kamen hinzu; und alle sollte ich behalten, obwohl ich gerne weitergetobt hätte. Ich wußte zwar immer noch nichts mit dem Begriff „Krieg" anzufangen, doch nahm er mir ein großes Stück Freiheit – bis schließlich nichts mehr übrig blieb. Er begleitete mich, wohin ich auch ging.

    Als ich meinen Großvater fragte, warum es Krieg gibt, bekam ich zur Antwort: „Das versteht ein kleiner Junge noch nicht. Wenn du älter bist, werde ich es dir erklären." Dabei blieb es erst einmal. Was sollte er auch groß antworten.

    Damit wusste ich zwar nicht, weshalb ich bei Sirenengeheul sofort zu rennen hatte, denn zwischen den verschiedenen Heultönen, die Alarm und Entwarnung bedeuteten, passierte nie etwas, und in den Luftschutzkeller habe ich am Tage auch niemanden rennen sehen. Wenn also nie etwas passiert, schleicht sich ein gewisser Schlendrian ein und die Ermahnungen haben es schwer, zu fruchten.

    Ich wuchs wohl behütet bei meinen Großeltern in Altdamm, einem Vorort von Stettin, auf. Oma Emmy und Opa Paul waren die Eltern meiner Mutter, die als Krankenschwester in einem Lazarett arbeitete und für mich nie Zeit hatte. Und da bei uns im Haus und auch in der Nachbarschaft fast nur ältere Menschen wohnten – die jüngeren zog es in die Städte oder sie standen als Soldaten an irgendwelchen Fronten –, waren Spielkameraden Mangelware. So suchte ich mir meinen Zeitvertreib selber. Ich konnte mich stundenlang mit mir selbst beschäftigen.

    So wusste ich schon sehr viel über die Eisenbahn, besonders über die Lokomotiven, die dicht an unserem Haus vorbeifuhren nach Gollnow und weiter zur Ostsee. Ich war ganz verrückt nach Sammelbildern von Lokomotiven. Die habe ich dann mit den großen, richtigen Loks auf der Bahnstrecke vor unserem Haus verglichen. Opa erklärte mir die Typennummern; und da ich noch nicht alle Zahlen kannte, lernte ich sie eben auswendig. Ich habe oft am Bahndamm gestanden und den Reisenden zugewunken.

    Vor dem Bahndamm lag ein kleiner Teich. Der war sehr schlammig und im Sommer ganz mit Entenflott bedeckt. Hier habe ich stundenlang und gern herumgestochert. Es gab hier am Tümpel ständig etwas Neues zu entdecken und zu untersuchen. Ich habe Kaulquappen gefangen und beobachtet, wie daraus winzige Frösche wurden. Meistens sah ich am Ende dann selbst aus wie ein Laubfrosch, wenn mein Körper von oben bis unten mit den winzigen Blättchen bedeckt war ...

    Da das Haus, in dem wir wohnten, das letzte in der Straße war und dahinter gleich ein großer Kiefernwald mit Blaubeeren und Pilzen begann, verzog ich mich oft auch hierhin – aber stets in Rufweite vom Haus.

    Im Winter war Schnee bei uns Ehrensache. Nicht selten kam er in Pommern bereits im November; und wir wenigen Kinder konnten dann den ganzen Tag prima rodeln. Es kamen auch schon mal Kinder aus der entfernteren Nachbarschaft zu uns. Die konnten richtig gemein sein. Die haben mich dann fortgejagt, weil sie älter waren als ich und mich halbe Portion nicht für voll nahmen. Dann habe ich geweint, weil ich mir die Rodelbahn selbst gebaut hatte. Manchmal haben sie mich auch mit rodeln lassen, besonders wenn Opa Fibelkorn schimpfte – und das tat er oft und gerne. Wir hatten immer das Gefühl, als mochte er keine Kinder. Aber das war Quatsch. Er mochte nur keine Ausgrenzung.

    Wenn wir mit dem Schlitten vom Bahndamm herunter gesaust sind, bekamen wir so ein Tempo, sodass wir über den zugefrorenen Teich bis an die Straße kamen. Natürlich nur, wenn Bello, Opa Fibelkorns Promenadenmischung aus Schäferhund und Dackel, nicht da war. Der konnte es nämlich nicht ertragen, dass wir laut johlend angesaust kamen. Der Köter war so doof, dass er sich genau auf die Schlittenspur stellte, in der wir rodelten, nur um zu kläffen. Weil wir ja nicht bremsen konnten, passierte es schon mal, dass ihn ein Schlitten rammte. Aber dann hättest Du Bello erleben sollen: Kreischend und jaulend fegte er mit eingeklemmtem Schwanz durch die Toreinfahrt zum Bauernhof von Fibelkorns, um kurze Zeit später – erneut kläffend – an der gleichen Stelle zu stehen. Natürlich machte es uns auch Freude, absichtlich den Hund zu rammen; doch wenn Opa Fibelkorn das sah, wurde er böse. Manchmal rannte er mit einem Knüppel hinter uns her. Gekriegt hat er uns nie, vielleicht wollte er es auch gar nicht.

    Auf der anderen Seite der Kopfsteinstraße befand sich das Haus, in dem wir wohnten. Es war ein großes, graues und U-förmiges Gebäude, mit einem Innenhof und drei Eingängen zur Straße. Wir wohnten in der Mitte – Hochparterre rechts. An die anderen Bewohner kann ich mich nicht mehr erinnern.

    Eigentlich war meine Familie in Gollnow zu Hause. Dort hatte Opa Paul eine Tischlerei. Als dann der Krieg ausbrach und seine Leute zum Wehrdienst einberufen wurden, meldete er sich freiwillig für den Instandsetzungsdienst in Stettin. Der sollte Aufräumungsarbeiten durchführen, falls irgendwelche Schäden durch Bomben entstehen. Da das 1942 noch nicht oft vorkam, hatte er sehr viel Freizeit, die er mit seiner Familie verbrachte oder irgendwelche Arbeiten für Bekannte ausführte. So auch für Familie Fibelkorn, was uns und besonders mich, mit der Landwirtschaft in Berührung brachte. Aber da ich absolut Lokomotivführer werden wollte, kam der Beruf als Bauer erst zweitrangig infrage.

    In unserer Straße, die hieß „Ulrich Massow Straße, standen alle Häuser nur auf einer Seite. Auf der anderen Seite zogen sich Felder und Wiesen bis an den Bahndamm heran. Die gehörten alle Opa Fibelkorn. Ich brauchte keine Angst zu haben, wenn ich über die Straße ging. Autos kamen ganz selten. Morgens kam der Milchmann. Der hatte nur einen Pferdewagen, der von einem ganz dicken Pferd mit struppigem Fell gezogen wurde. Es trug stets Scheuklappen vor den Augen, weil es immer verrückt spielte, wenn ein Zug vorüber ratterte und seine Ankunft im Bahnhof von Altdamm mit einem ausgedehnten Pfeifen signalisierte. Über seinem Rücken lag stets eine gefütterte Zeltplane, die vorne zugeknöpft war. Ich habe immer gesagt, „das Pferd hat eine Schürze um, weil da ja auch Blumen draufgedruckt waren. Oma Emmy kaufte dann bei ihm Butter und Quark, das er aber nur gegen Lebensmittelmarken abgab. Unsere Milch habe ich fast jeden Abend von Oma Fibelkorn in einer Emaillekanne geholt. Die wusste schon immer Bescheid und gab mir stets mehr Milch als auf dem Zettel stand, den mir Oma Emmy in die Kanne gelegt hatte.

    Hin und wieder kam auch der Kohlenhändler Mahnke, ein alter Ostpreuße, den ich nie verstanden habe, weil der so ein falsches Deutsch gesprochen hat. Der Mann ging immer ganz schief, weil er einem Buckel hatte. Das sah ganz lustig aus, aber wenn ich gelacht habe, hat Oma mir immer die Hand auf den Mund gelegt, damit der das nicht zu sehen bekam, weil es ihr peinlich war. Herr Mahnke fuhr so einen alten und dreckigen Tempo Rapid mit einem Kessel hinter dem Fahrerhaus – für Holzgas. Das war ein kleiner Lastwagen mit drei Rädern. Vorne eines und hinten nochmal zwei. Der Motor stank so stark nach Auspuffgasen, dass man in der Nähe kaum atmen konnte. Manchmal kam auch ein Möbelwagen. Der war riesig groß und holte die Möbel, wenn jemand auszog, oder brachte sie, wenn jemand einzog. Sehr oft war das aber nicht.

    Ich lebte also in einer völlig anderen Welt, die Du dir heute nicht mehr vorstellen kannst. Es gab für mich weder Spielkreis noch Kindergarten, es gab den Teich, die Bahn und den schier grenzenlosen Wald gleich hinter den Bahnschienen und es gab Fibelkorns. Auf seinem Bauernhof habe ich viel und gern gespielt. Der war nicht groß, dafür gab es da eine Menge Tiere. Bello kläffte stets, wenn er mich sah. Das machte er bei jedem, der sich dem Hof näherte, auch wenn man nur vorbei ging. Kam doch einmal jemand, hat er sich verkrochen. Dann hast du ihn gehört aber nicht gesehen. Seinen Schwanz trug er ständig zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt. Wovor er solche Angst hatte, kann ich nicht sagen, aber er ließ niemanden an sich heran. Zu seinem Fressnapf kroch er auf dem Bauch, wenn er sich sicher war, dass alle weg waren.

    Die Enkeltochter von Opa Fibelkorn hieß Vera, sie war einige Jahre älter als ich und hat manchmal auf mich aufgepaßt. Dann hat sie Kränze aus Blumen geflochten und mir auf den Kopf gesetzt. Das fand ich so blöd, dass ich sie mir sofort heruntergerissen habe. Ich wollte doch nicht wie so ein zickiges Mädchen herumlaufen. Wir haben zusammen die Gänse gehütet, damit die nicht auf die Schienen liefen, oder haben im Sommer am Bahndamm gelegen und Sauerampfer gekaut, bis mir schlecht wurde. Oft lag ich nur faul im hohen Gras, mit dem der Damm bewachsen war und schaute in den Himmel. Opa Fibelkorn mähte im Sommer den Damm, weil er das Heu für die Kühe und seine drei Pferde gebrauchte. Dann konnte ich von dem Duft gar nicht genug kriegen. Es war herrlich hier leben zu dürfen.

    Manchmal bin ich mit ihm zur Plöne gegangen. Das ist ein Fluß, der gleich auf der anderen Seite vom Bahndamm floß. Er war nicht sehr breit und auch nicht überall gleich tief, dafür war ihr Wasser so klar, dass man die kleinen Fische auf dem sandigen Grund stehen sah. Manchmal wurden sie von großen Barschen gejagt.

    Opa Fibelkorn hatte dort seine Reusen aufgestellt, in denen er Aale und manchmal auch andere Fische fing.

    Die hat Oma Emmy ihm fast alle abgekauft, weil Fisch das einzige Nahrungsmittel war, das es bei uns in Hülle und Fülle und ohne Lebensmittelmarken gab.

    Vera nahm mich meistens mit auf den Hof und dann haben wir von ihrer Oma ein Butterbrot mit braunem Zucker drauf bekommen. Das Brot hatte sie selbst gebacken, und wenn es noch ganz frisch war, schmeckte es am besten.

    Nicht, dass ich bei Oma Emmy gehungert hätte, oh nein, aber es war eben etwas besonderes, warmes Weizenbrot mit dick Butter und braunem Zucker drauf, zusammengeklappt auf die Hand zu bekommen.

    Oma Emmy konnte gut kochen, das hat sie auf einem Gut in Demmin gelernt, das liegt in Mecklenburg.

    Ebenfalls bei Oma und Opa wohnte meine Tante Loni.

    Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter und nur zwölf Jahre älter als ich. Für mich war sie keine Tante, deshalb nannte ich sie Onna, weil ich Loni noch nicht richtig aussprechen konnte.

    Wir verstanden uns richtig gut, deswegen war sie auch der liebste Mensch für mich – außer Oma und Opa, ist doch klar.

    Überall, wo sie hinging oder hinfuhr, nahm sie mich mit. Dadurch war ich häufig in Stettin und besuchte Uroma Hermine. Das war die Mutter von Oma Emmy.

    Manchmal im Sommer fuhren wir mit dem Dampfer nach Swinemünde an die Ostsee. Was sie auch unternahm, ich war dabei.

    Einmal ist auch meine Mutter mit nach Swinemünde gefahren. Da gab es einen sehr breiten Strand und man konnte im flachen Wasser enorm weit rauslaufen. Weil am Strand kaum Badebetrieb war, kamen wir uns vor, wie auf einer einsamen Insel.

    Meine Mutter fuhr zwar viel lieber nach Mistroy an den Strand. Weil sie sich von Loni hatte überreden lassen, mit nach Swinemünde zu kommen, hatte sie schlechte Laune. Die hat sie dann an mir ausgelassen, indem sie nur herumgenörgelt hat. Darüber war ich auf meine Mutter sauer, und weil ich auf sie sauer war, war Loni auch auf sie sauer. So war jeder auf jeden sauer und der Tag war sauer, weil wir sauer waren. Er endete mit einem schweren Gewitter.

    Nachdem es an uns keinen trockenen Flecken mehr gab, machten wir uns auf den Heimweg. Damit es schneller geht, fuhren wir mit dem Zug über Wollin und Gollnow nach Altdamm zurück.

    Loni war noch in der Lehre. Sie lernte bei Bäckermeister Krause an der Ecke zum Bahnhof Verkäuferin. „Deswegen ging sie noch zur Berufsschule, damit aus ihr mal eine gute Verkäuferin für Torten und Kuchen wird", sagte Oma Emmy. Wenn sie abends nach Hause kam, brachte sie mir manchmal was Leckeres aus der Backstube mit.

    Von Opa Paul bekam ich immer weniger zu sehen. Er war in Stettin stationiert und führte einen Instandsetzungszug.

    Er trug stets eine schicke feldgraue Uniform. Oma war mächtig stolz auf ihn.

    Hinterm Haus auf dem Hof hatte Onkel Wilfried Kaninchenställe mit vielen Kaninchen. Opa hat hin und wieder eines geschlachtet. Dabei durfte ich aber nicht zusehen, nur beim Abziehen konnte ich bleiben. Opa sagte dann: „Damit du das eines Tages auch kannst."

    Onkel Wilfried war der Bruder von Loni und meiner Mutter Erika.

    Oma hat dann das Fleisch in Weckgläser eingekocht, denn Gefrierschränke gab es noch nicht. Kühlschränke gab es schon, aber die waren sehr selten, weil die so teuer waren. Statt dessen hatten wir eine Speisekammer und einen kühlen Keller.

    Der Keller ist von Opa mit dicken Balken und Bohlen verstärkt worden. Denn bei Fliegeralarm sollten wir da unten sicher sein, falls doch einmal Bomben auf Altdamm fallen sollten.

    Immer, wenn etwas Besonderes bei uns los war, gab es Kaninchenbraten.

    Jetzt, wo Opa Paul nicht mehr jeden Tag zu Hause war, mußten wir die Tiere auch füttern.

    Darüber war Oma Emmi nicht gerade begeistert. Am liebsten hätte sie alle in Weckgläser eingekocht, aber das hätte Ärger mit Onkel Wilfried gegeben, wenn er auf Urlaub gekommen wäre, denn der war Soldat in Dirschau, das liegt in Westpreußen nahe bei Danzig.

    Leider wurde es mit dem Urlaub nichts mehr.

    Oma hatte immer Angst, dass er an die Front muß und hoffte sehnsüchtig auf ein Ende des Krieges, zumal wir doch überall nur siegten.

    Dann eines Morgens kam das Telegramm von ihm: „Ausrücken Montag 7. 00 Uhr."

    Für Oma Emmy brach eine Welt zusammen. Sie hat den ganzen Tag geweint. Ich habe nicht verstanden, warum sie den ganzen Tag so sehr weinte. Ich wusste ja nicht, was Krieg wirklich bedeutete.

    Ich weiß nicht mehr, welcher Wochentag es war, als der Postbote das Telegramm brachte. Aber ich weiß, es erzeugte eine wahnsinnige Hektik in der ganzen Familie.

    Opa nahm sich Urlaub, auch Loni bekam einige Tage frei. Nur meine Mutter nicht, warum weiß ich nicht mehr. Irgendwie fühlte sie sich wohler, wenn sie nicht zu Hause war.

    Was war das für eine Hektik im Haus. Loni backte Rosinenkuchen, weil Onkel Wilfried den so gerne mochte und sie konnte gut backen.

    Oma war den ganzen Tag am Kaninchenfleisch braten. Nur die Hinterkeulen und der Rücken wanderten in Weckgläser, aus dem anderen Fleisch machte sie Leberwurst, die in Dosen abgepackt wurde und von Opa Fibelkorn mit der Maschine verschlossen wurden. Ich bekam immer so viel Dosen in meinen kleinen Korb, wie ich gerade tragen konnte, und trug sie hinüber.

    Dann wurde Weißbrot gebacken, weil die Lebensmittelkarten sonst nicht für den ganzen Monat gereicht hätten und wir ja auch Marschverpflegung für die Reise brauchten. Nur das Kommisbrot kauften wir bei Krause.

    Oma Fibelkorn machte aus dem Kaninchenfett, mit Schweinefett zusammen, Schmalz, das ebenfalls in Dosen gefüllt und verschlossen wurde. Sie verfeinerte es mit Äpfeln und Rosinen. So wurde aus der Not eine Tugend. Wir kamen mit den Lebensmittelmarken bestens aus. Wir konnten sogar mit den Nachbarn Marken tauschen.

    Opa Paul schlug nur noch die Hände über dem Kopf zusammen, als er diese Mengen an Proviant sah: „Wer soll bloß den ganzen Quatsch essen, du tust gerade so, als gäbe es bei den Preußen nichts zu essen."

    Wieder brach Oma Emmy in Tränen aus: „Wer weiß, wie lange die Jungs unterwegs sind und ob sie genug zu essen bekommen, kannst du auch nicht sagen und übrigens wissen wir nicht einmal, ob Wilfried zurückkommt und schließlich sind das doch seine Kaninchen."

    Opa gab es auf und verließ kopfschüttelnd die Küche.

    Wir alle hatten uns schick angezogen. Oma Emmy trug einen großen weißen Hut und ein hellgraues Kostüm.

    Loni dagegen hatte immer Probleme mit ihren Strümpfen, weil sich die Naht dauernd verschob und sie ewig damit beschäftigt war, die gerade zu rücken.

    Opa sagte dann: „Pariser Mode passt eben nicht zu Mecklenburger Füßen."

    Dann konnte sie fuchsteufelswild werden, und Oma mußte wieder schlichten.

    Wir fuhren ganz früh mit dem Zug nach Stettin.

    Am Hauptbahnhof stiegen wir aus und gingen zu Urma.

    Sie lebte allein in einer großen Wohnung in der Lindenstraße in der Nähe vom Bahnhof.

    Einen Uropa hat es nicht mehr gegeben, jedenfalls habe ich den nie kennengelernt, da er vor meiner Geburt gestorben ist. Er soll ein „Hohes Tier" bei der Reichsbahn in Stettin gewesen sein, ein Inspektor.

    Auch meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war Berufssoldat und somit von Anfang an im Krieg.

    Meine anderen Großeltern haben wir nicht sehr oft besucht, obwohl Opa Willy, im Zimmer meines Vaters, dessen elektrische Eisenbahn für mich aufgebaut hatte.

    Opa Willy war Lokführer auf einer riesigen Güterzuglokomotive und fuhr damit bis nach Frankreich. Dann war er mehrere Tage weg und Oma Liesel war sauer, weil sie die ganze Arbeit im Haus und im großen Garten allein erledigen mußte.

    Sie hat sich immer nur beklagt. Ich habe niemals in meinem Leben einen Menschen kennengelernt, der mit sich und seiner Umgebung so unzufrieden war, wie diese Oma. An allem und jeden hatte sie etwas auszusetzen gehabt.

    In ihrem Garten standen sehr viele Obstbäume und Sträucher. Hier durfte ich so viel essen, wie ich mochte, weil sie die dann nicht zu ernten brauchte. Meistens aß ich noch mehr, was mir natürlich gar nicht gut bekam.

    Uroma hat mich fast täglich besucht, wenn ich bei meinen anderen Großeltern war. Das war überhaupt nicht weit und sie war trotz ihres Alters noch sehr gut zu Fuß.

    Vom Stubenfenster konnte ich den Bahnhof sehen. Ich sah alle Züge, die rein und raus fuhren. Manchmal wurden die Güterzüge von zwei großen Lokomotiven gezogen, weil die so lang und schwer beladen waren. Die machten enorm viel Rauch, dass es im Zimmer fast dunkel wurde.

    Ich stand dann meistens am Fenster, um mir den Bahnverkehr anzusehen.

    Ich hatte von Opa Willy ein Buch geschenkt bekommen mit den Abbildungen fast aller Lokomotiven der Reichsbahn in Farbe.

    Zu der Zeit wurden alle Züge von Dampflokomotiven gezogen. Es gab irre viele verschiedene Typen. Kleine Rangierloks und Personenzugloks, schwere Güterzuglokomotiven und schnittig verkleidete D-Zugloks, die rot gestrichen waren.

    Da ich mir gut Zahlen merken konnte, wußte ich immer, welche Lok da gerade fuhr.

    Heute hatten wir aber dazu keine Zeit, denn wir wollten ja alle zu Onkel Wilfried. Der war inzwischen nach Graudenz verlegt worden, da gab es einen großen Truppenübungsplatz. Das liegt südlich von Dirschau nicht sehr weit von Bromberg entfernt an der Weichsel. Uns stand eine lange Bahnreise bevor.

    Uroma wollte unbedingt mit, deswegen haben wir sie abgeholt.

    Sie trug wie immer ein langes schwarzes Kleid mit einem weißen Spitzenkragen, den sie herausknöpfen konnte und einen leichten grauen Mantel.

    Am Hut hatte sie einen Schleier, der ihr vor dem Gesicht hing. Das sah lustig aus, aber lachen durfte ich nicht, weil sie dann böse wurde. Ich weiß nicht, ob sie das ernst meinte.

    Über dem linken Arm trug sie ihre Handtasche und in der rechten Hand den Krückstock mit Elfenbeingriff. Mit dem fühlte sie sich sicherer.

    Oma und Loni nahmen sie in die Mitte, damit es schneller ging, weil wir den Zug nicht verpassen durften, weil der ja auf uns nicht gewartet hätte.

    Wir kamen rechtzeitig an, denn der Zug hatte, wie so oft, Verspätung.

    Opa hatte bei der Ankunft das Gepäck aufgegeben, damit er die schweren Koffer nicht zu schleppen brauchte. Nun aber musste er sie noch auslösen und die Schlange am Schalter war beträchtlich. Trotzdem kam er noch rechtzeitig mit den schweren Koffern angeprustet.

    Auf dem Bahnsteig standen sehr viele Leute. Ich hatte Angst, dass wir keinen Platz mehr kriegen würden, weil ich mich doch so auf die Reise gefreut hatte und auch auf Onkel Wilfried. Aber die Angst war unbegründet, wie sich herausstellte.

    Als die Lautsprecher losdröhnten „Achtung Bahnsteig eins, es hat Einfahrt der D-Zug nach Thorn über Schneidemühl und Bromberg, auf Gleis zwei, Vorsicht an der Bahnsteigkante!", überwog die Spannung.

    Dann kam er angerauscht.

    Voller Ehrfurcht nahm ich das Bild in mir auf. Die riesige Lok vom Typ 05 war total verkleidet und rot angestrichen. Nur ein Teil der gewaltigen Räder schaute unten heraus. Überall dampfte und zischte es. Der Zug fuhr so schnell, dass ich glaubte, er hält gar nicht an.

    Das schafft der nicht, das geht gar nicht.

    Doch dann fing er an zu kreischen und zu quietschen, dass ich mir die Ohren zu halten mußte.

    Endlich kam er mit einem kräftigen Ruck zum Stehen.

    Wieder begann die Stimme im Lautsprecher zu rasseln: „Stettin, Stettin Hauptbahnhof, der eben eingefahrene D-Zug aus Hamburg fährt weiter nach Thorn über Schneidemühl, Bromberg mit Anschluß nach Krakau. Wegen Gefahr von Luftalarm, beim Aus und Einsteigen bitte beeilen."

    Es wurde fürchterlich gedrängelt. Loni und Opa nahmen mich in die Mitte, damit ich nicht verloren ging.

    Dann halfen sie Uroma, weil die allein nicht die steilen Stufen in den Wagen geschafft hätte.

    Die Reisenden reichten sich ihr Gepäck durch die geöffneten Fenster in die Abteile hinein, weil das erheblich schneller ging.

    Ein Kofferträger reichte Opa dann die Koffer hinein mit der Bemerkung zu, ob er wohl Vertreter einer Ziegelei sei und seine Muster mit sich herumschleppte, worin Opa ihm absolut recht gab. Wir mussten alle herzhaft lachen.

    Ich hatte meinen kleinen Tornister auf dem Rücken, in den Oma unseren Proviant deponiert hatte.

    Wir hatten dann ein ganzes Abteil für uns.

    Opa öffnete zuerst das Fenster, weil es stark nach Zigarren oder Zigarettenrauch stank. Dann stemmte er mit äußerster Kraft die beiden Koffer ins Gepäcknetz über den Sitzen.

    Ich stellte mich auf den Heizungskasten unter dem Fenster, damit ich hinausschauen konnte.

    Auf dem Nebengleis hielt ein Zug mit einem roten Wagen, in dem die Reisenden an Tischen saßen, auf denen Teller und Tassen standen.

    Opa hat es mir dann erklärt, dass das ein Speisewagen ist und der Zug aus Königsberg kommt und nach Amsterdam weiter fährt. Das stand auf einer weißen Tafel an einem Waggon.

    Plötzlich fuhr unser Zug ganz leise in die falsche Richtung ab.

    Ich war ganz aufgeregt, bis ich merkte, es war der Zug mit dem roten Speisewagen, der abfuhr. Leider konnte ich die Lok nicht sehen.

    Dann wieder die laute Stimme im Lautsprecher: „Achtung Bahnsteig eins. Vorsicht an der Bahnsteigkante, der D Zug nach Thorn fährt, ab."

    Ein schriller Pfiff und ganz langsam ging es in die richtige Richtung aus der Bahnhofshalle hinaus.

    Ich konnte aus dem Fenster sehen, Dampf und Qualm bekam ich ins Gesicht, das störte mich aber nicht. Ich machte meine Augen fast zu, damit mir nichts hinein fliegen konnte.

    Kurz hinter der Bahnhofshalle fuhren wir in eine Kurve, dadurch sah ich am ganzen Zug entlang bis zur Lokomotive und zur anderen Seite bis zum Zugende.

    Unser Zug führte auch einen roten Speisewagen mit, also bekamen wir hier auch etwas zu trinken und zu essen. Ich durfte in so einem schicken Zug fahren, in dem die Bänke nicht aus Holz waren, sondern weich und warm gepolstert.

    Die Lok machte mächtig viel Qualm.

    Wir fuhren vorbei an Arbeitstrupps, die Gleisarbeiten durchführten. Viele Arbeiter trugen gestreifte Anzüge.

    Als ich Opa fragte, warum die solche Zebraanzüge trugen, sagte er: „Das sind Menschen, die etwas ausgefressen haben und dafür nun zur Strafe arbeiten müssen."

    Ich fragte ihn, warum denn da auch Soldaten mit Gewehren stehen und er sagte: „Damit die nicht abhauen."

    Wir fuhren an ausgebrannten Güterwaggons vorbei, von denen teilweise nur noch das Fahrgestell und das Gerippe zu erkennen waren.

    Ob sie hier in Stettin oder anderswo ausgebrannt waren, stand nicht dabei.

    Opa nahm mich dann herunter, weil es so zog im Abteil, und schloß das Fenster. Über die Oderbrücke fuhr der Zug auch noch langsam, denn es wurde überall an den Gleisen gearbeitet.

    Hinter den Brücken wurde die Fahrt dann schneller. Am Bahnhof Altdamm ging die Fahrt ohne Halt vorüber.

    Ich bin vorher noch nie mit einem D-Zug gefahren. Der Schaffner ging durch die Abteile und kontrollierte die Fahrkarten. Er wünschte uns > Gute Reise < und war schnell wieder verschwunden.

    Kurze Zeit später kam eine junge Frau mit einem Getränkewagen an unser Abteil und bot Limonade, Kaffee und Kakao an.

    Wir haben alle etwas Erfrischendes genommen, denn es war sehr warm.

    Unter dem Fenster war ein Klapptisch angebracht, den man hoch machen konnte, um da die Getränke drauf zustellen.

    Die Landschaft flog nur so an uns vorbei. Auf den Wiesen blühten die verschiedensten Blumen und überall erwachte ein neuer Sommer.

    Von Krieg war hier weit und breit keine Spur.

    Manchmal zog dunkler Qualm von der Lok an unserem Fenster vorüber und verwirbelte im Fahrtwind.

    Die Telegrafenleitungen neben der Bahnstrecke hoben sich an den Masten mit den vielen Isolatoren empor, um gleich dahinter wieder abzufallen.

    Das Fahrgeräusch war leise und nicht so hart wie in dem Personenzug, mit dem wir nach Stettin gefahren sind.

    Der D-Zug raste mit uns durch Stargard und Deutsch Krone ohne Halt.

    Der erste große Bahnhof, an dem wir hielten, war Schneidemühl.

    Dieser Bahnhof war ganz anders als der in Stettin. Hier waren nur die Bahnsteige überdacht. Dadurch war es hier auch viel heller.

    Überall am und im Bahnhof wehten die roten Fahnen mit dem Hakenkreuz in der Mitte.

    Schneidemühl war ein großes Eisenbahnkreuz. Hier trafen sich die Bahnstrecken von West nach Ost und von Nord nach Süd.

    Wir hatten hier einen längeren Aufenthalt, weil ein Anschlußzug Verspätung hatte.

    Auf dem anderen Gleis direkt neben uns stand ein Lazarettzug mit verwundeten Soldaten.

    Einige hatten dicke Verbände um den Kopf gewickelt, andere Arme oder Beine in Gips, oder wiederum anderen fehlten diese Gliedmaßen ganz.

    Viele standen an den Fenstern, rauchten und unterhielten sich.

    Manchmal hat mir einer so mit den Fingern zugewunken, denn ich drückte mir die Nase an der Scheibe platt. So etwas hatte ich schließlich noch nie gesehen.

    Auf dem Bahnsteig liefen die Menschen hin und her, es sah so aus, als hätten sie sich verlaufen.

    Mütter mit Kindern und Kinderwagen, hoch bepackt, neben Soldaten, die sich mit ihnen unterhielten. Krankenschwestern die Rollstühle schoben, in denen Schwerverwundete saßen oder fast lagen.

    Dazwischen hupten die Elektrokarren mit Anhängern, die vollgepackt mit Koffern und Paketen zu den Zügen rollten. Menschen, die umsteigen mußten, weil sie ein anderes Reiseziel hatten als wir, belagerten die Informationsschalter.

    Dann dauernd die schnarrenden Durchsagen in den Lautsprechern, die ohnehin kein Aas verstehen konnte.

    Ich mußte zur Toilette, aber das durfte ich nicht so lange der Zug hier hielt. Loni hat mich dann geschnappt und ist mit mir ausgestiegen.

    Ein paar Worte mit einer Schaffnerin auf dem Bahnsteig und wir liefen in die Bahnhofshalle.

    Es herrschte dichtes Gedränge, wo man auch hinsah. Die Toiletten waren genau so überfüllt wie die Bahnsteige und das gesamte Gebäude.

    Ich hatte nur Angst, dass uns der Zug wegfährt, deshalb liefen wir zur Straße. Hier war schnell ein geeigneter Platz gefunden und schon sausten wir Hand in Hand zurück.

    Unser Zug stand noch da, also war meine Sorge umsonst gewesen.

    Endlich kam der Zug, auf den wir so sehr gewartet hatten – so glaubten wir jedenfalls.

    Auch das war ein D-Zug, nur mit einer Lok ohne Verkleidung. Die fauchte aber genauso gefährlich wie unsere. Dahinter befanden sich zwei D-Zugwagen, aus deren heruntergelassenen Fenstern, dichtgedrängt, Soldaten in schwarzen Uniformen hingen. Viele trugen Orden und Ehrenabzeichen.

    Dann folgten nur noch mit Panzern und LKW beladene Güterwagen.

    Opa sagte: „Das ist ein Truppentransport, darauf haben wir bestimmt nicht gewartet. Da kommt sicher noch ein Zug."

    Das war richtig, denn der Zug hielt gar nicht an. Er fuhr langsam durch den Bahnhof – ohne Halt – hindurch.

    Opa meinte: „Hier ist ganz schön was los, wir bekommen für unser Geld richtig etwas zu sehen, das war eine Panzereinheit."

    Da hatte er recht, denn auf der Bahnstrecke in Altdamm gab es das nicht zu sehen, jedenfalls bislang nicht.

    Loni zerrte meinen Tornister aus dem Gepäcknetz und verteilte Butterstullen mit Leberwurst und Schmalz. Die haben prima geschmeckt mit der Brause. Ich konnte so schön danach rülpsen und alle haben dann gelacht. Viel gesprochen wurde sonst nicht, natürlich gab es kurze Unterhaltungen aber jeder war irgendwie mit den Gedanken wo anders.

    Opa und Loni hatten sich in eine Sitzecke gelehnt und haben so getan, als ob sie schliefen.

    Dann kam endlich noch ein Eilzug angerauscht. Davor eine ebenfalls rot verkleidete Lok 03. Das war die kleinere Schwester der 05. Der fuhr auf demselben Gleis ein, auf dem der Truppentransport eben durchfuhr, nur in entgegengesetzter Richtung. Das Gequietsche der Bremsen dagegen konnte mit unserem Zug gut mithalten.

    Jetzt wurde das Gewühle auf dem Bahnsteig völlig unübersichtlich.

    Es wurden an unserem Wagen die Fenster herunter geschoben. Koffer, Taschen und Kartons durchgereicht, Kinderwagen durch die Türen gehoben, aus denen das Gequake der Säuglinge auch an den Abteiltüren nicht haltmachte. Die Schiebetür zu unserem Abteil wurde mit lautem Knall aufgerissen und eine junge Frau fragte, ob es hier noch freie Plätze gäbe.

    Die gab es, indem wir enger zusammenrückten. Damit war unsere Gemütlichkeit dahin.

    Opa half dann deren Koffer und Taschen in die gegenüberliegenden Gepäcknetze zu heben, ohne dass sie jemand auf den Kopf bekam.

    Außer der Frau kamen noch ein alter Mann und ein Mädchen in BDM–Uniform zu uns ins Abteil.

    Die lümmelte sich mir gegenüber in die Polster und nahm von mir überhaupt keine Notiz. Erst als die junge Frau mit ihr meckerte und sie aufforderte, sich ordentlich hinzusetzen und wenigstens „Guten Tag" zu sagen, kam sie ziemlich widerwillig der Aufforderung nach.

    Endlich kehrte dann Ruhe ein.

    Uroma fragte, was denn wohl der Grund der Verspätung gewesen sei.

    Schließlich stünden wir fast eine geschlagene Stunde auf dem Bahnsteig. Darauf erwiderte die Frau, dass sie zweimal Fliegeralarm hatten und der Zug auf freier Strecke so lange gehalten hatte, bis Entwarnung kam.

    Sie sagte weiter, dass sie aus Frankfurt am Main kommen und seit über zehn Stunden unterwegs waren und dass sie mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf dem Weg nach Graudenz zu ihrem Mann sei, der an die Front fährt.

    Jetzt war natürlich Gesprächsstoff genug vorhanden.

    Als das Umsteigen endlich beendet war, fuhr unser Zug mit über einer Stunde Verspätung und proppevoll langsam an.

    Am frühen Abend erreichten wir Bromberg.

    Hier mußten wir umsteigen.

    Viele Reisende kletterten mit uns behäbig aus den Wagen, was bei den steilen Stufen verständlich war.

    Der Bahnsteig war auch hier voll mit Reisenden und Gepäck.

    Säuglinge schrien, Kleinkinder weinten, Lautsprecher schnarrten, Menschen riefen sich, für mich unverständliche Worte zu.

    Wo man auch hinsah, Männer, in Uniform. Einen Mann in Zivil habe ich auf der ganzen Reise nicht gesehen.

    Irgendwann setzte sich der Strom von Menschen in Richtung Ausgang oder Wartesaal in Bewegung. Opa marschierte los, um sich zu erkundigen, wie es weiter ging. Wir blieben auf dem Bahnsteig und warteten ab.

    Unser Ziel war Graudenz, und weil der D-Zug in Richtung Thorn fuhr, mußten wir in einen Personenzug umsteigen.

    Die beiden Omas setzten sich auf eine unansehnliche Bank, während Loni und ich die Umgebung erforschten.

    Auf dem Bahnsteig gegenüber stand ein Postzug, an dem immer wieder Elektrokarren mit voll gestapelten Anhängern haltmachten. Arbeiter mit großen Sackkarren verluden die Gepäckstücke in die Waggons. Es war ein Hin und Her wie in einem Ameisenhaufen.

    Ab und zu durchfuhr ein Güterzug den Bahnhof. Meistens mit Panzern, Kanonen und LKWs beladen, die teilweise mit flatternden, grauen Zeltplanen abgedeckt waren. Doch man sah, was sich darunter verbarg.

    Auch Rangierloks fuhren hin und her, manchmal brachten sie weitere Postwagen, aber auch Güterwagen, die dann an einem anderen Bahnsteig abgekoppelt wurden.

    Auf dem Nebengleis schob eine kleine Tenderlok einige Personenwagen in den Bahnhof. Auf dem Trittbrett des ersten Wagens stand ein Eisenbahner mit Trillerpfeife im Mund. Als er die benutzte, bremste der Zug direkt neben uns. Loni zog mich von der Lok weg, weil die so nach Rauch und Öl gestunken hat. Der Rangierer vom Trittbrett koppelte die Lok ab und fuhr auf dem Puffer stehend mit ihr aus dem Bahnhof.

    Ich fing an zu frieren, denn es zog dort wie Hechtsuppe. Opa kam wieder mit der Aussage, dass wir noch zwei Stunden Zeit haben bis zur Abfahrt des Zuges. Wir gingen in den Wartesaal.

    Das war vielleicht ein dunkler Schuppen. Man konnte nicht mal richtig die Speisekarte lesen. Aber essen wollten wir ohnehin nicht, denn das war für Oma alles viel zu schmuddelig und schließlich hatten wir ja unsere Butterstullen.

    Die Wände, wohl durch den Nikotinqualm schmutzig braun verfärbt, machten den Raum auch nicht appetitlicher. Von der hohen Decke hingen riesige Kugellampen herunter. Deren Glaskugeln waren teilweise schon verloren gegangen, sodass man die Glühlampen sehen konnte.

    Die beiden Omas haben abwertend die Stirn gerunzelt.

    Es kam eine junge Frau mit einer nicht mehr ganz weißen Schürze und Haube auf dem Kopf. Sie fragte in gebrochenem Deutsch, was wir haben möchten. Der harte Akzent in ihrer Stimme verriet ihre polnische Herkunft.

    Sie räumte das benutzte Geschirr und die vollen Aschenbecher vom Tisch und stellte alles auf einen klapprigen Teewagen.

    Die beiden Omas wollten nun doch einen Kaffee, Opa lieber ein Glas Bier. Loni und ich bekamen eine heiße Schokolade.

    Dann verschwand die Frau mit ihrem Wagen voller klappernder Gläser, Tassen, Teller und Aschenbecher.

    Was dann kam, hat beide Omas überrascht. Sie bekamen tatsächlich Bohnenkaffee. Der soll sogar sehr gut geschmeckt haben. Auch unsere Schokolade schmeckte lecker, nur war sie sehr heiß. Ich habe mir gewaltig den Mund verbrannt.

    Als wir uns wieder aufgewärmt hatten, gingen wir in die Stadt. Hier war der Krieg ebenfalls noch nicht angekommen.

    Bromberg ist eine hübsche Stadt mit vielen Kirchen und großen Gebäuden. Alle Häuser hatten Ähnlichkeit mit denen in Stettin, auch die Kirchen. Die deutsche Geschichte ließ sich nirgendwo leugnen.

    Leider war sie in den zwanzig Jahren, unter polnischer Herrschaft, verdreckt und herunter gekommen. Fiel der Putz von der Wand, blieb das so.

    Mitten in der Stadt lagen viele Schiffe, die beladen oder entladen wurden.

    Es wehte ein unangenehmer kalter Wind, deswegen gingen wir langsam zurück zum Bahnhof. Oma Hermine taten die Füße weh und ich war müde.

    Der Personenzug in den wir stiegen war ungemütlich. Blanke Holzbänke in einem kalten Wagen. Aber wir bekamen alle einen Sitzplatz, denn es waren die bereits dort abgestellten Waggons ohne Lokomotive.

    Wenigstens zog es hier nicht so wie auf dem Bahnsteig.

    Langsam füllte sich der Waggon, denn auch andere Reisende suchten Schutz vor dem böigen kalten Wind. Am Tage ist es bedeutend wärmer gewesen.

    Wieder wurden Gepäckstücke in die Netze geschoben, Kleinkinder und Säuglinge versorgt und Unterhaltungen geführt.

    Dann ging ein kräftiger Ruck durch den Zug. Die Lok wurde angekoppelt. Nach einiger Zeit kam aus den Heizschlitzen unter den Fenstern warme Luft.

    Später ratterte der laute Wagen mit dauernd flackerndem Licht über viele Weichen und unebenen Gleisen. Das hat ganz schön geschüttelt.

    Von Gleispflege hatten die Polen in den zwanzig Jahren noch nichts gehört.

    Wenn so ein kleiner Bengel wie ich sich nicht festhält, rutscht er glatt von der Bank. Es war schon ein Wunder, dass sich die Wagen auf den Gleisen hielten.

    Im D-Zug war es erheblich bequemer und gemütlicher gewesen.

    Ich muss dann wohl eingeschlafen sein, denn als Opa mich weckte, waren wir in Graudenz.

    Es war inzwischen dunkel geworden und der kalte Wind war hier genauso stark wie in Bromberg. Ich habe in meinen kurzen Hosen so gezittert wie alle anderen Jungen in meinem Alter auch, die diese Reise mitmachten.

    Dicht am Bahnhof war ein Hotel, in das sind wir eingezogen. Hier waren von Onkel Wilfried zwei Zimmer reserviert worden.

    Eine steile Holztreppe, belegt mit weichem Läufer, führte aus dem Schankraum nach oben in die zweite Etage. Überall lagen bunte Teppiche. An den Wänden zwischen den Zimmertüren hingen Bilder mit Sehenswürdigkeiten von Graudenz.

    Unser Zimmer war warm und gemütlich. Aber das hat, glaube ich, niemand genau registriert. Erstens waren wir alle durchgefroren, dann waren wir hundemüde und Hunger hatten wir auch.

    Deshalb haben sich alle erst einmal frisch gemacht. Opa Paul und Oma Emmy hatten ein eigenes Zimmer und Uroma, Loni und ich auch.

    In jedem Zimmer war ein Waschtisch mit weichen Handtüchern und warmem Wasser direkt aus dem Wasserhahn. Das hatten wir zu Hause nicht.

    Da wurde das Wasser auf dem Herd heißgemacht, in die Badewanne gegossen und mit kaltem Wasser aus dem Wasserhahn gemischt.

    2. Kapitel

    Am nächsten Morgen waren wir früh wach. Oma Emmy hatte keine Ruhe, sie wollte unbedingt, dass wir frühstücken und gleich losfahren.

    Es gab Unstimmigkeiten, wer denn nun zuerst ins Badezimmer geht, aber ein Machtwort von Opa Paul beruhigte die Lage beträchtlich.

    Er lud die Familie zu einer Taxifahrt nach Gruppe ein. So hieß der Truppenübungsplatz in Graudenz.

    Wir bekamen natürlich viel von der Stadt zu sehen. Opa Paul kannte sie ja schon. Er war als junger Soldat vor dem Ersten Weltkrieg schon einmal für einige Wochen hier stationiert, da kannte er Oma Emmi aber noch nicht.

    Was er jetzt zu sehen bekam, veranlasste ihn nur zu einem Kopfschütteln. Für mich dagegen gab es hier viel Interessantes zu sehen: die Weichsel mit den vielen Schleppern und Lastkähnen, die weißen Ausflugsdampfer und die riesige Eisenbahnbrücke.

    Für Opa war alles baufällig und heruntergekommen. Er sagte immer wieder: „Typisch polnische Wirtschaft." Denn Graudenz fiel nach dem Ersten Weltkrieg an Polen, so wie Bromberg und Posen auch. Aber davon verstand ich noch nichts und beschränkte mich auf das, was es zu sehen gab. Überall liefen Soldaten herum, es sah so aus, als gäbe es nur Menschen in verschiedenen Uniformen. Das wird im Krieg wohl überall so sein.

    Als das Taxi vor dem Posten am Eingang zum Gelände anhielt, stieg Opa Paul aus und ging zur Wache.

    Die Tür ging auf und ein Offizier mit Stahlhelm und braunem Pistolengürtel mit einer großen Pistole kam Opa entgegen.

    Die Beiden begrüßten sich militärisch mit der Hand an der Kopfbedeckung und sprachen dann einige Zeit miteinander. Wir sind inzwischen ausgestiegen.

    Oma zahlte das Taxi, das dann sofort wegfuhr, und wir gingen zu Opa und dem Wachsoldaten.

    Die Frauen wurden von ihm freundlich begrüßt und wir gingen ins Wachlokal. Es wurde kurz telefoniert und er bat uns einen Augenblick zu warten, wir würden sofort abgeholt.

    Nach kurzer Zeit erschien ein junger Soldat, grüßte und knallte die Hacken zusammen. „Gefreiter Kranz wie befohlen zur Stelle!" Der Wachhabende übergab uns dem Soldaten. Er sollte sich um uns kümmern und uns zu dem Block bringen, in dem Onkel Wilfried lag.

    Während wir dorthin gingen, erzählte er uns, dass die Kompanie meines Onkels noch im Gelände sei, aber bis zum Mittag wieder zurück kommt und den Nachmittag freihätte, um alles für den morgigen Abmarsch vorzubereiten.

    Er sagte dann, dass seine Eltern ebenfalls kommen würden, denn auch er fährt morgen früh ab, auch dass seit Tagen schon Aufbruchstimmung herrsche und er ein beklemmendes Gefühl habe, wenn er an Russland denkt.

    Doch dann sagte er schnell hinterher: „Aber so wie das aussieht, hat der Iwan kapituliert, ehe der Zug ankommt."

    Opa Paul verzog nur knapp sein Gesicht zu einem kurzen Grinsen, sagte jedoch nichts. Er hatte sich nur seinen Teil gedacht.

    Aus einiger Entfernung drang Gesang an unser Ohr.

    Gefreiter Kranz blieb vor einem langgestreckten Gebäude stehen: „Hier ist die Kantine, es sind schon mehrere Angehörige von Soldaten hier, wenn sie möchten, können sie hineingehen."

    Wir wollten draußen bleiben. Die Sonne schien warm und alle wollten so schnell wie möglich bei Onkel Wilfried sein.

    An der Hauswand standen einige Holzbänke, da wollten wir bleiben. Unser Begleiter verabschiedete sich mit: „Alles Gute und noch einen schönen Tag."

    Dann verschwand er.

    Der Gesang wurde jetzt lauter und dann kamen sie um die Ecke. Gleich im ersten Zug in der Mitte marschierte groß und stolz mein Onkel. Er hatte uns wohl gleich erkannt, denn ein breites Lächeln huschte beim Singen über sein Gesicht.

    Die Kompanie schwenkte zur Kantine ein und mit einem lauten Kommando: Lied aus, Kompanie halt, rechts um, rühren endete der Gesang.

    Oma Emmy lief zu dem Hauptmann, der an der Spitze marschierte und die Befehle gab. Es folgten dann ihm noch einige Anweisungen für den heutigen Tag.

    Er wendete sich Oma Emmy zu, die ganz aufgeregt mit ihm sprach und auf ihren Sohn zeigte.

    „Oberjäger Brüggert vortreten." Was der dann eilig tat. Die Drei redeten kurz miteinander; mein Onkel grüßte und konnte gehen.

    Der Trupp wurde aufgelöst und die Soldaten verschwanden in ihren Unterkünften.

    Es gab ein langes Umarmen und auch Tränen, besonders bei Oma Emmy. Auch Uroma zog ihr Taschentuch aus der Handtasche.

    Opa Paul musste auch etwas ins Auge geflogen sein, aber Männer lassen es sich ja nicht anmerken.

    Onkel Wilfried ging noch einmal in die Kaserne, um sich dem Sturmgepäck und dem Karabiner zu entledigen. Wir sollten so lange warten, aber ich nicht. Ich durfte mit hinein.

    Stolz wie ein Pfau, an der Hand meines Onkels, der für mich Vaterersatz war, betraten wir den Raum.

    Einige Soldaten hatten sich mit ihrer Uniform auf ihr Bett gelegt und blickten zur Decke hoch. Man redete völlig normal. Kein Gegröle, kein Fluchen, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

    Sie fragten mich, wie ich heiße und ob ich auch später Soldat werden wollte, worauf einer rief: „Was heißt hier wollen, er wird müssen, so wie wir."

    Worauf mein Onkel sagte: „Wenn du so weit bist, brauchen wir keine Soldaten mehr, dann gibt es nur noch gute Menschen, dafür kämpfen wir doch, oder?"

    Aus der hinteren Ecke kam dann eine tiefe Stimme: „Ihr kennt doch den schönen Walzer, da luer man op."

    Dann konnten wir gehen. Ich sagte in die Runde: „Wiedersehen" und verließ an der Hand von meinem Onkel Wilfried die Stube.

    Draußen warteten alle schon ungeduldig auf uns.

    Opa meinte: „Nun lasst uns man sehen, dass wir hier wegkommen, denn schließlich hat der Junge für den Rest des Tages Urlaub und den will er sicher nicht hinterm Schlagbaum verbringen."

    Wir sind dann losgegangen, haben herumgealbert und gelacht, aber trotzdem hatte die ganze Atmosphäre etwas Gekünzeltes an sich. So nach dem Motto, ich möchte dir etwas sagen, aber mir fehlen die passenden Worte. Immerzu war die Ungewissheit zu Gast.

    Onkel Wilfried war es dann, der versuchte, alles lockerer zu sehen. Er erzählte, dass er fast nur noch in den Werkstätten seinen Dienst tat und kaum an militärischen Aktionen teilnahm, dass er sich zu einem Unteroffizierslehrgang angemeldet habe und jetzt auch nicht zur kämpfenden Truppe kommt, sondern ins Hinterland, zu einer Instandsetzungseinheit.

    Das habe er seinem Hauptmann zu verdanken, dem er seinen DKW immer wartete.

    Auch glaube er nicht daran, dass der Feldzug gegen Russland noch lange dauert.

    Er hat die ausgelaugten Gefangenen gesehen, in deren Augen war kein Biss. Die machten einen derart müden Eindruck, dass sie ihm schon leidtaten.

    Mehr Sorgen machten ihn schon die Luftangriffe auf unsere Städte.

    Das ist kein Krieg, sagte er, das ist ein Verbrechen. Es ist leicht, sein Maul aufzureißen, wenn man einen großen Bruder hat, denn ohne den Ami hätten die doch längst alle Viere von sich gestreckt. Wohnhäuser haben mit Krieg nichts zu tun. Er spielte auf die Angriffe auf Lübeck und Rostock an.

    So ging die Unterhaltung weiter, bis Opa sagte: „Nun lass uns man gemütlich irgendwo rein setzen und etwas essen, mir knurrt mächtig der Magen."

    Ich weiß nicht mehr, wo wir gelandet sind, überall gingen Soldaten mit ihren Angehörigen, aber fröhliches Lachen hörten wir kaum.

    Endlich hatten wir ein Restaurant gefunden, herrlich gelegen unter hohen Bäumen, die in ihrem hellen Grün Hoffnung vermittelten, jedenfalls im Moment Hoffnung auf ein kräftiges Mittagessen.

    Hier war alles schon viel entspannter, es gab eine große Wippe und mehrere Schaukeln, die mit langen Seilen an den Ästen befestigt waren. Viele Kinder tobten sich hier so richtig aus.

    Traumhaft dieser Tag, das Wetter, die Landschaft ich war mit meinem Onkel Wilfried zusammen und Opa war auch da und alle hatten sehr viel Zeit für mich.

    Glück was willst du mehr.

    Nachdem wir viel getobt und noch mehr geschwitzt hatten, gab es zur Belohnung Butterkuchen. Irgendwie hat es allen gut getan, an etwas anderes zu denken als an den nächsten Tag.

    Die Sonne stand schon ziemlich tief, als die Familie aufbrach, denn es war ja auch noch ein weiter Weg bis zur Kaserne.

    Dann plötzlich war er wieder da, der Gedanke an den nächsten Morgen. Oma fing an: „Du schreibst gleich, hast du das gehört? Und sehe dich vor, sei nicht so waghalsig."

    Loni versuchte sie zu beruhigen: „Du hast doch gehört, er bleibt im Hinterland, er repariert Lastwagen und Panzer. Solche Leute sind wichtig, die brauchen sie, die lassen sie sich nicht abschießen."

    Im Nachhinein glaube ich, meine Oma hat gewusst, ihr Sohn kommt nicht wieder. Mütter haben so eine Ahnung.

    In der Unterkunft angekommen, gingen wir in die Kantine. Hier herrschte reger Betrieb. Alle Tische waren besetzt. Lautes Stimmengewirr und Kindergeschrei empfingen uns müde Krieger.

    Oma Hermine hatte ganz geschwollene Füße und Oma Emmy ging es auch nicht besser.

    Onkel Wilfried schnappte sich zwei Kameraden und holte Tisch und Stühle von einer Bühne herunter. Irgendwie gabelten sie auch noch eine Bank auf. Wir postierten uns in eine Ecke und konnten erst einmal tief durchatmen, nach dem langen Spaziergang.

    Die Beleuchtung in dem riesigen Raum war jedoch mehr als sparsam. Aber wir brauchten auch nicht sehen, was wir sagten.

    Loni und Onkel Wilfried holten Getränke; die nächsten Tische, an denen die beiden Kameraden mit ihren Angehörigen saßen, wurden zusammengeschoben und somit schob man auch die Sorgen um die Söhne zusammen.

    Ein Vater sagte: „Wir sind jetzt eine Schicksalsgemeinschaft, darum rückt enger zusammen."

    Nach dem Stühlerücken stellte man sich gegenseitig vor. Einer vom Nebentisch sagte laut: „Kinder, geniest den Krieg, der Friede wird grausam sein."

    Der Raum füllte sich mit immer mehr Soldaten und ihren Angehörigen.

    Einige junge Frauen oder Mädchen setzten sich auf den Schoß eines Soldaten, weil sie keinen anderen Stuhl fanden.

    Die Luft in dem doch ziemlich niedrigen Kantinenraum war zum Schneiden, zumal auch noch kräftig geraucht wurde.

    Ich hatte einen weichen Platz, auf dem Schoß von Onkel Wilfried, deshalb konnte Loni mit auf der Bank sitzen.

    Die Erwachsenen unterhielten sich über allerlei Probleme: über den Krieg und den selbstverständlichen Sieg, über die Welt voller Feinde.

    Die Unterhaltung begann dann in meinen Ohren zu rauschen. Ich spürte das Geratter des Personenzuges auf den unebenen Schienen vom Vortag, das Stimmengewirr im Raum wurde zu einem schwankenden Rauschen und bald hörte ich nichts mehr. Ich war einfach eingeschlafen.

    Unsere Familie ist die ganze Nacht bei meinem Onkel geblieben.

    Es war schon hell, als ich geweckt wurde. Onkel Wilfried hatte uns schon vor längerer Zeit verlassen müssen, um sich für den Transport zu rüsten.

    Es wurde noch schnell gefrühstückt und schon verließen alle Besucher den Kantinenraum in Richtung Bahnstation. Die befand sich innerhalb des Kasernengeländes.

    Als wir dort ankamen, war der einzige Bahnsteig, der eigentlich nichts weiter als eine Verladerampe war, voller Menschen. Von einem Zug war nichts zu sehen. Viele Frauen hatten Tränen in den Augen, auch Oma Emmy. Überall wurden Taschentücher hervor gekramt und sich geschnäuzt.

    Nachdem die Soldaten mit gepacktem Tornister, Feldflasche und Kochgeschirr eingetroffen waren, bekamen sie die Gelegenheit sich von ihren Angehörigen zu verabschieden.

    Onkel Wilfried kam zu uns gelaufen, in der einen Hand den Karabiner, die andere zur Umarmung ausgestreckt, doch keineswegs traurig: „Macht es uns allen nicht so schwer, ihr werdet sehen, es geht alles gut. Pappi hat es auch überstanden."

    Doch alles trösten half nichts. Oma Hermine heulte wie ein Schlosshund. Einer steckte den andern an.

    Als dann die Güterwagen ziemlich forsch an die Haltestation herangeschoben wurden, bildeten die auf den Gleisen stehenden Soldaten eine Gasse für den langen Zug, der nun mit lautem Quietschen und Kreischen, zum Stehen kam.

    Wir auf dem Bahnsteig konnten durch die an beiden Seiten geöffneten Schiebetüren hindurchsehen.

    Erst schwangen sich einige Soldaten hinein und verteilten die in den Wagen liegenden Strohballen auf den Böden, dann winkten sie ihren Kameraden zu, die dann gruppenweise hineinkletterten.

    Onkel Wilfried und Opa verabschiedeten sich mit langem Händedruck. „Halt die Ohren steif mein Junge und schreib uns, wo ihr seid. Vergiss die Feldpostnummer nicht, hörst du?"

    Oma rief hinterher: „Schreib, ob du etwas brauchst."

    Ein kurzes Winken, ein Sprung in den nächsten Güterwagen und der Abschied endeten in einem Strom aus Tränen und lautem Schluchzen.

    Als dann eine Mutter neben uns sagte: „Dafür hat man jetzt die Jungens groß gezogen," kamen Opa Paul die Tränen. Ich habe ihn nie zuvor, aber auch niemals später wieder, weinen sehen.

    Als alle in die Güterwagen geklettert waren, nahmen sie Aufstellung an den offenen Türen. Es gab ein lebhaftes Hin- und Hergerufe.

    Die Dienstgrade eilten im Laufschritt in Richtung Lokomotive, wo mehrere D-Zug-Waggons angekoppelt waren, erst danach kamen die Güterwagen und stiegen ein.

    Ein lang anhaltender Pfiff

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