Thomas Müntzer: Der Mystiker. Ausgewählt von Gerhard Wehr
Von Thomas Müntzer
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Thomas Müntzer - Thomas Müntzer
I. EINLEITUNG
REVOLUTION UND MYSTIK IN DER REFORMATIONSZEIT
Die weltweit verbreitete christliche Mystik ist weder an eine bestimmte Zeit gebunden noch ist sie nur in einer geistig-religiös speziell ausgerichteten Konfession beheimatet. Stets haben auch die Formen geistlicher Erfahrung christlicher Provenienz eine je besondere Ausprägung gefunden, sei es in der römisch-katholischen und damit lateinisch geprägten Kirche des Westens oder sei es in der griechisch orientierten Orthodoxie des Ostens. Ihnen gehen die zeitlich zum Teil noch älteren Kirchengemeinschaften etwa der Aramäer, der Syrer oder der Kopten voraus. Ferner ist an die Vielfalt der Mystik in den Weltreligionen zu denken, deren Einfluss auf das Christentum bis heute nicht hoch genug zu veranschlagen ist.
Von daher versteht es sich, dass die Reformation, ihre Initiatoren – angefangen mit Martin Luther (1483 – 1546) – wie ihre zahlreichen Parteigänger und geistigen Erben kirchengeschichtlich betrachtet mit eigenem Profil an dem großen Strom mystischer Überlieferung in der Christenheit teilhaben. Mit der durch die Reformatoren vertretenen Mystik sind andererseits neue Ausprägungen spirituellen Erlebens in Erscheinung getreten, etwa in Gestalt einer besonders durch Luther vertretenen, auf Christus ausgerichteten Mystik des Wortes Gottes, das heißt der Bibel des Alten und des Neuen Testaments. Was das Wesen der christlichen Mystik im Allgemeinen anlangt, so geht es hier in der Hauptsache darum, nicht etwa nur irgendwelche Glaubenslehren anzuerkennen, sondern zu einem existenziell vertieften, individuellen Glaubenserleben zu kommen. Die mittelalterlichen Meister sprachen von der Teilhabe an einer durch Erfahrung gestützten Gotteserkenntnis (cognitio Dei experimentalis). Schließlich geht es auch darum, die Übung der geistlichen Sammlung zu praktizieren und, veranschaulicht an dem Schwesternpaar Maria und Marta von Betanien, nach dem Wort Jesu (Lk 10,42) die Besinnung auf das Eine, das nottut, anzuregen. Die meditative Maria habe „das gute Teil erwählt", das nicht von ihr genommen werden solle.
Diese Einstellung gilt, zumindest in seinen Anfängen, bereits für Martin Luther, der als Mönch im Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten ins geistliche Leben von Gebet und Liturgie, in die Übung von Meditation und Kontemplation eingeführt wurde.¹ Er war es auch, dem wir die erste und wiederholte Herausgabe der von ihm hoch geschätzten Theologia Deutsch, einer Grundschrift der deutschsprachigen Mystik², verdanken. Für deren Bekanntwerden und Beachtung hat er sich unter seinen Freunden und Schülern alsbald werbend eingesetzt. So gesehen, gibt es protestantische Mystik bereits am Anfang der reformatorischen Bewegung.³ In ihrer von Umwälzung (revolutio) und Erneuerung bestimmten Mitte steht Thomas Müntzer, eine reformatorisch wie revolutionär ebenso bedeutende wie umstrittene Predigergestalt, zunächst als Gemeindepfarrer und als Seelsorger, schließlich als engagierter Prediger in den Reihen der am Bauernkrieg beteiligten mitteldeutschen Bauernhaufen. Doch ihn – wie es gelegentlich geschieht – lediglich auf einen aufrührerischen Bauernführer zu reduzieren, wird seinem Wesen und Wirken keinesfalls gerecht! Ganz zu schweigen von der Diffamierung Müntzers durch Luther und die Wittenberger Reformatoren.⁴ Ihnen schloss er sich frühzeitig an, das heißt unmittelbar nach Bekanntwerden der 95 Thesen Martin Luthers im Herbst 1517. Doch aus der jahrelangen Zusammenarbeit wurde im Laufe der Zwanzigerjahre eine erbitterte Gegnerschaft. Von ihr ist zu berichten, wenngleich der Blick insbesondere auf Müntzers Teilhabe am mystischen Erleben gelenkt werden soll.
Müntzer war zeitlebens und ist bis heute umstritten – nicht zuletzt als angeblicher „Theologe der Revolution (E. Bloch). Daher ist es kein Wunder, dass gerade auch sein Charakterbild in der Geschichte heftig schwankt. „Die einen brechen den Stab über den ruhelosen Fanatiker und gefährlichen Wahnsinnigen (G.R. Elton), und die anderen bewahren dem ‚selbstlosen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit‘ (M. Bensing) ein ehrendes Andenken. […] Vielleicht erklärt das die extremen Reaktionen, die in der Geschichte seiner Wirkung und Deutung bis in die Gegenwart zu beobachten sind und den Zugang zu dem historischen Thomas Müntzer erschweren.
⁵
Auch die Frage, ob in seinem Wesen die eschatologisch-endzeitliche Mentalität dominiert oder ob es die mystische Note ist, die sein religiöses Leben richtungweisend bestimmt habe, wird bisweilen unterschiedlich bewertet.⁶ Doch kommen bei ihm, in der Regel situationsbedingt, beide Sichtweisen und Einstellungen zur Geltung: Der vom Geistfeuer mystischer Innenerfahrung Ergriffene und der Entschluss, sich als „Knecht und williger Botenläufer für das anbrechende Reich Gottes einzusetzen, stellen eine Einheit dar. Müntzer war schließlich bereit, sein Leben dafür dranzugeben. Er selbst sprach aus, dass er „kein größeres Pfand
habe. In dieser Totalhingabe erblickte Thomas Müntzer seinen speziellen Beitrag zur Reform der Kirche. Das führte dazu, dass die anfängliche Luther-Begeisterung bei ihm wie bei nicht wenigen anderen verwandten Geistes in ihr striktes Gegenteil umschlagen musste. Das geschah in einem komplexen kirchen- wie sozialgeschichtlichen Kontext. Keine Frage: Vieles an Müntzers Reden und Tun wirkt in seiner Kompromisslosigkeit – einst wie heute – überaus befremdlich, insbesondere wenn er zur Vernichtung der von ihm als solche apostrophierten „Gottlosen" aufruft.
ANGESICHTS DER ERHEBUNG DER BAUERN
Leben, Lehre und Wirksamkeit Thomas Müntzers entfalteten sich in einer religiös wie gesellschaftlich überaus spannungsvollen Zeit. Entscheidende, auch für ihn richtungweisende Impulse gingen, wie bekannt, von der Reformation Martin Luthers aus, die ihrerseits durch eine Reihe von religiös-theologischen sowie kirchenpolitischen Faktoren mitbestimmt war. Es ging um nichts weniger als um die längst dringlich gewordene, allseits geforderte umfassende Reform der korrupt gewordenen, verweltlichten Kirche an Haupt und Gliedern.
Als ein von Luthers 95 Thesen (1517) und deren Auswirkungen angesprochener junger Theologe wurde Müntzer, Prediger und Seelsorger, in die Bauernaufstände Mitteldeutschlands, vor allem Thüringens, einbezogen. Dabei ist zu bedenken, dass er gar nicht allein nur deren Situation im Blick hatte, sondern auch die der lohnabhängigen Handwerksgesellen, generell der „geringen Leute", in den Städten, in denen er seelsorgerlich tätig war, beispielsweise in Zwickau, Allstedt oder zuletzt in Mühlhausen.
Gerade als lutherischer, bald aber auch als antilutherisch gesinnter Theologe sah er sich beauftragt und ermächtigt, zum spirituell-revolutionären Wortführer der Aufständischen Thüringens und Sachsens zu werden. Das geschah mit der erklärten Zielsetzung, den Willen Gottes – wie er ihn verstand – zu vollziehen und dessen Reich, notfalls kämpferisch, erstreiten zu helfen. Wohl sprechen seine Predigten und Manifeste häufig davon, dass den „großen Hansen, den geistlichen wie den weltlichen, gewehrt und dem entrechteten „gemeinen Mann
in seinen Bedrängnissen Abhilfe geschaffen werden müsse. Doch als „Knecht und williger „Botenläufer Gottes
empfing er, wie er betont, den Antrieb für sein Wirken durch den göttlichen Geist, der den Menschen erleuchtet und zu vollmächtigem Tun befähigt. Gleichzeitig wurde er sich dessen bewusst, dass die Zeit reif ist – eine Zeit der auf das Weltende ausgerichteten Ernte, von der das Evangelium spricht. Daher gelte es, nicht zu zögern, sondern, wie er einmal zu schreiben pflegte, „die Sichel scharf zu machen, gegebenenfalls im Moment der Entscheidung das „Schwert Gideons
⁷ zu ergreifen und dem teuflischen Widersacher, den Luther den „alt-bösen Feind" nannte, mit vollem Einsatz furchtlos entgegenzutreten. Freilich war bald abzusehen, dass Luther für ihn eines Tages als Widersacher selbst in die Schranken gewiesen werden musste.
Auch der deutsche Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts stellt sich als ein historisch komplexes, von vielen Zeitgenossen als ein endzeitlich betrachtetes Geschehen dar, gerade weil es sich in Gestalt einzelner, regional begrenzter Aufstände mit unterschiedlichen Ausgangslagen und Motivationen nach und nach über Deutschland ausbreitete. Vom Südschwarzwald, Oberschwaben und Franken 1524 ausgehend, wurden auch Thüringen und Teile Sachsens im Frühjahr 1525 ergriffen.⁸ Dass gerade auch die Bauernschaft große Hoffnungen auf die Reformation setzte und dass sie Luthers Freiheit des Christenmenschen mit eigenen existenziellen Bedürfnissen und Sehnsüchten verband, zeigt eine Reihe von sogenannten Artikelbriefen, in denen die Bauern dies zum Ausdruck brachten: „Der Reformation entstammte unmittelbar das Verlangen nach Abschaffung des Zehnten und nach der Wahl der Pfarrer durch die Gemeinde. Die allgemeine Erschütterung weltlicher und geistlicher Autorität, die die Reformation bedeutete, veranlasste den gemeinen Mann aber auch, alle überkommenen Lasten in Frage zu stellen und sich auf jede Weise Erleichterung zu verschaffen."⁹
Wie aber verhält es sich nun mit der Mystik Thomas Müntzers? Der protestanische Theologe und Müntzer-Forscher Hans-Jürgen Goertz bemerkt hierzu: „Nicht jede Seite, die Müntzer schrieb, und nicht jede Schrift, die er in Druck gab, ist revolutionsdurchtränkt. Auch fing er nicht, wie gelegentlich angenommen wird, bereits in Zwickau¹⁰ damit an, den Aufstand zu propagieren und vorzubereiten, als er sich mit den Armen der Stadt solidarisierte. Man verstellt sich den Blick für seine Theologie, wenn man sie stets nur im Zusammenhang der sozialen Unruhen zu erfassen versucht. Sein Anteil am Heraufführen des Bauernaufstandes war geringer als der Luthers. Die Bauern beriefen sich ja vor allem auf den Wittenberger Reformator und witterten in der Freiheit des Christenmenschen auch ihre Freiheit.¹¹ Müntzer stieß erst später zu ihnen."¹²
Thomas Müntzer, der im Innersten von der Notwendigkeit der Reformation der Christenheit ergriffene Theologe in der Mitte seiner Dreißigerjahre, zögerte nicht, sich dem Wittenberger Reformator zur Verfügung zu stellen und ein Schüler Martin Luthers zu werden. So war es von Anfang an dieser theologische Gesichtspunkt, insbesondere dessen mystisch-spirituelle Verinnerlichung und nicht gerade ein ausschließlich sozialrevolutionärer Wille zur Veränderung, der sein Tun bestimmte. Das zeigt bereits sein Werdegang, entstammte er doch nicht etwa dem Bauernstand, sondern er begann, antiklerikal gesinnt, als Bürgersohn, der sich durch das Theologiestudium auf den Beruf des Pfarrers und Seelsorgers vorbereitete. Hinzu kam die Lektüre mystischer Schriften. Dazu wuchs in ihm die Einsicht, dass die tiefgreifende Veränderung in Kirche und Gesellschaft dringlich sei und jetzt in Angriff genommen werden müsse.
LEBENSWEG THOMAS MÜNTZERS
Das Bergstädtchen Stolberg im Harz ist Müntzers Geburtsort. Darüber hinaus sind nur wenige Daten seiner Biografie mit einiger Zuverlässigkeit zu erheben. So lässt sich nicht genau sagen, wann sein Leben begonnen hat. Man ist darauf angewiesen, von dem Jahr seines Studienbeginns auszugehen, um von da aus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sein Geburtsjahr zu ermitteln. Nun schrieb er sich im Wintersemester des Jahres 1506 an der Universität Leipzig ein, und zwar als „Thomas Müntzer de Quedlinburg". Von daher ergibt sich, dass er in seiner Jugend dort aufgewachsen sein kann. Hier mag er auch die Lateinschule besucht haben. Nimmt man üblicherweise das 17. Lebensjahr als Lebensalter bei seiner ersten Immatrikulation an, dann ergibt sich das Geburtsjahr 1489/90. Und weil die Namenswahl eines Kindes bei der Taufe, das heißt meist bereits am Tag nach der Geburt erfolgt ist, kommt man auf den Festtag des hl. Thomas. Demnach kann Müntzer an einem 20. oder 21. Dezember des betreffenden Jahres geboren sein. Über die näheren Lebensumstände der Familie gibt es keine Aufzeichnungen. Zu den Reichen, durch nennenswerten Grundbesitz Ausgezeichneten, scheinen die Eltern nicht gehört zu haben. Darauf deutet die Notiz hin, wonach er bei Studienbeginn eine um wenige Groschen verminderte Aufnahmegebühr zu zahlen hatte.
Traditionsgemäß ist das Grundstudium der sogenannten Freien Künste (artes liberales) zu absolvieren, das über den Baccalaureus (heute: Bachelor) als dem ersten akademischen Grad zu dem Magistergrad führt, ehe mit dem jeweiligen Fachstudium begonnen werden kann; bei Müntzer handelte es sich, wie bekannt, um das Studium der Theologie. Neben dem Status eines Magisters der Freien Künste hat er – an nicht bezeichnetem Ort, eventuell nach 1517 in Wittenberg – den theologischen Baccalaureus erworben. Die Forschung geht davon aus, dass der künftige Priester neben der herkömmlichen, auf der scholastischen Philosophie fußenden Lehrweise auch humanistische, also moderne Bildungsinhalte aufgenommen habe, zu denen zumindest das Griechische für die Lektüre des Neuen Testaments, vielleicht auch das Hebräische für die hebräische Bibel, das Alte Testament, gehörte. Die traditionelle Theologie und Dogmatik begnügte sich freilich mit dem lateinischen Bibeltext der auf den gelehrten Kirchenvater Hieronymus (gestorben 420 in Betlehem) zurückgeführten Vulgata. An ihr orientierte man sich in Kirche und Theologie das gesamte Mittelalter hindurch, in der römisch-katholischen Kirche zum Teil noch darüber hinaus.
Während des dritten Semesters an der Alma mater Lipsiensis oder bald danach findet man den gebürtigen Stolberger im Herbst 1512 an der Universität Frankfurt an der Oder, hier in der Matrikel nach seinem Geburtsort als Stolbergensis bezeichnet. Von da an kommt Bewegung in Müntzers kurzes, zugleich unruhiges Wanderleben auf der Suche nach einer kirchlichen Tätigkeit. Denn schon ein Jahr später, 1513, treffen wir ihn in Halle an. Er übt einen Brotberuf aus, nämlich etwa den eines Hilfslehrers (collaborator). Alsbald, 1514, hält er sich in Aschersleben auf. Es vergehen einige weitere Jahre, bis er der Berufung auf eine Pfarrstelle folgen kann, wie sie in jenen Jahren üblicherweise durch den Magistrat einer Stadt ausgesprochen wurde. Was es mit einem von ihm angeblich in Halle