Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Gipfelgespräche mit Martin Luther: Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günther Grass
Gipfelgespräche mit Martin Luther: Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günther Grass
Gipfelgespräche mit Martin Luther: Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günther Grass
eBook379 Seiten4 Stunden

Gipfelgespräche mit Martin Luther: Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günther Grass

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die drei deutschen Autoren mit Weltgeltung, Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günter Grass, sind jeweils mit ihrem epischen Erstling global auf Resonanz gestoßen und haben ihren frühen Ruhm dann wieder um die Lebensmitte mit einem weiteren Welterfolg. gekrönt. Alle drei haben sich in Leben und Werk zudem intensiv und produktiv mit Martin Luther als dem wohl weltweit bekanntesten deutschen Denker und Autor überhaupt auseinandergesetzt und haben regelrechte Gipfelgespräche mit ihm geführt:
J. W. Goethe beginnt sein dichterisches Werk mit der Nachdichtung einer Luther-Predigt und setzt sich danach lebenslang mit nahezu allen theologischen, künstlerischen und historischen Aspekten von Werk und Wirkung des Reformators auseinander. Aufgrund neu aufgefundener Materialien wird Luthers Bedeutung für Goethes Leben und Werk erstmals so ausführlich und facettenreich dargestellt.
Thomas Mann sieht in Luther positiv wie negativ die Inkarnation eines von ihm imaginierten ›Deutschtums‹, das er verehrt und später denunziert und bekämpft. Kurz vor seinem Tod sucht er in Hassliebe das direkte Gespräch mit Luther und stirbt über der Arbeit an einer Komödie Luthers Hochzeit.
Günter Grass bekennt sich in seiner Nobelpreis-Rede 1999 zu Luthers Bibelübersetzung als Vorbild für seine eigene rhythmisierten Prosa und sucht und führt im Dichten einer Antiphon zu Luthers Tedeum ein religiöses Gipfelgespräch, in dem Grass seine eigene vom jungen Luther beeinflusste negative Theologie mit dem Gotteslob des Reformators kontrastiert
SpracheDeutsch
Herausgebermarixverlag
Erscheinungsdatum6. Nov. 2017
ISBN9783843805537
Gipfelgespräche mit Martin Luther: Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günther Grass

Mehr von Volker Neuhaus lesen

Ähnlich wie Gipfelgespräche mit Martin Luther

Ähnliche E-Books

Künstler und Musiker für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Gipfelgespräche mit Martin Luther

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Gipfelgespräche mit Martin Luther - Volker Neuhaus

    I.

    »NOSTRA THEOLOGIA EST CERTA« – MARTIN LUTHER

    Die Zeit

    Wie bei der anderen überragenden Gestalt der deutschen Geistesgeschichte, Johann Wolfgang von Goethe, kommen bei Martin Luther zwei entscheidende Faktoren für ihre historische Wirkungsmacht und Strahlkraft zusammen: Eine überragend begabte Persönlichkeit mit den denkbar besten individuellen Voraussetzungen tritt in einer nicht bewegender und nicht bewegter denkbaren Umbruchszeit auf, die in beiden Fällen mit einen ungeheuren Modernisierungsschub einhergeht: Für Goethes Leben sei verkürzend auf die Chiffre der Französischen Revolution und ihres Vor- und Umfeldes verwiesen, für Luther auf den Neuaufbruch der westlichen Menschheit in der ›Renaissance‹. Unsere deutschen Epochenbezeichnungen beruhen zur Gänze auf dieser Auffassung: Das ›Altertum‹ wird abgelöst von der Periode mit dem Notnamen ›Mittelalter‹, das von einer ›Wiedergeburt‹ –ital. rinascimento, frz. renaissance – des Altertums abgelöst wird, mit der die ›Neuzeit‹ beginnt, die zugleich eine radikale Abkehr von nahezu allem Mittelalterlichen bedeutet. In marxistischer Begrifflichkeit waren beide Perioden fest verklammert: Luther stand – allerdings neben Müntzer – für die »frühbürgerliche« und Goethe für die »bürgerliche« Revolution.

    Für diese Umbruchsphase hin zur Neuzeit seien nur einige Ereignisse illustrierend genannt und im übrigen auf Schillings 1517 – Weltgeschichte eines Jahres verwiesen: Die Kugelgestalt der Erde wird in den frühen 1490er-Jahren in Martin Behaims ›Erdapfel‹ abgebildet, gedanklich ermöglicht sie Kolumbus seine als Seeweg nach Indien gedachte Entdeckung Amerikas, die die Zeitgenossen unter all den vielen Entdeckungen dieser Zeit anfangs kaum zu würdigen wissen; sozusagen täglich werden neue Länder, Inseln, Seewege und -straßen entdeckt. Bewiesen wird die Kugelgestalt der Erde endgültig durch die Erdumseglung Magellans und seiner Mannschaft 1519–1522, die zeitlich fast exakt mit der Hochzeit von Luthers Wirken zusammenfällt. Kopernikus arbeitet parallel zu Luthers Auftreten sein heliozentrisches Weltbild aus, das dem späten Luther, als er davon hört, allerdings nicht einleuchten will.

    Ähnlich radikal wie das Bild von unserer physischen Welt ändert sich das von der geistigen: Ihre Wurzeln hat die Vorstellung von der Renaissance, der ›Wiedergeburt‹, in der Geistesgeschichte; für ihre literarische und wissenschaftliche Ausprägung hat sich der Name ›Humanismus‹ eingebürgert: Im 15. Jahrhundert kommt es, von Italien ausgehend, zu einer Wiedergeburt antiken Denkens und Dichtens, das der mittelalterlichen Überlieferung diametral entgegengesetzt ist: Schätzte man in dieser kirchlich und christlich geprägten Phase vor allem die Autoren und Motive, die im Wege einer natürlichen Offenbarung christliche Wahrheiten zu verkünden schienen, so wird jetzt gerade das Vorchristliche betont, das als etwas spezifisch Menschliches, eben ›Humanistisches‹ angesehen wurde. Zunächst geschieht dies in der lateinisch-römischen, ab 1453 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und dem damit verbundenen Exodus griechischer Gelehrter in den Westen auch in der griechischen Form.

    Lateinische, dann griechische, später hebräische Studien drangen ins Universitätsstudium ein. Merkmal des humanistischen Gelehrten war geradezu die Abwendung vom mittelalterlichen Latein als der Fachsprache der Theologen und die Hinwendung zum heidnischen Latein nach dem Vorbild Ciceros. ›Barbar‹ war auch ursprünglich ein Sprachbegriff – so nannten die Griechen alle nichtgriechischen Sprecher, die in ihren Ohren nur Blabla von sich gaben – und wird es jetzt wieder: Barbar ist, wer das ciceronische Latein nicht beherrscht. Luther beklagt sich 1523 in der Gegenschrift zu einem päpstlichen Schreiben des römischen Legaten Chieregati, wie leid es ihm tue, dessen »Küchenlatein« in gutes Deutsch übersetzt zu haben.

    Dichterisch wird die lateinische Reimdichtung des Mittelalters durch eine Wiederaufnahme der metrisch organisierten Lyrik nach dem Muster des Horaz abgelöst. Bis zur Wiederentdeckung ab 1770 in Vorromantik und Romantik gerät die gesamte mittelalterliche Literatur in Vergessenheit und wird nicht zur Traditionsbildung herangezogen. Zusammenfassen lässt sich all dies in der humanistischen Losung »Ad fontes!«, ›Zurück zu den Quellen‹ und weg von den verderbten und kontaminierten Wassern der jüngeren Vergangenheit.

    Unterstützt und ermöglicht wird das alles durch die Erfindung des Buchdrucks um 1450 – die neuen Ideen und die alten Autoren werden nicht länger, wie im Mittelalter, durch vereinzelte Abschriften konserviert, sondern durch das neue Medium massenhaft verbreitet – eine mediale Revolution, ähnlich umstürzend wie die Erfindung der Schrift tausende von Jahren zuvor oder die Digitalisierung unserer Welt heute.

    Für die Italiener bedeutete der Rückgriff auf die römische Antike zugleich einen Rückgriff auf die Glanzzeiten der eigenen Geschichte, eine Wiedergeburt des römischen republikanischen und imperialen Glanzes. Deutsche Humanisten beriefen sich hingegen auf Tacitus’ soeben wiederentdeckte Germania, die römischer Entartung Germaniens urwüchsige Sitte entgegensetzte. Der populärste deutsche Humanist, Ulrich von Hutten, ein Generationsgenosse Luthers war es, der den nur unter seinem römischen Namen Arminius bekannten Führer des Germanenaufstands gegen Rom kurz nach der Zeitenwende zum deutschnationalen Heros und Mythos machte. Die – frei erfundene – deutsche Namenform ›Hermann‹ wird erstmals im Kreis um Luther bezeugt. Für Hutten wie Luther war er der Ur-Held einer frühen Los-von-Rom-Bewegung.

    Während so die italienischen Humanisten das alte Römische Reich ebenso wie dessen Sprache wiederherstellen und von der Fremdherrschaft und den Einflüssen der Barbaren befreien wollten, gehen ihre deutschen Nachfolger und Mitstreiter davon aus, dass der Purpur der römischen Imperatoren längst auf die Schultern der deutschen Kaiser gewandert sei und das reinere Deutschland die Nachfolge des entarteten Italiens angetreten habe.

    Das hat im Denken der Humanisten einen uns im antikisierenden Kontext eigentümlich anmutenden nationalen Zug zur Folge, der durchaus der zeitgenössischen Wirklichkeit entspricht: Die übernationalen Einheiten ›Römisches Reich deutscher Nation‹ wie ›Katholische‹ – d. h. allumfassende – Kirche geraten in Auflösung; in Spanien, Portugal, England und Frankreich beginnen sich moderne Nationalstaaten zu bilden, die sogar Formen nationaler Kirchen anstreben: In England setzt sich Heinrichs VIII. Anglikanismus durch, während in Frankreich vergleichbare gallikanische Bestrebungen scheitern. In Deutschland ergibt dieser Prozess einen Wettlauf zwischen dem Reich und seinen Territorien, vor allem den Kurfürstentümern, um die moderne Staatlichkeit, den die Länder gewinnen und das Reich verliert und in dem die Konfession der jeweiligen Territorien eine wichtige Rolle spielt – in der Lutherzeit wird die Grundlage zur deutschen Zersplitterung gelegt, die formal erst 1871 überwunden wird, aber noch heute nachwirkt.

    Ähnliche Umwälzungen vollziehen sich in den Volkswirtschaften – das moderne Bankenwesen entsteht ebenso wie Fern- und Überseehandel, durchaus frühe Formen der Globalisierung, für die zur Illustration der Name von Luthers Zeitgenossen, der Fugger, stehen möge. Die sind auch im durch neue Techniken aufblühenden Bergbau finanziell engagiert, der in Luthers Leben eine Rolle spielen wird. Auch für die Ökonomie entwickelt sich als Humanismus der Praxis eine neue Software: Adam Rieses – richtiger wohl: Ries’ – Rechenbücher, die das Rechnen mit arabischen Zahlen popularisieren und dessen Beherrschung für die neu entstehenden Berufe in Handel und Technik allgemein machen, erscheinen fast exakt parallel und in ähnlich hohen Auflagen wie Luthers reformatorische Schriften.

    Das Lebensgefühl der Generation, die bewusst diese Zeitenwende um die Jahrtausendmitte miterlebt und mitgestaltet, lässt sich nicht besser zusammenfassen als im berühmten Ausruf Ulrich von Huttens in seinem Brief an Willibald Pirkheimer, einen anderen führenden Humanisten, vom 25. Oktober 1518: »O saeculum, o litterae! Iuvat vivere […] Vigent studia, florent ingenia. Heus tu, accipe laqueum, barbaries, exilium prospice!«, ›O Jahrhundert, o Wissenschaften, es ist eine Lust zu leben […] Die Studien stehen in höchstem Ansehen, die Geister blühen auf! Umgürte dich mit einem Strick, Barbarei, und mache Dich aufs Exil gefaßt!«

    Die Person Martin Luther

    In diese ungeheure Aufbruchsstimmung lässt sich Luthers Leben und Wirken bruchlos einordnen; das mit seinem Namen am stärksten verbundene Stichwort »Reformation« ist geradezu das zentrale Schlagwort für alle aus den Bemühungen um »Wiedergeburt« oder auch »Neugeburt« zu ziehenden praktischen Konsequenzen in Wissenschaft, Kirche und Staat, die im Aufstand der Reichsritter unter Franz von Sickingen und in den verschiedenen Bauernaufständen vor und nach 1500 ihren handgreiflichen Ausdruck finden.

    Martin Luther wird am 10. November 1483 als Sohn eines im aufblühenden Bergbau tätigen Knappen und späteren Unternehmers in Eisleben in Thüringen geboren und am Tag darauf auf den Namen des Tagesheiligen getauft. Die Familie zieht schon ein Jahr später nach Mansfeld um, wo Hans Luder bereits als Hüttenmeister genannt wird. Insgesamt sprechen die Zeugnisse bei allem Auf und Ab, das für einen selfmade-Unternehmer bis heute kennzeichnend ist, dafür, dass der vom Hoferbe ausgeschlossene Bauernsohn es im Leben durch harte Arbeit und geschickte Investitionen zu Wohlstand gebracht hat. Vielleicht war ihm dabei, wie Luthers Biograph Heinz Schilling vermutet, ein Startkapital vom Familienhof behilflich. Sein Aufstieg ermöglichte ihm auch die Einheirat in eine ratsfähige Bürgerfamilie in Eisenach, die das junge Paar ebenfalls fördern kann – ein Schwager Hans Luders ist als Bergrat in führender Stellung im Mansfelder Bergbau tätig.

    Luther hat selbst, etwa in seinen Tischreden, die Herkunft seiner Familie von einem alteingesessenen Bauernhof nie verleugnet. Wieso kann man aber wegen eines Vollbauern als Großvater den Reformator mit Nietzsche ständig »Luther, der Bauer« nennen, wie es im 19. und frühen 20. Jahrhundert gang und gäbe war, mit Stefan Zweig vom »Bergmannssohn und Bauernnachfahr« sprechen, »von diesem stämmigen, grobfleischigen, hartknochigen Erdenkloß Luther« oder ihn gar, wie sein nachgeborener Kollege Karl Barth es getan hat, als »ein gescheiter Bauer, möchte man sagen« titulieren? Welcher Bürger, Gelehrte oder Geistliche, der nicht dem städtischen Patriziat entstammte, hatte im späten Mittelalter nicht irgendwelche bäuerlichen Vorfahren? Das Bild vom ›Bauern Luther‹ erinnert doch stark an Bismarcks Einschätzung Goethes: Als er bei einem Tischgespräch in seinem Mitarbeiterkreis gefragt wurde, ob Goethes Großvater denn wirklich Schneider gewesen sei, antwortete er, dass er das nicht wisse. »Aber jedenfalls hat der Kerl eine Schneiderseele gehabt. Wie sonst hätte er dichten können ›Selig, wer sich vor der Welt ohne Hass verschließt …‹? Hass und Liebe sind doch die Triebfedern jeglichen Handelns.«

    Vater Luders wichtigste Investition tätigt er jedenfalls mit der bestmöglichen Ausbildung seines ältesten Sohnes. Die Einkünfte des Vaters erlauben es der Familie, Martin in Mansfeld auf die Lateinschule zu schicken, die unerlässlichste Voraussetzung für einen damaligen Berufserfolg als Intellektueller: Martin Luther lernt so nach dem Dialekt des Elternhauses als erste Sprache Latein. Zeitlebens wird es ihm in anspruchsvolleren, beispielsweise theologischen Kontexten leichter fallen, sich lateinisch auszudrücken als deutsch; es ist nicht seine geringste Leistung, im lebenslangen Bemühen die deutsche Sprache auch für komplexere geistige Themen geschmeidig gemacht zu haben. Die von Luther herausgegebene Schrift eines anonymen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert, Eyn deutsch Theologia, hat ihren Notnamen ja nicht daher, dass Luther in ihr eine spezifisch ›deutsche‹ Theologie begründet sah, wie man sie vergleichbar in der NS-Zeit mit der berüchtigten ›Deutschen Physik‹ konstruieren wollte, sondern von der außergewöhnlichen Tatsache her, dass sie auf Deutsch abgefasst war.

    Weiterführende Schulen besucht Luther in Magdeburg und Eisenach, und 1501 beginnt er mit dem damaligen Grundstudium der Septem artes liberales, der sieben Freien Künste, an der Universität Erfurt, wo auch Vertreter des Humanismus lehren: Im sogenannten Trivium erwirbt der Student in Grammatik, Rhetorik und Dialektik (d. h. Philosophie) sprachliche und logische Fähigkeiten, im sogenannten Quadrivium lernt er die auf der Mathematik basierenden ›Künste‹ der Arithmetik, der Geometrie, der Astronomie und der Musik, die damalige Grundlage für jedes weitere Fachstudium. Zeit seines Lebens wird die Musik, verstanden als ars oder techne, d. h. als Verbindung von Theorie und manueller Fertigkeit, bei Luther das Lautenspiel, für ihn von großer Bedeutung sein. Luther wird 1502 Baccalaureus und Anfang 1505 Magister artium; anschließend beginnt er, dem Wunsch des Vaters entsprechend, in Erfurt ein Jurastudium, die prestigeträchtigste Wahl für eine zukünftige erfolgreiche Berufstätigkeit in einer Stadt, bei Hofe oder im Reich.

    In diesen Grundzügen verlaufen Luthers und Goethes Werdegang parallel, nur erstreckt er sich bei Goethe über drei Generationen – hier ist es der Großvater, der als Schneidermeister und durch eine reiche Heirat mit einer Hotelierswitwe ein Vermögen erwirbt und seinen Sohn, Goethes Vater Johann Caspar, Jura studieren lässt. Der zieht es jedoch vor, als Dr. iur. und mit dem Ehrentitel eines Kaiserlichen Rats hinreichend distinguiert, um in Frankfurts höchste Bürgerkreise einzuheiraten, als Privatmann zu leben. Statt ein Amt anzustreben verwaltet er sein ererbtes Vermögen, lebt seine wissenschaftlichen und sammlerischen Neigungen und steckt sehr viel Zeit und Kraft in die Erziehung seiner beiden überlebenden Kinder Wolfgang und Cornelia. Natürlich lenkt er auch seinen Sohn mit sanftem Druck zum Jurastudium hin – für beide Söhne, Martin Luther wie Hans Goethe, der einzig verlässliche Weg, als Bürgerliche in einer Standesgesellschaft, der beide um 1500 wie um 1750 angehören, zu hohen und höchsten Stellen zu gelangen. Goethe gelingt das ja auch in der Tat – zwar ist er als Dichter dem zukünftigen Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach aufgefallen, aber dessen äußerst erfolgreicher Minister wird er als promovierter Jurist mit dem Fachgebiet Staatsrecht.

    Bei Martin Luther sollte der Weg zu höchstem Ruhm ganz anders verlaufen. Unter unmittelbar erfahrener Todesnähe in einem schweren Gewitter, bei dem sein Gefährte neben ihm vom Blitz erschlagen wird, gelobt der 22-Jährige, Mönch zu werden – sicherlich sind dem schon Krisen und existentielle Nöte um den rechten Weg zur ewigen Seligkeit vorausgegangen. Diese alle Pläne umstürzende Berufung in den geistlichen Stand ist ein schwerer Schlag für die Aufstiegshoffnungen, die der Vater, selbst Analphabet, für seinen Sohn hegte und in die er so viel investiert hatte. Nur schwer ist ihm die erforderliche Zustimmung abzuringen.

    Hier wird zum ersten Male der Zug deutlich, der Luther letztlich in seine welthistorische Bedeutung hineinwachsen lassen wird: sein Glaubensernst, die existentielle Radikalität, mit der er sich den Fragen nach Sünde und Gnade, Hölle und Himmel, Verdammnis und Erlösung stellt. Die Vorstellung, plötzlich und unvorbereitet vor Gottes Richterstuhl treten und ein Urteil über sein ewiges Schicksal entgegennehmen zu müssen, hatte für ihn zeitlebens etwas zutiefst Erschreckendes. Um der Gnade Gottes für sein Schicksal in Ewigkeit möglichst sicher zu sein, wählte er den schwierigsten und sichersten Weg, der damals bekannt war, ein ganz und gar geistliches Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam in einem als besonders streng geltenden Bettelorden, einem Orden also, der, anders als etwa die Benediktiner, selbst besitzlos ist. Und Luther nimmt dieses Leben sehr, geradezu skrupulös ernst. Im Rückblick sagte er, wenn jemals jemand durch »Möncherei« in den Himmel gekommen wäre, dann am ehesten noch er – ein so guter Mönch sei er gewesen.

    Alle uns zugänglichen Zeugnisse bestätigen das; für die katholische Polemik vom »von seiner Geilheit umgetriebenen Luther«, wie sie bis hinein ins 20. Jahrhundert gang und gäbe war, und die Nietzsche dann aufgriff und an Thomas Mann weiterreichte, bei dem es dann hieß, Luther sei zwar »Mönch, aber ein unmöglicher Mönch« gewesen, den sein Sexualtrieb zur Reformation verleitet habe, gibt es nicht den geringsten Beleg. Luthers vorbildliche Mönchszeit wie seine radikale Reformation entspringen derselben Wurzel – Luthers im Wortsinne tödlichem Glaubensernst, der angesichts der Ewigkeit keine Kompromisse kannte. Für zu Ausgleich und laissez-faire geneigte Naturen von Erasmus über Goethe bis zu den liberalen Theologen um 1900 erschien dies als abstoßender Fanatismus. Goethe hat in einem Distichon das »Luthertum« geradezu mit der ihm verhassten Französischen Revolution verglichen – wie sie habe es die »ruhige Bildung zurück« gedrängt. Als positives Gegenbild wird meist Luthers berühmtester Kollege und Zeitgenosse, Erasmus von Rotterdam, genannt, ein Ireniker, ein Mann des religiösen Ausgleichs, des Geltenlassens, der Balance, der Luthers Weg ein Stück weit guthieß, aber seinen Bruch mit der Kirche nie billigen konnte, oder man führt gar, wie Nietzsche und mit ihm Thomas Mann, den deren Meinung nach so viel fortschrittlicheren und kunstfreundlicheren Kulturkatholizismus der italienischen Renaissancepäpste gegen Luther ins Feld.

    Natürlich ist es stark standpunktabhängig, ob man religiöse Indifferenz um 1500 als fortschrittlich ansehen kann, aber abgesehen davon verläuft die Frontlinie in der Zeit nicht zwischen dem rückschrittlichen Fanatiker Luther und dem progressiven Liberalen Erasmus oder den die Kunst liebenden und die Verfeinerung ihres Lebensstil kultivierenden Renaissancekardinälen. Sie verläuft zwischen Luthers bohrendem Fragen einerseits und der – wortwörtlich zu nehmenden – Höllenangst von Millionen Gläubigen andererseits, die ihr Heil der damaligen christlichen Lehre gemäß der Institution ›Kirche‹ anvertrauten und bereit waren, hierfür ihr Bestes und Kostbarstes zu geben. Um das ewige Heil sicherzustellen, flossen alles in allem gewaltige Summen, auch von den Ärmsten der Armen, an die Kirche, oder man setzte sogar, wie Luther und zahllose andere Frauen und Männer das taten, als Nonnen und Mönche das irdisches Leben ganz an das Erringen des himmlischen. Nicht zufällig war es die stark finanzielle Frage des Ablasses, mit dem man zeitliche Sündenstrafen abgelten, in der Meinung der Gläubigen aber durch pekuniäre Opfer Höllenstrafen vermeiden konnte, die zum äußeren Anlass der Reformation wurde: Die Summen, die dadurch nach Rom flossen und dort die Basis des von Stefan Zweig und Thomas Mann so bewunderten Kunstsinns römischer Renaissancekardinäle und ihrer Antiken- und Kunstsammlungen bildeten, bedeuteten oftmals große persönliche Opfer für den einzelnen Gläubigen und in ihrer Gesamtheit einen volkswirtschaftlich bedenklichen Kapitalabfluss ins Ausland.

    War Luther mit dem Problem des rechten Wandels vor Gott 1505 in seiner privaten Existenz betroffen, so schon bald in seiner Doppelfunktion als Seelsorger und Lehrer der Heiligen Schrift, der die Verantwortung für das ewige Geschick unzähliger Seelen trug. Was aber Ewigkeit bis weit ins 18. Jahrhundert bedeutete, dafür ist uns sogar das Gefühl verloren gegangen. Damals lehrte man es so: An einem Berg aus Diamant, größer als jeder Berg auf Erden, wetzt alle tausend Jahre ein Vögelchen seinen Schnabel – und wenn der Berg auf diese Weise abgewetzt sein wird, ist noch keine Sekunde der Ewigkeit vergangen. Ob man diese Unendlichkeit unter unvorstellbaren Qualen oder in unermesslicher Seligkeit verbringen wollte, war wahrlich keine belanglose Frage. Deshalb sieht Luther in Erasmus’ ›toleranter‹ Indifferenz in der Frage des Freien Willens gegenüber Gott einen ganz von ferne heraufziehenden Atheismus und nennt den Gegner »prorsus Atheos« – ›nachgerade einen Gottesleugner‹, um 1525 noch eine ungeheuerliche Vorstellung.

    Am 17. Juli 1505 tritt Luther in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein, des »humanistischen Bettelordens par excellence«, wie Kaspar Elm ihn in seiner Untersuchung zu den »humanistischen Studien in den Bettelorden« genannt hat, und macht nun innerhalb von Kloster und Kirche unglaublich rasch die Karriere, die Hans Luder sich für seinen Sohn in der Welt erhofft hatte. Martin wird 1507 zum Priester geweiht und feiert am 2. Mai seine Primiz, studiert danach in Erfurt und später daneben auch an der soeben neu gegründeten Universität Wittenberg weiterhin Theologie, doziert selbst und wird 1509 Baccalaureus.

    Der Humanist Luther

    Erfurt ist auch eine Pflegestätte des Humanismus, in dessen Geist Luther schon die Sieben freien Künste studiert hatte. Ins Kloster nimmt er die Werke von Plautus und Vergil mit und hört weiterhin neben den theologischen Studien Vorlesungen zur antiken Literatur. Noch in seiner letzten Notiz, die man nach seinem Tode findet, wird er das Studium der Bibel vor den weiten Horizont der Studien zur antiken Literatur stellen, mit denen er von Jugend an vertraut war. In seiner durch und durch lateinischen Ausbildung hatte er nicht nur die antike Rhetorik – Luther folgte eher Quintilian als Cicero – und deren Schwester, die Poetik, studiert, sondern auch die Fähigkeit erworben, lateinisch zu dichten, und zwar so, dass seine lateinischen Verse besser und eleganter sind, als seine weitaus bekannteren deutschen Verse meist zu sein pflegen. Für die lateinische Lyrik der Humanisten gab es, seit Horaz nach seiner Selbsteinschätzung »als erster aus bescheidenen Anfängen die griechische Ode ›ad Italos modos‹ herangeführt hatte«, eine in Theorie und Praxis ausgefeilte und geschliffene Ars poetica, wie sie erst Martin Opitz 1624, hundert Jahre nach Luthers dichterischen Anfängen, in seinem Buch von der deutschen Poeterey für das Deutsche vorlegen würde, in der er den bis heute geltenden Wohlklang des geregelt alternierenden Verses erst etablierte. Wo Luther eine seinen deutschen Versen unterlegte Melodie beim Dichten rhythmisch nicht half, kam es notgedrungen zum nicht zufällig so genannten ›Knittelvers‹ mit seiner »Senkungsfreiheit« – d. h., die Verse holperten, da man beliebig viele Senkungen zwischen die Hebungen packen durfte. Goethe sollte ihn durch seinen Faust. Erster Teil, etwa in Fausts Eingangsmonolog, als Sprachkostüm der Lutherzeit unsterblich machen – für unsere Ohren wohlklingend ist er nicht.

    Luthers lateinische Gedichte, die durch das Verdienst Udo Frings’ 1983 als schmales Heftchen der Schriftenreihe Orientierung in kommentierter Ausgabe gesammelt publiziert wurden, sind kleine Gelegenheitsgedichte im besten Sinne, zu denen die occasio ihn trieb oder reizte – als Begleitung zum Geschenk für einen Freund, als Grabschrift für seine Tochter Magdalene, als lateinische Psalmennachdichtung anstelle einer deutschen Übersetzung oder eine Parodie des Vergil’schen Aeneis-Prologs als Attacke auf seinen Gegner Cochlaeus. Seinem Freund Justus Jonas schenkt Luther ein Trinkglas, eventuell mit beider Bildnis geschmückt, mit einem Distichon als geistreicher Widmung:

    Dat vitrum vitro lonae vitrum ipse Lutherus,

    se similem ut fragili noscat uterque vitro.

    Luther, selbst ein Glas, schenkt Jonas,

    der selbst auch ein Glas ist, ein Glas,

    auf dass beide erkennen mögen,

    dass sie selbst einem zerbrechlichen Glase gleichen.

    Und für Töchterchen Magdalene, das am 20. September 1542 13-jährig gestorben war, entwirft er diese Grabschrift als Doppeldistichon:

    Dormio cum sanctis hic Magdalena Lutheri

    Filia, et hoc strato tecta quiesco meo.

    Filia mortis eram, peccati semine nata,

    Sanguine sed vivo, Christe, redempta tuo.

    Hier schlafe ich mit den Heiligen, Magdalena, Luthers Tochter,

    und ruhe, bedeckt von diesem meinem Stein.

    lch war eine Tochter des Todes, geboren aus dem Samen der Sünde,

    aber erlöst durch dein Blut, Christus, lebe ich.

    Die immer wieder – allen voran von Thomas Mann: Luther war »dem Humanismus seiner Tage, auch dem deutschen, vollkommen fremd« – kolportierte Ferne und Fremdheit Luthers zum Humanismus entbehrt jeder Grundlage. Sie könnte eventuell aus einem Missverständnis von Luthers Frontstellung gegen das optimistische Menschenbild mancher Humanisten und deren neuheidnische Züge, die etwa den autonomen Menschen ohne jenseitige Bezüge in den Mittelpunkt stellten oder sich mokierten, dass der Heilige Geist in einigen Schriften des Neuen Testaments ein so minderwertiges Griechisch geschrieben habe, entstanden sein. Auch erwartete Luther das Heil nicht formalistisch von einer bloßen Renaissance der antiken Sprach- und Denkkultur, sondern von Gott.

    Versteht man aber unter Humanismus die methodisch geleitete Pflege der antiken Studien und der griechischen und lateinischen Autoren, die sprachliche Ausrichtung des eigenen Schreibens und Redens an antiker Rhetorik und antikem Stil – Luther war Quintilian-Adept – und das Bewusstsein, Teil eines Europa umspannenden Netzwerks gleich Strebender zu sein, so war Luther zweifellos Humanist. Für Goethe etwa war dies überhaupt keine Frage. In einem für den historischen Teil der Farbenlehre bestimmten Abschnitt zum Naturphilosophen Bernardino Telesio nennt Goethe Martin Luther unter den »guten Köpfen«, denen »das Studium der Griechen und Römer freiere

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1