Anquetil: Mit Leib und Seele
Von Paul Fournel
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Über dieses E-Book
"Sein Pedaltritt war zu schön, um wahr zu sein. Er gaukelte Leichtigkeit und Anmut, Höhenritt und Wiegetritt in einer überwiegenden Männerdomäne vor, die Holzfällern, Pedalrittern und Arbeitstieren vorbehalten war", schreibt Paul Fournel. Damals, in den Sechzigern, war die Grande Nation in zwei Lager gespalten: Poulidor, der ewige Zweite und "Maître Jacques", der ungeliebte Stratege mit der Registrierkasse im Kopf - dazwischen gab es nichts.
Anquetil ist nicht dem Fluch entkommen, der auf den Gelben Trikots der Tour lastet, die ihre Träger auf der Landstraße zwar unsterblich machen, aber nicht im wahren Leben. Er starb, wie viele andere, früh. Mit nur 53 Jahren. Er war jünger als Bobet, den der Tod mit 58 ereilte, aber älter als Fignon, der im Alter von 50 starb, während Coppi nur 41 Jahre alt wurde, Koblet gar nur 39. Als Anquetil in der Klinik Saint-Hilaire in Rouen den finalen Kampf seines Lebens führte, soll er Poulidor, so die Legende, zum Abschied völlig entkräftet ins Ohr gehaucht haben: "Mein armer Raymond, ich werde als Erster die Reise ins Jenseits antreten. Du wirst Zweiter sein, wieder einmal!"
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Buchvorschau
Anquetil - Paul Fournel
Anquetil
Anatomie eines Champions
Widrige Winde konnten Anquetil wenig anhaben, seine spitze Nase und sein fein geschnittenes Gesicht bahnten ihm den Weg, und sein Körper, wie aus einem Guss, durchdrang den Mistral, schlüpfte buchstäblich durch die kalten Nordwest- und heißen Südostwinde hindurch. Man glaubte, er sei transparent, kränkelnd, sicherlich schmächtig, eine halbe Portion im Vergleich zu Rik Van Looy, von Rudi Altigs kolossaler Statur gar nicht zu reden. Er hatte einen ebenmäßigen Körper, und wenn man ihn so graziös sah, hätte man nie geglaubt, dass sein Brustkorb ein Tank war, der den Treibstoff des stärksten Motors verbarg, dass seine Beine und sein gebeugter Rumpf elastisch wie Gummi waren.
Sein Pedaltritt war zu schön, um wahr zu sein. Er gaukelte Leichtigkeit und Anmut vor, er gaukelte Höhenritt und Wiegetritt in einer überwiegenden Männerdomäne vor, die Holzfällern, Pedalrittern und Arbeitstieren vorbehalten war. Der Blondschopf kurbelte leichtfüßig, er pedalierte auf Zehenspitzen, den Rücken gekrümmt, die Arme angewinkelt, den Blick angespannt nach vorn gerichtet. Wie keinem anderen war ihm das Rennrad auf den Leib geschneidert, nie zuvor war diese Einheit Mensch-Maschine ästhetischer. Er war wie gemacht, um allein auf der Landstraße, losgelöst vom blauen Himmel, gesehen zu werden; nichts an ihm erinnerte an das Peloton, an die Masse und an die geballte Kraft, er personifizierte die Schönheit des Solisten. »Ich habe ihn lange wie einen Hexenmeister betrachtet, der das große Geheimnis entdeckt hat«, sagte Cyrille Guimard über ihn. Er hatte von Anfang an die legendäre Härte der »forçats de la route«¹ gegen eine bis dahin unbekannte Form der Gewalt eingetauscht: eine gewisse Eleganz, gepaart mit brutaler und versteckter (Tempo-)Härte unter der seine Gegner litten, ohne ihn kopieren zu können.
Hinzu kommt, dass Anquetil bei intensiver Anstrengung die Miene nicht verzieht, die Zähne nicht fletscht, mit dem Kopf nicht hin- und herwackelt. Es ist schwer, sein Mienenspiel zu lesen. Er wird lediglich blass, sein Gesicht legt sich unmerklich in Falten, seine Augen färben sich hellgrau. Wenn er in der heißen Phase eines Rennens mit Tempo fünfzig förmlich dahinfliegt, würde man glauben, ihn hätte die Tuberkulose besiegt.
Ich war zehn Jahre alt, ich war klein, rundlich und hatte braunes Haar. Er war groß, schlank, blond und ich wollte so sein wie er. Ich wollte sein Rennrad, seine Erscheinung, seine Nonchalance und seine Eleganz besitzen. Ich hatte mein Vorbild und zugleich mein Gegenbild gefunden. Beide waren unnachgiebig, das sagt einiges über den Weg, der vor mir lag.
Für Anquetil spielt sich das Wesentliche in der Einsamkeit ab. Er mag keinen Massenstart, er mag es nicht, ein Rennen mitreißend zu machen. Seine Rivalen müssen besiegt werden; man muss sie weder kennen noch sind sie es wert, sich mit ihnen auf taktische Spielchen einzulassen. Seine Teamkollegen arbeiten, um ihm zum Sieg zu verhelfen und um sich ihr täglich Brot zu verdienen, sonst nichts. Es gibt Dinge, die er allein macht und wiederum Dinge, die nur er allein macht, und in beiden Fällen ist die Einsamkeit sein Betätigungsfeld. Diese Einsamkeit ist nicht nur ein Grund, Rad zu fahren, sie ist ebenso eine globale Lebensart, ein Modus, einzigartig zu sein. Sie ist ein prägnanter Charakterzug seiner Seele - egal ob sie an Gott oder an den Teufel verkauft wurde.
¹ Forçats, zu Deutsch Strafgefangene. So nannte Albert Londres, ein investigativer Starreporter, die Tour-de-France-Teilnehmer im Jahr 1924. Sie mussten Marathon-Etappen im Feinstaub, wohin der Blick fiel, zurücklegen, ganz abgesehen vom schikanösem Reglement, weil Henri Desgrange, Verleger von L’Auto (jenem Blatt, aus dem die Tagessportzeitung L’Équipe hervorging) und seit 1903 Organisator der Tour, heroische Geschichten brauchte, um seine dümpelnde Auflage und das Anzeigengeschäft anzukurbeln.
Gegen sich selbst
Anquetil vollführt über der Badewanne, in die heißes Wasser einläuft, einen gewagten Balanceakt. Er ist nackt. Der Dampf steigt empor, umhüllt sein Genital, sein Gesäß, seine Beine: die Waden sind muskulös, die Oberschenkel millionenschwer. Der Dunst trifft seinen Kopf, der, wenn auch unfreiwillig, als Thermometer fungiert. Anquetil sieht an sich herunter, ohne seine Füße wahrzunehmen. Er nimmt die Hitze in sich auf, er versorgt damit seine Muskeln. Er denkt nicht an das Rennen, bei dem er gleich starten wird, auch geht er den Streckenverlauf im Kopf nicht mehr durch. Er ist ihm auf den Magen geschlagen; er findet den Parcours technisch anspruchsvoll, kompakt, selektiv, kurvenreich und er weiß, dass er nach dem Start locker treten und ihn zentimetergenau durchfahren wird – eine Straßenkarte könnte nicht präziser sein. Er hat Angst. Der Dampf lässt seine Quadrizepse anschwellen und lindert seine Qualen. Er hat einen festen Ablauf ritualisiert: Er war beim Friseur, die Spitzen seiner Kurzhaarfrisur wurden gestylt und die Ohren freigelegt, er sieht wie ein Raketengeschoss aus; er hat seinen Handaufleger aufgesucht, der ihm die Hände auf seinen chronisch empfindlichen Hals und auf alle Körperstellen auflegte, da, wo es ihm höllisch wehtun wird; am Freitag hat er auf dem 120-Kilometer-Ritt in Bouchers Windschatten, seinem Trainer-Guru und betagten Derny-Fahrer, mit aller Kraft in die Pedale getreten; am Samstag hat er den Parcours mit dem Rad Meter um Meter abgefahren; zudem hat er ihn anhand der Streckenkarte erkundet, nun wärmt er sich über der Badewanne.
Auf dem Stuhl direkt neben dem Waschbecken die Radhose, schwarz, die Socken, weiß, das Trikot, allesamt noch nicht getragen; auf dem Fußboden stehen schwarze Rennschuhe aus Leder, geputzt und vorsorglich getragen, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, die Pedalplatten sind sorgfältig an den Sohlen befestigt.
ANQUETIL: Ich fahre in der Mitte der Passstraße, bergab schneide ich keine Kurven, dadurch erspare ich mir viele kurze Abfahrten und kleine Anstiege. Ich überlasse diese Linie den geringverdienenden Kollegen, den Erbsenzählern. Die Straßenführung des Ingenieurs lege ich neu fest, ich wähle den Streifen der Straße, den die Autos geglättet haben, wodurch ich die Straßenränder mit Splitt, Glassplittern und Staub meide. Die Route gleitet unter mir dahin. Ich habe sie unter die Räder genommen. So weiß ich, dass nach diesem Haus eine Linkskurve folgt und die Straße dann ansteigen wird, ich weiß, dass mich die Baumreihe am Wegesrand für einen Moment vor dem Wind schützen wird. Mir gehört die Route in ihrer ganzen Breite und ich wähle den kürzesten Weg. Ich gleite auf meinen 18 mm breiten Schlauchreifen, 8 Bar, wie auf einem Luftkissen.
Ich mag breite Landstraßen mit feinkörnigem Belag, die sich so schön dahinschlängeln, jene Straßen, auf denen man seine volle Kraft entfalten kann, ich mag langgezogene, ebene Kurven, leicht welliges Terrain, Anstiege, in die man seine Kraft hineinlegt, ohne wesentlich an Tempo einzubüßen, ich mag die Picardie, Châteaufort, die weiten Plateaus in den Kornfeldern der Chevreuse, durch die der Wind säuselt. Den Rumpf noch etwas tiefer beugen, den Kopf ganz wenig heben, um den Horizont mehr zu erahnen als zu sehen, dem Wind ein Schnippchen schlagen. 52 × 15, 52 × 14, 52 × 13.² Wie ein schwarzes, endloses Asphaltband gleitet die Route unter mir dahin. Mein eigentliches Zuhause ist die Landstraße. Meine Häuser, meine Schlösser sind Zwischenstationen.
Der Wind ist eine Mauer, die ich durchbreche: den Rücken gekrümmt, die Nase an der Lenkerachse, die Arme eng am Körper. Ich personifiziere die eiförmige Haltung der Skirennfahrer, statt der Bretter habe ich eine Kurbel. Selbst in den schwersten Momenten, in denen die Verkrampfung am ganzen Körper unerträglich wird, bemühe ich mich, meine Haltung keinen Fingerbreit zu verändern. Mein Rücken brüllt vor Schmerzen und ich trete noch härter, um meine Pedale wieder nach oben zu ziehen. Den Kopf auch nur einen Moment lang heben, um meinen Nacken zu entspannen, würde mich wertvolle Sekunden kosten. Und nichts ist teurer als die (aerodynamische) Position zu verlassen. Das haben mir die alpinen Rennläufer gelehrt.
Allen Journalisten verrate und wiederhole ich mein Geheimnis: Ein Zeitfahren muss man schnell angehen, in der Schlussphase nochmals Gas geben, dazwischen den Atem zur Ruhe kommen lassen, sich verschnaufen. Der Druck