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Alle Geschichten, die ich kenne: Roman
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eBook119 Seiten1 Stunde

Alle Geschichten, die ich kenne: Roman

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Über dieses E-Book

Es beginnt in Zürich, in einer chemischen Reinigung. Die neue Besitzerin scheint vom Pech verfolgt. Um sie zu retten, bricht die Ich-Erzählerin auf zu einer Reise in ihr Heimatland: nach Griechenland.
Sie setzt alle Hoffnung auf Tante Irini, eine begnadete Schneiderin, die in einem geheimnisvollen Bund mit dem Schicksal steht.

"Als Road-Movie getarnt, führt uns Gioulamis Prosadebüt in einer kühnen Mischung aus Natalia Ginzburgs `Familienlexikon`und Bora Cosics `Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution`in das alte Herz griechischer Familiengeschichten."
(Friederike Kretzen)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Jan. 2015
ISBN9783863370855
Alle Geschichten, die ich kenne: Roman

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    Buchvorschau

    Alle Geschichten, die ich kenne - Dagny Gioulami

    wiegt.«

    1

    Heute habe ich Kleider zur chemischen Reinigung in der Motorenstraße gebracht. Das Geschäft sieht jetzt anders aus, der Name Mutlu steht nicht mehr auf dem Schild über dem Eingang. Im Fenster hängt ein Plakat: Express-Schneiderei. Ich betrete die Reinigung, die Klingel ertönt. Hinter der Theke steht neu ein Tisch mit drei Nähmaschinen. Nach einer Weile kommt eine junge Frau aus dem Hinterzimmer.

    »Ist Herr Mutlu nicht mehr hier?«, frage ich.

    »Herr Mutlu ist nicht mehr hier«, antwortet sie. »Er hat das Geschäft verkauft. Er hat jetzt ein Geschäft in Lenzburg, seit fünf, sechs Monaten.«

    Ich zeige ihr Kleid, Rock, Pullover. Ich zeige ihr die Flecken.

    »Ich werde versuchen, die Flecken zu entfernen«, sagt sie. »Ich kann nicht im Voraus sagen, ob es gelingt. Ich habe für jedes Material ein spezielles Mittel. Manche Flecken gehen raus, manche nicht. Einmal wollte eine Kundin einen Fleck unbedingt entfernt haben; ich habe sie gewarnt, die Kundin hat darauf bestanden. Der Fleck ist rausgegangen, aber an seiner Stelle gibt es jetzt einen großen weißen Fleck.«

    »Sind Sie die Chefin?«

    »Ja, ich bin die Chefin. Ich bin Schneiderin, ich nähe Hochzeitskleider, das ist mein Beruf. Ich war vier Jahre bei Clean-Express angestellt. Jetzt habe ich mein eigenes Geschäft.«

    Bei Herrn Mutlu hingen Collagen und Postkarten von zufriedenen Kunden an den Wänden: Mutlu – simply the best. Jetzt sind die Wände kahl. Herr Mutlu hatte das Geschäft dreiundzwanzig Jahre lang, er war ein fantastischer Wäscher.

    Einmal, als ich bei Frau Mutlu die Kleider abgab, trat eine Frau ins Geschäft, die Frau Mutlu aus der Hand lesen wollte. Frau Mutlu schickte sie weg. Sie sagte: »Ich habe Angst vor ihr. Sie hat mir schon einmal aus der Hand gelesen. Sie hat mir gesagt, ich hätte zwei Kinder und sei unsicher, ob ich ein drittes wolle. Wie konnte sie das wissen?«

    Bei Herrn Mutlu standen Gummibäume in den Fensternischen, jetzt sind die Nischen leer.

    »Läuft es gut?«

    Die junge Frau sagt: »Jetzt läuft es gut. Am Anfang war ich traurig, jetzt ist es besser. Ich habe das Geschäft gekauft, weil Herr Mutlu mir seine Kunden mitverkauft hat. Hunderttausend für das Geschäft und die Maschinen, fünfzigtausend für die Kundschaft. Im ersten Monat kamen die Kunden, dann kamen sie nicht mehr. Ich habe einen Kunden gefragt, ob er unzufrieden sei. Nein, hat er gesagt, Herr Mutlu habe ihn angerufen und angeboten, die Wäsche bei ihm zu Hause abzuholen und gereinigt zurückzubringen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich das Geschäft nicht gekauft. Die Hälfte der Kunden hat Herr Mutlu mitgenommen. Ich habe einen Kredit aufgenommen, fünfunddreißigtausend Franken.«

    Die Tür geht auf, ein Mann mit einer Plastiktüte kommt herein. Ein Kunde!, denke ich. Die Klingel ertönt und hört nicht auf zu läuten, obwohl der Mann schon drinnen und die Türe zugefallen ist. Der Mann lächelt und streckt mir seine Hand hin. Er sagt: »Ich muss die Glocke reparieren.«

    »Mein Verlobter«, sagt die junge Frau.

    »Ich wünsche Ihnen Glück«, sage ich und verlasse den Laden.

    2

    Ich erhalte einen Anruf von Nadja, einer Bekannten aus dem Nähkurs.

    »Komm heute in der Boutique vorbei, ich bin allein, ich kann dir Prozente geben.«

    Ich fahre in die Innenstadt und besuche Nadja in der Boutique. Sie sitzt auf einem Hocker an einem winzigen Tisch. Das Geschäft ist so klein, dass man sich kaum darin umdrehen kann. Ich schaue mir die Kleider an, französische und englische Kleider aus luftigen Stoffen, mit Blumen oder Tieren bedruckt.

    »Ich kann dir zehn Prozent geben, auf manche Teile zwanzig. Probier das Kleid mit den Hasen an«, sagt Nadja.

    »Dein Mann ist doch Anwalt«, sage ich. Ich erzähle Nadja von der jungen Frau aus der chemischen Reinigung.

    »Täuschung. Juristisch heißt es Täuschung. Schick sie in die kostenlose Rechtsberatung an der Stauffacherstraße«, sagt Nadja.

    »Sie hat eine böse Schicksalsfrau, würde meine Tante sagen. Meine Tante erzählte mir immer von den Schicksalsfrauen, den Moiren.«

    »Erzähl mir auch von ihnen. Ich bügle dieses Kleid hier auf, und du erzählst mir von den Schicksalsfrauen.«

    »Es war einmal eine Königin, die hatte drei Töchter, die sie nicht verheiraten konnte. Die Königin grämte sich: Die Königstöchter waren schön, sie waren klug, und doch fanden sich keine Freier. Eines Tages kam eine Bettlerin vorbei und bemerkte den Kummer der Königin. Sie sprach zu ihr: ,Eine deiner Töchter hat ein schlimmes Schicksal, und das steht auch dem Schicksal der anderen im Weg. Sage mir, wie sie schlafen, dann kann ich dir sagen, welche es ist.‹

    In der Nacht beobachtete die Königin ihre Töchter im Schlaf und sprach am Morgen zur Bettlerin: ›Die erste legt die Hände über den Kopf, die zweite gekreuzt über die Brust und die dritte zwischen die Knie.‹

    Die Bettlerin sagte: ›Dann, Frau Königin, ist es die dritte.‹

    Da trat die dritte Tochter hervor und sagte: ›Mutter, ich habe alles gehört. Gib mir meine Mitgift in Dukaten, nähe sie in den Saum meines Rockes und lass mich ziehen.‹

    Sie kleidete sich als Nonne und nahm Abschied von ihrer Mutter. Als sie durch das Tor des Schlosses ging, kamen zwei Freier für ihre Schwestern den Weg hinauf.

    Die unglückliche Königstochter lief und lief, bis sie am Abend in ein Dorf gelangte. Sie klopfte an die Tür eines Tuchhändlers und bat ihn, sie die Nacht in seinem Keller verbringen zu lassen. In der Nacht aber kam ihre Schicksalsfrau, riss die Stoffe, die dort aufbewahrt wurden, in Fetzen und brachte alles durcheinander. Am nächsten Morgen sah der Händler das Unheil und klagte: ›Oh, Frau Nonne! Was hast du mir Schlimmes angetan!‹ Die Königstochter öffnete ihren Rocksaum, gab dem Händler Dukaten und machte sich wieder auf den Weg.

    Am Abend blieb sie im Haus eines Glasbläsers. Dort wieder dasselbe. Nachts kam ihre Moira und ließ nichts heil. Als der Händler am Morgen die Katastrophe sah, fing er an zu schreien und zu klagen und gab erst Ruhe, als die Königstochter ihm die Hände mit Dukaten füllte.«

    Die Ladentür geht auf, eine hochgewachsene blonde Frau tritt in die Boutique.

    Sie sagt: »I would like to buy the rabbitdress. I tried it on yesterday.«

    Nadja sagt: »It’s sold, I’m sorry.«

    »Oh. Okay. Well.« Sie bleibt einen Moment stehen und sieht sich um. Dann sagt sie: »Bye-bye, then«, und verlässt den Laden.

    »Bye-bye«, sagt Nadja. Sie dreht sich zu mir und fragt: »Und was geschah dann?«

    »Die Unglückliche zog weiter, bis sie zum Königsschloss eines fernen Landes kam. Dort bat sie bei der Königin um Arbeit. Die Königin, eine kluge Frau, merkte gleich, dass sich unter der Kutte eine Herrentochter verbarg, und fragte, ob sie sich auf die Perlenstickerei verstünde. Sie bejahte, und so behielt die Königin

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