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Und Gad ging zu David: Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945
Und Gad ging zu David: Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945
Und Gad ging zu David: Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945
eBook258 Seiten3 Stunden

Und Gad ging zu David: Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945

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Über dieses E-Book

Es braucht den Klaps einer energischen Hebamme, damit das blau angelaufene Baby atmet. Aber nachdem der kleine Gad erst einmal Gefallen am Leben gefunden hat, kann ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen: nicht die beginnende Ausgrenzung der Juden an den Schulen, nicht die Tatsache, dass ihn Männerkörper stärker faszinieren als weibliche Rundungen. Doppelt stigmatisiert, als Jude und Homosexueller, gelingt es Gad Beck inmitten des Nazi-Terrors, sein Leben zu meistern.

"Manche Lebensläufe enthalten eine solche Fülle an unerhörten Begebenheiten, dass sie allein ein geborener Erzähler zu bändigen vermag. Ein solcher Lebensbericht, in welchem das Wunder und die Rettung ihren Platz haben, sind die Erinnerungen des Gad Beck." (Tagesspiegel)

Die Reihe "Es geht auch anders" in der Edition diá:

Gad Beck
Und Gad ging zu David. Die Erinnerungen des Gad Beck
ISBN 9783860345016

Georgette Dee
Gib mir Liebeslied. Chansons Geschichten Aphorismen
ISBN 9783860345061

Cora Frost
Mein Körper ist ein Hotel
ISBN 9783860345078

Ulrich Michael Heissig
Irmgard, Knef und ich. Mein Leben, meine Lieder
ISBN 9783860345085

Lotti Huber
Diese Zitrone hat noch viel Saft. Ein Leben
ISBN 9783860345023

Lotti Huber
Jede Zeit ist meine Zeit. Gespräche
ISBN 9783860345030

Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau. Ein Leben
ISBN 9783860345047

Napoleon Seyfarth
Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod
ISBN 9783860345054
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition diá
Erscheinungsdatum1. Okt. 2012
ISBN9783860345016
Und Gad ging zu David: Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945

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    Buchvorschau

    Und Gad ging zu David - Gad Beck

    Über dieses Buch

    Es braucht den Klaps einer energischen Hebamme, damit das blau angelaufene Baby atmet. Aber nachdem der kleine Gad erst einmal Gefallen am Leben gefunden hat, kann ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen: nicht die beginnende Ausgrenzung der Juden an den Schulen, nicht die Tatsache, dass ihn Männerkörper stärker faszinieren als weibliche Rundungen. Doppelt stigmatisiert, als Jude und Homosexueller, gelingt es Gad Beck inmitten des Nazi-Terrors, sein Leben zu meistern.

    »Manche Lebensläufe enthalten eine solche Fülle an unerhörten Begebenheiten, dass sie allein ein geborener Erzähler zu bändigen vermag. Ein solcher Lebensbericht, in welchem das Wunder und die Rettung ihren Platz haben, sind die Erinnerungen des Gad Beck.« (Tagesspiegel)

    Der Autor

    Gad Beck wurde 1923 als Sohn einer christlich-jüdischen Familie in Berlin geboren. Er war von 1977 bis 1988 Leiter der Jüdischen Volkshochschule in Berlin und arbeitete eng mit Heinz Galinski zusammen. Gad Beck starb 2012 in Berlin.

    Gad Beck

    Und Gad ging zu David

    Erinnerungen 1923 bis 1945

    Herausgegeben und mit einem Nachwort von Frank Heibert

    Edition diá

    Gad Beck ist ein Lebenskünstler. Mit der richtigen Kombination aus Pfiffigkeit und Naivität, Witz und Kalkül begegnet er den Glücksmomenten wie den Widrigkeiten des Daseins, packt eine gute Gelegenheit beim Schopf und weiß jeder Katastrophe noch etwas Positives abzugewinnen. Gutes tun und gut leben schließen sich bei ihm nicht aus, sie bedingen sich geradezu; nur wer die Sinnesfreuden nicht vernachlässigt, vermag seine sieben Sinne zu nutzen.

    Gad Beck ist kein Sonntagsredner. Er hat die deutsch-jüdische Zeitgeschichte erlebt, noch bevor sie »Weltgeschichte« wurde, und deshalb kann er sie konkret beschreiben, ohne die oft aufgesetzt wirkende »angemessene« Trauer oder politische Korrektheit. Er differenziert. Er hat einzelne Menschen und Situationen erlebt, nicht »die Deutschen« oder »die Juden«. Er verliert die übergeordnete Lage geistig nie aus dem Blick, doch es sind die kleinen Beobachtungen und Szenen, welche die Leser dazu einladen, sich in die schwer vorstellbare Zeit seiner Kindheit und Jugend einzufühlen, als das Ungeheuerliche Alltag war.

    Gad Beck ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Aus seinen Erinnerungen spricht die frische, manchmal sonnige Unmittelbarkeit des Erlebens. Mit seiner unverwechselbaren Mischung aus Berliner Schnauze, Wiener Schmäh, jiddischer Chuzpe und orientalischer Fabulierkunst schlägt er Brücken, wo andere Grenzen ziehen müssen.

    Frank Heibert im April 1995

    Inhalt

    Über dieses Buch

    Vorspiel

    I

    II

    III

    IV

    V

    VI

    Nachwort

    Impressum

    Für Miriam, Zwi und Julius

    Nach Wahrheit forschen,

    Schönheit lieben,

    Gutes wollen,

    das Beste tun.

    Moses Mendelssohn

    »Was ist das – Optimismus?«

    »Ach, das ist der Wahnsinn,

    zu behaupten, dass alles gut sei,

    auch wenn es einem schlecht geht.«

    Voltaire, Candide oder Der Optimismus

    Vorspiel

    »So, das war’s!« Mit diesen Worten begann mein Leben.

    Meine Schwester Margot lag strampelnd auf dem Tisch, krähte und freute sich ihres Daseins. Dr. Neumann wischte sich den Schweiß des dumpfen Spätjuninachmittags ab, packte sein Besteck zusammen und verabschiedete sich.

    Und »das« wäre es beinahe schon gewesen. Meine Mutter war vollkommen erledigt, und die Hebamme wartete auf die Nachgeburt, um den Vorgang ordnungsgemäß abzuschließen. Da kam aber nichts. Meine Mutter begann allmählich zu fiebern. Die Hebamme verstand etwas von ihrem Geschäft. »Da steckt noch wat«, stellte sie trocken fest und schickte das Dienstmädchen los, um den Arzt zurückzuholen. Der kam auch gleich, packte hinein und stimmte zu: »Oje, da ist ja noch einer drin.«

    Er holte mich heraus und warf mich auf den Tisch: ein Junge, aber ein »blaues Baby«. Ich gab keinen Ton von mir, das sah nicht gut aus. Neumann fing gleich an, meinen Vater zu trösten: »Ihr habt doch eine wunderbare, gesunde Tochter …«

    Aber die Hebamme sorgte mit ein paar fachgerechten Schlägen auf den Allerwertesten dafür, dass auch ich zu atmen und zu schreien begann. Ich glaube übrigens fest daran, dass meine Lebensfreude und mein Optimismus auf diese »Gnade der Nachgeburt« zurückgehen.

    Meine Mutter sah in den Umständen meiner Geburt ebenfalls erste schicksalhafte Weichenstellungen. Meine beiden liebsten Laster waren, keine Frage, seit jenem 30. Juni 1923 in mir angelegt: »Der war ja schon als Baby blau«, kommentierte sie, die ihren Humor erst in den fünfziger Jahren in Israel richtig entwickeln konnte, als ich es mir – oft recht beschwingt – im Gelobten Land gut gehen ließ; und dass die Hebamme mich beherzt ins Leben hineingeklopft hatte, betrachtete sie als frühe Sensibilisierung eines später in besonderer Weise empfindsamen Körperteils.

    Eine andere frühkindliche Erfahrung hatte dagegen die Wirkung einer Aversionstherapie. Margot und ich lagen als Säuglinge im Zwillingskinderwagen einander gegenüber: Sie hatte den Kopf draußen, wo die laue Sommerluft wehte und sie die Welt betrachten konnte, ich hingegen, als der Zartere, war wohlbehütet und abgeschirmt unter das wesentlich langweiligere Verdeck des Wägelchens platziert worden. So kutschierte man uns durchs Berliner Scheunenviertel, wo die Familie lebte. Nun ist ein Kinderwagen etwas besonders Anziehendes für Mütter jeden Alters, und die jüdischen Mammes im Scheunenviertel machten da keine Ausnahme. So auch eine besonders monumentale Dame namens Strasberg, die sich ständig unter Ausrufen wie »Och, wie süüß!« über mich beugte; dabei schoben sich zwei riesige Brüste in mein Blickfeld, verdunkelten den Himmel, raubten mir das Tageslicht, die Luft zum Atmen, die Welt – kein Wunder, dass ich zeit meines Lebens keinerlei Lust auf weibliche Brüste verspürte.

    Mehr Erklärungen habe ich nie dafür gebraucht, dass mir Jungs besser gefallen als Mädchen. Und meine Familie auch nicht. Schließlich war unser Leben, gerade in der Zeit meiner Jugend, voll von anderen, von wirklichen Problemen. Und die meisterten wir, zusammen.

    I

    Es waren einmal fünf Schwestern … könnte ich beginnen, denn in der Familie meiner Mutter gab es einen deutlichen Frauenüberschuss. Einen Bruder hatte sie zwar, aber der war schon als junger Mann in die Welt hinausgezogen (und bis nach Thüringen gekommen); Hedwig Kretschmar übersiedelte mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern Anfang des Jahrhunderts aus dem Oderbruch nach Berlin, um sich dort Arbeit zu suchen; der Vater hatte sein Geld verspielt.

    Sie lebten in einer mittelgroßen, grauen Wohnung am Gesundbrunnen. Um die Jahrhundertwende waren überall in Berlin schnell und lustlos solche todhässlichen Mietshäuser hochgezogen worden, um die Menschenmassen aufzunehmen, die vom Boom der Hauptstadt angezogen wurden. Einige der Schwestern mussten auf dem Korridor schlafen, weil nicht genug Platz war. Die Familie rackerte sich im unteren Mittelstand ab.

    1913 wurde Hedwig achtzehn und bewarb sich für eine Stelle im Versandgeschäft Heinrich Beck & Co. Per Bestellkatalog wurden alle möglichen Waren en gros versandt, und sie arbeitete in der Telefonzentrale. Telefonistin, das war damals etwas Besonderes, Neues, und in so einem Betrieb eine geradezu einflussreiche Position.

    Hedwig brauchte nicht lange, da machte sie auf moderne Frau. Sie rauchte heftig, kleidete sich nach der neuesten Mode – und verliebte sich im Nu in ihren jungen Chef. Sie war bezaubernd, ländliche Frische verfeinert mit großstädtischer Eleganz. Den Schick mit den modischen Hütchen und Kappen, Mänteln und Kostümen hatte sie von jüdischen Freundinnen aus der Firma gelernt; ihren Schwestern gelang das nie, die sahen fast alle stets brav und bieder aus. So war es nicht verwunderlich, dass der neun Jahre ältere Heinrich Beck ihrem Charme sofort verfiel.

    Diese Liaison wurde im protestantischen Hause Kretschmar nicht gern gesehen. Eine Schwester, Anna, war streng religiös und hatte mit Juden gar nichts am Hut. Die restliche Verwandtschaft, die noch auf dem Lande wohnte, war sogar deutlich antisemitisch und übte ständig Druck auf Hedwig aus, warum heiratest du nicht den Vetter Sowieso, der ist ein anständiger Christ … Tat sie aber nicht, sie wollte den Juden.

    Als Heinrich Beck eingezogen wurde und für Österreich-Ungarn an der italienischen Isonzo-Front kämpfte, schickte sie ihm Briefe und Päckchen. Er revanchierte sich mit Fotos, auf denen er stolz mit den Kameraden posierte, stämmig, schnurrbärtig, wache Augen und humorvolles Lächeln. Nach dem Krieg, aus dem er sogar mehrere kleine Auszeichnungen mitbrachte, war den beiden klar, dass sie eine Familie gründen wollten.

    Heinrich Beck hätte diese Eheschließung, wenn es nach ihm gegangen wäre, durchaus »weltlich« gehandhabt, ohne irgendeine Religion. Er zählte sich zum aufstrebenden deutschen Bürgertum, nennen wir es »liberalkonservativ«, und war nicht übermäßig fromm. Doch da schaltete sich seine Familie ein: »die Wiener«.

    Aus Wien stammte er nämlich, und obwohl er sich deutsch fühlte, war er niemals deutscher Staatsbürger. Seine Familie, ursprünglich aus Galizien, sprach untereinander noch Jiddisch und schrieb es sogar, mit hebräischer Schrift. Es war ein typischer Clan des Habsburgerreiches. Dass Heinrich nach seiner kaufmännischen Ausbildung in Wien zu den Preußen gegangen war, hatte seinen Vater schon wenig begeistert. Nun wollte er auch noch eine »Gojte« heiraten? Die Forderung war deutlich: Die neu gegründete Familie sollte eine Religion haben; und dass nicht er zum Christentum übertrat, verstand sich damals von selbst.

    Hedwig lernte also hübsch alles, was nötig war, und trat schließlich zum Judentum über. 1920 wurde geheiratet. Den bei Juden üblichen Ehevertrag ließen die beiden in der hochreligiösen Adass-Jisroel-Gemeinde beglaubigen, doch dies eigentlich nur, weil ein anderer, progressiverer Rabbi gerade in Urlaub war.

    Die frischgebackenen Eheleute Beck waren offenbar dem Geschlechtlichen nicht abgeneigt, denn in den ersten beiden Jahren machten sie gleich zwei Kinder hintereinander. Beides waren Söhne, was geradezu einen Durchbruch für die Familie meiner Mutter darstellte, endlich kamen mal Knaben. Doch die Säuglinge starben, der erste nach ein paar Wochen, noch im Jüdischen Krankenhaus, der andere nach ein paar Monaten zu Hause in der Prenzlauer Straße, wo meine Eltern im ersten Stock über der Firma wohnten. Die Ärzte empfahlen ihnen, es nicht noch einmal zu versuchen, das gesundheitliche Risiko einer weiteren Schwangerschaft sei zu groß. Aber Heinrich Beck wollte nicht hören, und so war es bald wieder so weit.

    1923 näherte sich die Inflation ihrem Höhepunkt. Trotzdem stand er finanziell noch recht gut da; er belieferte die Veranstalter großer Bälle und hatte ausgezeichnete Verbindungen zur Jahrmarktbranche. So nahm er für seine Frau einen erfahrenen Arzt, damit dieses Mal ja nichts schiefging. Er kannte Dr. Neumann schon länger; später ging dieser zur SS, blieb aber unbeirrt mit uns befreundet. Am Tag der erwarteten Geburt sagte er zu meinem Vater: »Lieber Heinrich, gib mir das Geld am besten schon mittags, dann kann meine Frau noch etwas Butter davon kaufen, am Abend wird’s wohl nicht mehr reichen.« Und am Abend hatten die Neumanns ihre Butter und meine Eltern uns, Margot und Gerhard.

    Die ganze Familie platzte vor Stolz: zwei so süße, gelungene Babys, nach den beiden verlorenen Kindern! Schade nur, dass die Wiener Familie sich von Heinrich abgewandt hatte. Obwohl meine Mutter zum Judentum übergetreten war, wollten sie von Heinrich und seiner Mischpoche nichts wissen. Doch das ließ mein Vater nicht auf sich sitzen. Eines Tages raffte er sich auf, packte seine Frau und den Nachwuchs samt Kindermädchen in den Zug und fuhr mit ihnen nach Wien.

    Die schöne, geräumige Wohnung der Becks lag im 2. Bezirk in der Oberen Donaustraße. Mein Großvater war Kürschner und verdiente blendend, Gott sei Dank, denn er hatte neun Kinder, und fünf davon waren Töchter, die er mit Aussteuer versorgen musste.

    Mein Vater stand vor der schweren Tür, hob den Türklopfer und ließ ihn nach kurzem Zögern beherzt fallen. Einen Augenblick später stand seine Mutter vor ihm. »Heinrich!«, rief sie aus und fiel ihm um den Hals. Ganz gleich, was passiert ist, eine Mutter freut sich immer, wenn sie ihren Sohn wiedersieht. »Komm herein!« – »Nein«, sagte er bedächtig, »das kann ich nicht. Ich bin nicht allein hier. Meine Familie steht neben mir.« Hedwig hatte einen weißen Pelz an, um den Kürschner-Schwiegervater zu beeindrucken, sie sah aus wie eine Filmschauspielerin. Trotz der Schwangerschaften hatte sie ihre hübsche Figur behalten.

    Ist doch aber der Jude ein neugieriges Wesen, und der alte Reuwen Beck machte da keinen Unterschied. Er stand hinten im Flur und lugte um die Ecke, um seine Frau herum, weil er seine deutsche Schwiegertochter erspähen wollte. Es wurde ein voller Erfolg: »Kommt zu mir, meine Kinder!«, rief er, als er die junge Frau erblickte, und von Stund an trugen er und die ganze Wiener Familie meine Mutter auf Händen. Eine bildschöne Schwiegertochter und dazu gleich noch Zwillinge als Enkel, das musste einfach überzeugen.

    Sie besuchten uns regelmäßig in Berlin und beeindruckten nun ihrerseits den christlichen Teil der Familie über alle Maßen. Von diesen eleganten, vornehmen, distinguierten Juden aus dem grandiosen alten Wien waren sie fasziniert. Das wertete meinen Vater mächtig auf. Mein Onkel Wolken war Vertreter der Firma Kodak für den gesamten Balkan und hatte regelmäßig in Berlin zu tun. Die Fotografie war damals im Kommen, und er besaß später noch ein großes Fotogeschäft in Wien – so lange er durfte. Diesen Onkel bewunderte ich restlos; er war fast zwei Meter groß, ging teuer gekleidet und stieg in Berlin immer im Hotel Fürstenhof am Anhalter Bahnhof ab.

    Wir trafen ihn dort zu Kaffee und Kuchen oder Eis, auf ein paar Stunden nur, mehr Zeit hatte er gar nicht, aber wir fühlten uns … So ein Leben war mein Traum, so wollte ich auch mal werden – nicht unbedingt zwei Meter hoch, aber doch weltgewandt und selbstsicher und selbstverständlich mit dem Luxus umgehend. In einem erstklassigen Hotel absteigen und die Familie dort hinkommen lassen, wunderbar. In den siebziger Jahren schrieb ich meiner Mutter einmal, ich zöge von einem schicken Hotel ins nächste, wie Onkel Wolken – der alte Maßstab galt immer noch.

    Meine Eltern pflegten ein reges gesellschaftliches Leben. Eine Freundin meiner Mutter war mit einem Konditor namens Hauke verheiratet, der meine Eltern auf die Einladungsliste vom jährlichen »Ball der Konditoren« setzte; umgekehrt beschaffte mein Vater das Entree zum hocheleganten »Ball der Österreicher«. Bei festlichen Anlässen war Heinrich Beck eine Stimmungskanone: ein rotblonder, stämmiger Gemütsmensch, der sich dezent, aber kräftig einen anschickerte und Wiener Couplets zum Besten gab. Meine Mutter passte immer den richtigen Moment ab, um ihm schwarzen Kaffee einzuflößen, beim entsprechenden Alkoholpegel eine teuflische Mischung. Wenn es zum Äußersten kam, entschuldigte er sich für ein Viertelstündchen, ging auf die Toilette, kotzte alles raus und machte dann fröhlich weiter. Er fühlte sich bei den Preußen wohl, aber seine sentimentale Wiener Seele konnte er jederzeit abrufen; als wir unser erstes Radio hatten, saß er oft davor, wenn Wiener Lieder gespielt wurden, und heulte wie ein Schlosshund. Zu der protestantisch geprägten Trockenheit meiner Mutter stellte die Lebensart und Fröhlichkeit meines Vaters genau den richtigen Ausgleich dar.

    Zum sozialen Aufstieg sollte natürlich auch die Wohnlage passen. 1920, als meine Eltern heirateten, ließen sie sich, optimistisch, wie sie waren, auf die Warteliste für eine Neubauwohnung in besserer Gegend setzen, in Weißensee. 1927 war unsere Dreieinhalbzimmerwohnung in der Buschallee endlich bezugsfertig. Zwei Balkons, Blick ins Grüne, Tennisplatz und Badesee in der Nähe, für 71 Mark Monatsmiete.

    Unser neues Heim wurde zur Anlaufstelle für alle Berliner Verwandten, von denen keiner so schön wohnte. Man traf sich zum Kartenspielen, Essen, Kaffeetrinken, hörte Radio, saß auf dem Balkon. Tante Trude, Mutters jüngste Schwester, zog mit Oma Wilhelmine Loch (ihr Name war ein regelmäßiger Lacher bei uns Kindern) in die Nähe.

    Margot und ich wuchsen wie zwei Prinzesschen heran und wurden entsetzlich verwöhnt. Sie hieß »Puppe« und ich »Männe«. Diese Unterscheidung kommt einem allerdings mehr wie eine Behauptung vor, wenn man sich unsere Kinderbilder anschaut.

    Die religiöse Erziehung nahm unsere Familie sehr ernst, und das bezog sich auf beide Religionen. Die Oma fand es inzwischen ganz selbstverständlich, sich um die Traditionen und Bräuche der Juden ebenso zu kümmern wie um ihre eigenen christlichen.

    So spazierten wir Steppkes an der linken und der rechten Hand der alten Dame, die als Witwe im langen schwarzen Rock mit Häubchen ging, zu Weihnachten in die Dorfkirche von Weißensee und sangen inbrünstig Vom Himmel hoch, da komm ich her.

    Beim Passahfest überwachte die Oma streng, dass alles korrekt nach dem Ritus ausgeführt wurde, den sie sich gerade angelesen hatte. Wenn mein Vater sich daranmachte, die Mazza zu brechen, das ungesäuerte Fladenbrot, das wir zu Passah essen, weil es an den Auszug aus Ägypten erinnert (als der Teig unserer Väter keine Zeit hatte, um zu säuern), bekam er erst mal zu hören: »Heinrich, es heißt, zuerst sollst du dir die Hände waschen! Und wo ist das Bitterkraut schon wieder?«

    Die jüdischen Rituale stecken voller konkreter Symbole, und zugleich wird die dazugehörige Episode aus den heiligen Schriften immer wieder erzählt, gerade für Kinder ist das sehr eindrucksvoll. Worauf deutet zum Beispiel das Bitterkraut hin? »Die Ägypter verbitterten ihnen das Leben durch harte Arbeit mit Lehm und mit Ziegeln und allerlei Arbeit auf dem Feld, außer den sonstigen Arbeiten, die sie ihnen mit Strenge aufbürdeten.« So wird bei Passah die mündliche Überlieferung der Geschichte von Knechtschaft und Auszug aus Ägypten fortgesetzt, die kannte die Oma natürlich auch aus dem Alten Testament. Um den »Befreier, der da kommen wird« zu begrüßen, wurde ein Glas Wein mitten auf den Tisch gestellt. Dann musste meine Mutter die Zimmertür öffnen, damit Eliahu Hanawi – der Prophet und Befreier – auch hereinkommen konnte. Und kurz darauf wackelte das Glas: Er hatte daran genippt! Wir Kinder waren jedes Mal aufs Neue begeistert; dass mein Vater von unten gegen die Tischplatte gestoßen hatte, war uns natürlich entgangen.

    Oma Wilhelmine war nicht die Einzige in der Familie, die ihre ursprüngliche Skepsis gegenüber den Juden ablegte und im konkreten Zusammenleben gegen ein ernsthaftes Interesse eintauschte. Die fromme Tante Anna und ihr Mann, Onkel Paul, vertraten eine Art Urchristentum, das war gar nicht so weit entfernt vom jüdischen Glauben. Und sie waren auch bereit, diese Nähe zu demonstrieren.

    Einige Jahre später, bei meiner Einsegnung 1936, sollte sich etwas eigentlich Unerhörtes ereignen. Zur Bar-Mizwa muss ein männlicher Verwandter, meist ist es ein Onkel, einen Segen sprechen. Aus Wien konnte keiner kommen, zu der Zeit waren die Wiener Becks bereits in finanziellen Schwierigkeiten – also musste jemand einspringen, und dazu erklärte sich mein Onkel Paul bereit! Er ließ sich aufrufen, um aus dem Heiligen Buch vorzulesen, trat vor und tat es. Viele Jahre später sprach er immer noch bewegt von diesem Erlebnis und sagte, es sei einer der wichtigsten Augenblicke seines religiösen Lebens gewesen. Damit die Familie auch zahlreich genug repräsentiert war, kamen sämtliche Schwestern mit ihren Ehegatten und saßen im Tempel, hier die Frauen, dort die Männer, wie es sich gehört – und mein Vater war der einzige Jude! Vergessen wir nicht, dass dies 1936 geschah. Das kann man getrost als ein Bekenntnis bezeichnen.

    Meine Erziehung war von dieser unaufdringlich gelebten, nie eigens ausgesprochenen Toleranz geprägt. Eine solche zugewandte, aufgeschlossene und in sich ruhende Art der christlich-jüdischen Ökumene, der Herzensoffenheit hätte der mitteleuropäischen Kultur neue Wege weisen können, wenn Hitler dies alles nicht zerstört hätte.

    * * *

    Meine zweitälteste Tante war mir die liebste: Martha. Auch sie war eine attraktive Frau, aber auf eine herbe, fast verruchte Weise, und sie sprach alles Unbürgerliche in mir an.

    In erster Ehe heiratete sie einen Schauspieler, einen Herrn Pape. Sie träumte selbst davon, ans Theater zu gehen. Mit diesem Mann war sie im Wohnwagen unterwegs, das

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