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Kolja: Geschichten aus Israel
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eBook281 Seiten9 Stunden

Kolja: Geschichten aus Israel

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Über dieses E-Book

Was bedeutet es für den aus Italien eingewanderten Alessandro, dass sich die jüdische Abstammung seiner Mutter nicht klären lässt? Warum ändert der Krieg Michaels Verhältnis zu Henry James grundlegend? Und warum ist in der Wüste mitten im Sommer Weihnachten? Und Kolja? Der stammt eigentlich aus Russland und fällt im Kampf für seine neue Heimat. Was passiert jetzt mit seinem Leichnam?

Chaim Noll erzählt mitreißend und in schöner Sprache kleine Begebenheiten und große Lebensgeschichten. In seinen Erzählungen entwirft er ein Portrait der heutigen israelischen Gesellschaft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Mai 2014
ISBN9783957320018
Kolja: Geschichten aus Israel
Autor

Chaim Noll

Chaim Noll, ehemals Hans Noll, geboren 1954 in Berlin als Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, studierte Mathematik an den Universitäten Jena und Berlin sowie Kunst und Kunstgeschichte. 1980 verweigerte er den Wehrdienst, stellte 1983 einen Ausreise-Antrag und übersiedelte mit seiner Familie 1984 nach West-Berlin, später lebte er in Stuttgart. Er arbeitete von 1988 bis 1991 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin (Literatursoziologie), ging aber 1992 nach Rom, wo er bis 1995 freiberuflich tätig war. 1995 übersiedelte er mit seiner Familie nach Israel und seit 1997 lebt er in der Wüste Negev. Seitdem war er bis 2019 Writer in Residence und Dozent am Center for German Studies an der Ben Gurion University, Beer Sheva, Israel, und hatte Gastdozenturen an verschiedenen ausländischen Universitäten inne. Noll ist Autor zahlreicher Buch- und Medienveröffentlichungen.

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    Buchvorschau

    Kolja - Chaim Noll

    Kolja

    Nikolaj R., einundzwanzig, Sergeant in einer Elite-Einheit, fällt im Libanon. Er war erst wenige Jahre zuvor aus Russland eingewandert. Eine Tageszeitung macht Vater und Schwester ausfindig, die in einer notdürftig ausgebauten Garage in Tel Aviv leben. Bilder der ärmlichen Unterkunft zusammen mit der Geschichte von Koljas Leben und Tod auf einer Doppelseite. Am nächsten Tag berichtet die Zeitung, Kolja hätte sich, wenige Wochen bevor er fiel, um finanzielle Unterstützung an das Verteidigungsministerium gewandt – vergebens.

    Der Bericht löst eine Flut von Leserbriefen und landesweite Empörung aus. Eine andere Tageszeitung bringt in Erfahrung, dass Nikolajs christliche Mutter weiterhin in der Stadt Krasnodar in Russland lebt. Sie sei mit Koljas Einwanderung nach Israel nicht einverstanden gewesen und habe sich darüber mit ihrem jüdischen Ehemann zerstritten, der dem Sohn nach Israel gefolgt sei. Schlagzeile: »Ich hätte nicht erlauben dürfen, dass er dort hingeht!«

    Die Mutter verlangt Koljas Beerdigung in Russland. Überführung des in eine israelische Fahne gehüllten Sarges auf Kosten des Verteidigungsministeriums. Vor dem Abflug Trauerfeier in Tel Aviv, auf der Koljas ehemaliger Kommandeur erklärt: »Er wollte einer von uns sein«. Israelische Zeitungen kritisieren, dass auf der Trauerfeier Vertreter von Regierung und Armeeführung fehlen. Vater und Schwester kehren mit dem Sarg nach Russland zurück. Die Mutter in einer russischsprachigen Zeitung: »Was sollen sie dort ohne Kolja?«

    Am nächsten Tag Zeitungsfotos von Koljas Beerdigung auf dem Friedhof der russischen Stadt Krasnodar. Die Mutter hat die israelische Fahne vom Sarg entfernen lassen. Die Trauergemeinde steht zwischen christlichen Holzkreuzen, auch einige Offiziere der israelischen Armee sind auf den Bildern zu sehen, die den Sarg begleiten.

    Eine hebräische Tageszeitung enthüllt: Vater und Schwester lebten nur deshalb in Armut, weil sie die ihnen als Neueinwanderer zustehende staatliche Unterstützung an die Mutter nach Russland schickten, die dort von dem Geld ein Haus baut. Fotos dieses Hauses in den hebräischen Zeitungen. Fernsehberichte, tage­lange Empörung der israelischen Öffentlichkeit. Die russischsprachigen Zeitungen werfen den hebräischsprachigen vor, sie würden den Fall zu einer Kampagne gegen die russischen Einwanderer nutzen.

    Wenige Tage darauf fällt Koljas Freund Danny, ein in Israel geborener Soldat, im Libanon. Das Zusammentreffen der beiden Todesfälle erregt landesweite Teilnahme. Aus Russland telefoniert Koljas Vater mit Dannys Mutter in Haifa, das Gespräch wird am nächsten Tag an beiden Orten für Presse-Fotografen nachgestellt, die Fotos erscheinen in allen Zeitungen, hebräisch- wie russischsprachigen. Dannys Mutter bittet Koljas Familie, an Dannys Beerdigung teilzunehmen, da die beiden eng befreundet waren. Nach einigem Zögern ist Koljas Mutter bereit, mit Mann und Tochter nach Israel zu fliegen.

    Die Mutter wird am nächsten Tag auf dem Ben-Gurion-Flughafen wie ein Staatsgast empfangen. Koljas und Dannys Kameraden in Uniform als Ehrenspalier. Vertreter der Regierung, der Armeeführung, der Medien umringen die überraschte Frau. Fotos zeigen sie, gekleidet als russische Bäuerin, in Tränen. Fotos von ihrer Teilnahme an Dannys Beerdigung. Einige Tage später eine kleine Notiz: Mutter wünscht Rückführung von Koljas Leiche nach Israel, um ihn auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Jerusalem beisetzen zu lassen.

    Nächte mit Henry James

    Michaels Eltern, in der dritten Generation in England, erfolgreich im Immobilien-Geschäft, haben eine verzeihliche Schwäche. Seit sie bei verschiedenen Vermittlungen und Verkäufen die Bekanntschaft hochgeborener Personen gemacht haben, verehren und bewundern sie die englische Aristokratie. Sie träumen sogar davon, eines Tages selbst in diesen Stand erhoben zu werden. In England ist dergleichen denkbar, auch für Juden, wenn sie sehr reich sind und sich um das Gemeinwesen verdient gemacht haben. In der Synagoge, die Michaels Eltern am Shabat besuchen, gibt es eine Lady Pamela Fishman-Lubetzki, die Witwe des Industriellen Sir Moses Fishman, und die Vorstellung, eines Tages selbst einen derart aristokratischen Namen zu führen, scheint ihnen der Gipfel irdischer Erfüllung.

    Im Haus von Michaels Eltern finden sich ein paar Gebetbücher und Bibeln, sonst ist die Bibliothek durchweg britisch, mit verschiedenen Shakespeare-Ausgaben und viel Byron, Shelley, Keats und Wordsworth, Alexander Pope und Lord Tennyson, Jane Austen, Virginia Woolf und T. S. Eliot. Auf Anraten der Eltern begann Michael englische Literatur zu studieren, gleichzeitig mit Jurisprudenz, um einen guten Stil des Ausdrucks zu erwerben. In England komme es auf Sprache und Akzent eines Menschen an, erklärte der Vater, bei den ersten Worten, die jemand spricht, höre man heraus, welcher Gesellschaftsklasse er angehört.

    Nachdem Michael ein Jahr lang englische Literatur und Jura studiert und sich auf diese Weise für ein Leben in der Londoner City vorbereitet hatte, fuhr er mit einer Gruppe der Young United Synagogue nach Israel. Auch die anderen Familien in der Gemeinde schickten ihre Kinder auf diese Reise, der Rabbi, ein begeisterter Zionist, rief jedes Jahr dazu auf. Ein wenig war es wohl auch eine Frage des Geldes, eine Gelegenheit zu zeigen, dass man es hatte. Die Reise war teuer, sechs Wochen kreuz und quer durch das schwierige Land, von Naharia im Norden bis in die Wüste Negev im Süden. Michael war einer der Ältesten in der Gruppe und spielte eine gewisse Rolle während der Tour. Der junge Israeli mit Maschinenpistole, der sie überall begleitete, ein ehemaliger Korporal der Armee, freundete sich mit ihm an.

    Diese Freundschaft bedeutete Michael viel. Er hatte den jungen Israeli – mit Namen Lior – vom ersten Tag an bewundert. Lior war ungebildet und unerzogen für Londoner Verhältnisse, achtete wenig auf seine Kleidung, brüllte laut, wenn man hätte leise sprechen sollen, sein Englisch war schauderhaft. »Sorry, that my English is so lousy«, sagte er am ersten Tag zu Michael, aber er sah nicht aus, als ob es ihm viel ausmachte. Er war der Gruppe als Wächter zugeteilt, ein Ferien-Job, ehe er im Herbst auf die Universität in Haifa gehen wollte, um etwas Technisches zu studieren.

    Lior war unheimlich stark im Wegstecken, wie Michael fand, er wirkte fast unverwundbar. Nicht im körperlichen Sinn – er hatte eine Narbe am rechten Oberarm, gleich unter dem Schultermuskel, eine helle Kerbe in der braunen Haut, ein Streifschuss, wie er erklärte – aber in einem seelischen. Er war durch nichts zu entmutigen oder zu erschrecken. Immer wieder, bei den tausend Schwierigkeiten dieser Reise, wenn der englische Reiseleiter verzweifelte, fand Lior eine Lösung. Er war in Wirklichkeit der Boss und Michael sein Assistent. Er zeigte Michael, wie seine Maschinenpistole funktioniert, eine kleine Uzi. Mit einem solchen Freund konnte nichts schief gehen, fand Michael, mit so einem kam man überall durch.

    Michael lernte Liors Eltern und Geschwister kennen, man lud die englischen Jugendlichen zum Shabat-Essen in israelische Familien ein, auch das gehörte zum Programm der Tour. Lior hatte drei Schwestern, eine war nur wenig jünger als Michael, die beiden anderen sechzehn und vierzehn, und diese drei Mädchen – die ihm allesamt schön erschienen wie Königin Ester in der Brautnacht – benahmen sich nicht besser als ihr Bruder. Sie brüllten, gestikulierten wild, fielen den Eltern ins Wort und lachten so viel, wie Michael noch niemals Menschen hatte lachen sehen. Die Eltern kamen selten zu Wort. Sie saßen am Tisch und betrachteten ihre lauten Kinder mit verliebten Blicken. Die Familie war nicht religiös, man sprach am Shabat Kidush und Segen, aber dazu lief das Radio, klingelten Telefone, fast immer redete eins der Mädchen, Lior oder auch die Mutter in ihr Handy, ohne deswegen das Essen zu unterbrechen oder vom Tisch aufzustehen.

    Im nächsten Jahr kam Michael wieder, diesmal ohne Reisegruppe. Das Geld stammte teils von seiner Großmutter, teils hatte er selbst es verdient, worauf er sehr stolz war. Er verliebte sich in Liors neunzehnjährige Schwester in dem Augenblick, als sie ihn vom Flugplatz abholte, er verliebte sich hoffnungslos, ohne noch für irgendetwas anderes Augen zu haben, als sei er extra deswegen nach Israel geflogen, als hätte er den ganzen verregneten Londoner Winter auf diesen Augenblick gewartet. Sie war mit ihrem Bruder zum Flughafen gekommen, der zu diesem Zweck das väterliche Auto benutzen durfte. Die drei fuhren in sinkender Abendsonne auf einer Straße unter Palmen der Stadt entgegen, nie hatte Michael etwas Schöneres erlebt. Liors Schwester war nicht mehr, wie voriges Jahr am Familientisch, ein lauthals lachendes Mädchen, sie war eine junge Frau, wissend, erfahren und schön wie im Märchen. Sie diente seit einem halben Jahr bei der Armee.

    Es war eher ein Schreibtisch-Job, wie sie sagte. Sie saß im Oberkommando an einem Computer, aber sie trug die grüne Uniform, die knapp sitzende Hose, in der man ihre langen Beine sah und den süßen Hintern, und Michael konnte die Augen nicht von ihr lassen, von ihrem dunklen Gesicht, ihren glänzenden schwarzen Locken, ihren feinen, energischen Händen. Mit diesen Händen fuhr sie durch sein blondes Haar, wenn sie miteinander schliefen. Schonend wurden die Eltern ins Bild gesetzt. Die Großmutter schickte Geld, und im Herbst kehrte Michael nicht nach London zurück, sondern studierte in Tel Aviv.

    Im Frühjahr wurde er israelischer Staatsbürger. Im Herbst ging er zur Armee, inzwischen fast einundzwanzig, daher zogen sie ihn nur noch für ein Jahr. Im Sommer hatten die Eltern einen letzten Versuch unternommen, waren persönlich in Tel Aviv erschienen, um ihren Sohn zur Rückkehr zu bewegen. Sie waren jedoch dem Hausvorteil der künftigen Schwiegereltern unterlegen – inzwischen galt es als abgemacht, dass die jungen Leute heiraten sollten – und dem Starrsinn der englischen Großmutter, die ihrem Enkel weiter Geld schickte, obwohl sie von der Familie beschworen worden war, es nicht zu tun: man hatte gehört, dass solche Fälle von Ausreißertum fast immer an der Geldfrage scheiterten.

    Michael wurde nach Gaza kommandiert, als die zweite Intifada ausbrach. Er schlief abends beim Knattern der Kalaschnikows ein, mehrmals wurde seine Basis von Granatwerfern beschossen, er erlebte mit, wie ein Soldat, mit dem er im selben Zimmer schlief, einen Splitter in die Hüfte bekam und per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen wurde. Quittegelbes Licht beleuchtete die Szene: den Verletzten auf seiner Trage, das Blut auf dem Schotter des Fahrwegs, den Hubschrauber auf dem kleinen Landeplatz. Er lernte unter diesen Umständen schnell Hebräisch, sprach es, redete es mit den anderen mit, aber wenn es ans Lesen ging, blieb er beim Englischen. Er las viel in diesen Nächten, während draußen geschossen wurde, am liebsten die Penguin Classics oder Penguin Popular Poetry oder dergleichen, gute englische Literatur, die er von seinem Studium kannte und die immer eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

    In der Nacht, in der sein Zimmergenosse den Granatsplitter abbekam, las er Henry James. Dieser Schriftsteller hatte ihn schon an der Universität Tel Aviv beschäftigt, seine Professorin, eine Amerikanerin, arbeitete über ihn und wollte Michael gewinnen, seine Magisterarbeit über ihn zu schreiben. Er konnte nicht schlafen, niemand im Zimmer schlief, von draußen waren Schüsse zu hören, sie warteten auf Nachricht aus dem Krankenhaus. Er hatte sich auf dem grünen Armeeschlafsack ausgestreckt und las Henry James. Er las, wie der junge Paul Overt das Haus von Lady Watermouth betritt und hinter der Glastür einige Gentlemen auf dem Rasen sitzen sieht, unter alten Bäumen, in Gesprächen »gesellig und langsam, wie es angemessen war und natürlich an einem warmen Sonntag Morgen«, und wie der junge Paul sich in Marian Fancourt verliebt, wie er diesem tiefen Gefühl in langen Gesprächen mit seinem Freund, dem Schriftsteller Henry St. George, Ausdruck verleiht, und das Mädchen schließlich doch nicht heiratet, weil er sich im entscheidenden Moment nicht zum Handeln entschließen kann, weil er sich zu einem generellen Verzicht gegenüber dem Leben durchgerungen hat oder aus einem ähnlich hochherzigen Grund.

    Michael las diesmal ohne die sonstige Ruhe, er las, als warte er auf etwas, mit wachsender Nervosität. Auch die anderen Figuren bei Henry James waren verfeinert, von sicherer Kultur, gut gekleidet, dezent, von unnachahmlicher Zurückhaltung in ihren Dialogen. Es gab keinen quittegelb ausgeleuchteten Hof zwischen Militärbaracken, keine Einschläge von Granaten, kein Gebrüll. In einer anderen Geschichte ließ der junge Winterbourne das Mädchen Daisy, in das er sich verliebt hatte, mit einem italienischen Verehrer im nächtlichen Colosseum herumspazieren, bis sie sich ein Fieber zuzog und starb. Er hielt es für unwürdig, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen oder überhaupt zu viel Engagement im Umgang mit anderen Menschen zu zeigen, er war sich auch nicht sicher, ob er sie wirklich liebte oder, falls er sie liebte, ob diese Liebe Folgen haben dürfe … Hier legte Michael den Band beiseite. Während von draußen Schüsse, das Heulen einer Sirene zu hören war, das scharfe, beruhigende Schlattern der Rotorblätter sich nähernder Hubschrauber, versuchte er herauszufinden, was ihn an der Lektüre störte. Er hatte die Geschichte schon früher gelesen, sie hatte ihm gefallen, er hatte eine Seminararbeit über eine ihrer stilistischen Besonderheiten geschrieben.

    Seine Freundin rief ihn an, irgendwann in der Nacht, wie sie es immer tat. Michael ging hinaus auf den Korridor, um ungestört mit ihr zu reden, und vergaß sein Unbehagen über Henry James. Doch das Studium der englischen Literatur gab er auf, kaum dass er von der Armee an die Universität zurückgekehrt war, zum ­großen Bedauern seiner Professorin.

    Brot

    Eines Morgens, als ich im Garten die weiße Katze fütterte, kam ein Mann auf mich zu, ein schlanker Mann mittleren Alters mit Stirnglatze und großen, leuchtenden Augen. »Ich habe Sie deutsch sprechen hören!«, rief er begeistert. In seinem Gesicht war ein Lächeln, als sei die Begegnung mit mir ein glückbringendes Ereignis. Mit wem hatte er mich sprechen hören? Mit der Katze? Sie war trächtig und hatte unter unserem Fenster miaut, seit drei oder vier Tagen ging ich im Morgengrauen hinunter und fütterte sie. Das Haus schlief noch, es mochte nicht später sein als sechs. Der Mann fragte, ob wir Deutsche wären. Er hätte uns in letzter Zeit öfter hier gesehen.

    »Juden«, sagte ich.

    »Aber aus Deutschland?«

    »Ja.«

    »Und da kommen Sie hierher?«

    »Warum nicht? Es ist schön hier. Das Meer rauscht, die Sonne steigt auf hinter Palmen …«

    »Aber Sie können doch dieses Land nicht mit Deutschland vergleichen!«

    »Alles kann man vergleichen. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis … Kennen Sie das? So sagt ein berühmter deutscher Dichter.«

    Der Mann hatte ein hageres, vergrämtes Gesicht, das stark ­gebräunt war, wie die Gesichter der meisten Leute hier, und ­dadurch gesund und lebensfroh wirkte, trotz des grämlichen ­Ausdrucks, sozusagen wider Willen gesund, wider Willen froh. Hinzu kam, dass er lächelte, als er mich deutsch sprechen hörte und deutsche Dichter zitieren, lächelte wie ein Kind, selig vor Vergnügen.

    »Hören Sie«, sagte er mit gesenkter Stimme, als gälte es eine Schicksalsfrage, »Sie wollen doch nicht etwa bleiben?«

    »Doch«, gab ich zurück, »das ist unsere Absicht.« Und ich erzählte ihm, während die weiße Katze frühstückte und um meine Beine strich, dass wir gekommen wären, meine Frau, die Kinder, auch der Schwiegersohn, um hier zu leben.

    »Das werden Sie sich noch hundertmal überlegen!« rief er. »So redet jemand, der das Land nicht kennt. Ich komme aus Wiesbaden, wo ich achtundzwanzig Jahre gelebt habe, seit Anfang der Sechziger. Eigentlich bin ich aus Rumänien. Ceauşescu – das wissen Sie sicher nicht – hat uns die Ausreise erlaubt, man konnte gehen, wohin man wollte. Ceauşescu war nicht so schlecht, wie alle sagen. Zu uns war er gut.« Er sprach weiter, die großen Augen auf mein Gesicht geheftet. Sie waren hellbraun, und wenn er sich ereiferte, leuchteten sie golden, in genau der Farbe, die in meiner Kindheit die Malzbonbons hatten. Die meisten rumänischen Juden wären nach Israel gegangen, sagte er, aber seine Eltern nicht, wofür er ihnen bis heute dankbar sei. Dadurch hätte er eine »vernünftige Erziehung« erhalten. Die Eltern waren in Wiesbaden gestorben, und er hatte geheiratet, eine israelische Frau, dunkel, temperamentvoll: der größte Fehler seines Lebens.

    »Ich bin ein Jude!«, rief er, »ja, das weiß ich, ich habe es nie geleugnet. Aber diese Leute hier, diese schrecklichen Leute! Leben Sie erst mal einige Zeit in diesem Land, dann werden Sie sehen. Die Marokkaner, laut, rücksichtslos, sie brüllen Tag und Nacht auf der Straße herum. Meine Nachbarn sind Russen, haben Sie schon mal neben Russen gewohnt? Jede Nacht dieser Krach, sie trinken, singen, spielen Ziehharmonika, ich habe die Russen schon in Rumänien nicht ausstehen können … Hundertmal habe ich sie gebeten, leiser zu sein, aber die Leute hier hören nicht mal zu! Wenn Sie in ein Geschäft gehen und fragen, die antworten nicht mal! Die drehn sich nicht mal um! Wie höflich sind die Verkäuferinnen in Deutschland! Bitte sehr, danke sehr …«

    Er deutete Knickse und Verbeugungen an, als sei er ein junges Mädchen, das in einem Laden bedient. Dabei verwandelte er sich, schauspielerte, seine Augen leuchteten groß und golden. Ich begann, ihn mit Interesse zu beobachten.

    »Wie Luft wird man hier behandelt«, sagte er, und der Groll kehrte in seine Stimme zurück, »niemand grüßt, niemand sagt Danke. Und ich kann ihr Zeug nicht essen. Ich muss oft nach Deutschland fliegen, ich bekomme dort eine Rente und muss alle paar Monate hin, mich auf den Ämtern zeigen … Können Sie hier essen? Immer, wenn ich aus Deutschland komme, bringe ich mir zu essen mit, Brot, einen ganzen Koffer voll Brot. Und Eier. Man kann ihre Eier nicht essen. Sie machen Milchpulver in den Käse. Wenn ich mich erinnere, die Käsetheke in unserem Supermarkt in Wiesbaden, Dutzende Sorten, aus Frankreich, Italien, Holland, ach, was sage ich, Hunderte …«

    Er sah mich an, über den goldenen Augen war seine hohe Stirn bewegt, wie zerrissen. Im Reden beugte er sich über die sauber geschnittene Hecke, die uns trennte. Er hatte den Vorgarten nicht betreten, blieb respektvoll draußen, während ich mit der Katze hinter der Hecke stand.

    »Ich hätte keine Israelin heiraten dürfen. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich mich einsam gefühlt … Sie versteht mich nicht. Sie wird wütend, wenn ich ihr sage, wie schrecklich die Leute hier sind. Sie lacht, wenn ich mir Brot aus Deutschland ­mitbringe, richtiges Schwarzbrot, richtiges Brot … Es war mein größter Fehler, dass ich diese Frau geheiratet habe. Ich kann hier nicht leben. Ich schlafe nicht, trotz Ohropax, weil sie so laut sind. Ja, ich bin a Jid, ja, ein Jude, aber hier fange ich an, mein eigenes Volk zu hassen …«

    Sein Gesicht war fein, mit regelmäßigen, etwas pedantischen Zügen, in seinen goldbraunen Augen stand Verzweiflung. Er sprach fließend Deutsch, fehlerlos, nur manchmal suchte er nach einem Wort.

    »Sie werden noch an mich denken«, rief er, bevor er ging. Es klang fast drohend. Ich sah ihn bald wieder, schon am nächsten Morgen. Er fühle sich verpflichtet, sagte er, mich zu warnen. Demnächst reise er wieder nach Deutschland, und diesmal werde er nicht zurückkehren, nein, er hätte genug. Er werde dort bleiben und sich von seiner Frau scheiden lassen.

    »Haben Sie keine Kinder?«, fragte ich.

    »Zum Glück nicht.«

    Doch Monate später sah ich ihn immer noch, jeden Morgen lief er hinunter zum Meer, in der goldenen Morgensonne, hinunter zum Strand, wir winkten uns zu, aber sprachen nur noch Grußworte, ein paar Worte Deutsch über die Hecke, die weiße Katze hatte längst Junge geworfen, immer noch sah ich ihn, immer mit dem gequälten Ausdruck im Gesicht, bis wir eines Tages die Katzen nahmen, unsere Sachen packten und weiter südwärts zogen.

    Auf der anderen Seite des Zauns

    »Es hat keinen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die man nicht selber erlebt hat oder wenigstens erlebt haben könnte«, so ungefähr drückte er sich aus. Ein Student hatte wissen wollen, was seiner Meinung nach eine gute Geschichte ausmache. Die Antwort war wenig erhellend, der Student gab sich nicht zufrieden. »Woher weißt du«, fragte er, »ob du eine Geschichte hättest erleben können? Wir alle können alles Mögliche erleben, gerade heute.«

    Er duzte seinen Lehrer, weil er Hebräisch sprach, und diese Sprache keine andere Anredeform kennt. Sein Hebräisch klang unbeholfen, er war noch nicht lange hier. Trotzdem besuchte er Seminare der Abteilung Hebräische Literatur, auf die Gefahr hin, dass er nicht allzu viel verstand.

    »Innerhalb gewisser Grenzen …«, erwiderte der Alte. »Überall gibt es Grenzen, ihr werdet bald sehn. Lasst euch bloß nicht erzählen, wir lebten in einer ›grenzenlosen Welt‹ …« Er saß unter den Studenten, weißhaarig, schnurrbärtig, sein Gesicht war von der Sonne verbrannt, hatte tiefe Furchen und einen mürrischen Ausdruck. Er war auf einem Kibuz groß

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