Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Erben
Erben
Erben
eBook246 Seiten3 Stunden

Erben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit." (Karl Kraus)

Kurz vor Weihnachten stirbt überraschend Tante Leni in Leipzig. Die Aussicht auf das stattliche Erbe der alten Dame weckt Begehrlichkeiten bei Angehörigen und Freunden.

Träume von einer besseren Zukunft, von Wohlstand und ausgleichender Gerechtigkeit - wer hat die nicht? In den Familien Rothermund und Wünsche brechen angesichts der potenziellen Erbschaft Hoffnungen auf und treiben beklemmende, tragikomische Blüten.

Als aus der Wohnung der Toten wertvolle Gegenstände spurlos verschwinden, misstraut jeder jedem. Vermeintlich stabile Familienstrukturen bröckeln. Nach der Testamentseröffnung spitzt sich die Lage weiter zu, der Kampf der Erben beginnt. Schwestern gegen Brüder, Cousins gegen Cousinen, Nichten und Neffen gegen Tanten - quer durch die Familien verlaufen die Fronten.

Fanni Wünsche rechnet sich als Patenkind der Erbtante größere Chancen aus und wiegt sich in Sicherheit. Andere dagegen verlieren ihre Interessen nie aus den Augen und helfen der Gerechtigkeit gerne etwas nach.

Lange schwelende Konflikte entzünden sich an dieser Erbschaftsangelegenheit, bei der Bäume unvermutet eine wichtige Rolle spielen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Aug. 2013
ISBN9783942637343
Erben

Ähnlich wie Erben

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Erben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Erben - Martina Bilke

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Das Buch - Die Autorin - Der Maler

    1. Kapitel

    2. Kapitel

    3. Kapitel

    4. Kapitel

    5. Kapitel

    6. Kapitel

    7. Kapitel

    8. Kapitel

    9. Kapitel

    10. Kapitel

    11. Kapitel

    12. Kapitel

    13. Kapitel

    14. Kapitel

    15. Kapitel

    16. Kapitel

    17. Kapitel

    18. Kapitel

    19. Kapitel

    20. Kapitel

    21. Kapitel

    DANKE

    Buchempfehlung

    Impressum

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

    © 2013 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

    Lektorat: Martina Leiber

    Redaktion, Satz, Umschlagfotos und -gestaltung: Sonia Lauinger

    Umschlag: Aquarell von Horst Leyendecker

    E-Book Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

    E-Book ISBN: 978-3-942637-34-3

    Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:

    ISBN: 978-3-942637-18-3

    www.derkleinebuchverlag.de

    www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

    Das Buch

    „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit." (Karl Kraus)

    Kurz vor Weihnachten stirbt überraschend Tante Leni in Leipzig.

    Die Aussicht auf das stattliche Erbe der alten Dame weckt Begehrlichkeiten bei Angehörigen und Freunden.

    Träume von einer besseren Zukunft, von Wohlstand und ausgleichender Gerechtigkeit – wer hat die nicht? In den Familien Rothermund und Wünsche brechen angesichts der potenziellen Erbschaft Hoffnungen auf und treiben beklemmende, tragikomische Blüten.

    Als aus der Wohnung der Toten wertvolle Gegenstände spurlos verschwinden, misstraut jeder jedem. Vermeintlich stabile Familienstrukturen bröckeln. Nach der Testamentseröffnung spitzt sich die Lage weiter zu, der Kampf der Erben beginnt. Schwestern gegen Brüder, Cousins gegen Cousinen, Nichten und Neffen gegen Tanten – quer durch die Familien verlaufen die Fronten.

    Fanni Wünsche rechnet sich als Patenkind der Erbtante größere Chancen aus und wiegt sich in Sicherheit. Andere dagegen verlieren ihre Interessen nie aus den Augen und helfen der Gerechtigkeit gerne etwas nach.

    Lange schwelende Konflikte entzünden sich an dieser Erbschaftsangelegenheit, bei der Bäume unvermutet eine wichtige Rolle spielen.

    Die Autorin

    Nach Oberfranken, Freiburg, Mainz, Wien und Caracas bekennende Karlsruherin mit immerwährendem Hang zum Schreiben tragikomischer Texte.

    Der Maler

    Horst Leyendecker wohnt und arbeitet seit Jahrzehnten in Karlsruhe-Grötzingen und malt vorwiegend Landschaftsbilder.

    horstleyendecker.wordpress.com

    Moral ist gut, Erbschaft ist besser.

    Theodor Fontane

    1.

    Der Leipziger Südfriedhof ersoff in Schnee.

    Die Flocken fielen, fielen wie von weit und der Himmel lastete und drückte und senkte sich über die Parklandschaft. Schneefahnen wehten herab im Wind, trostlose arme Seelen. Sie breiteten sich über Gräber und Wege, wickelten sich um Bäume, die mit schwarzen Ästen in den Himmel stachen, legten Decken über Straßen und Wege, rollten Teppiche aus in die Ewigkeit. Ein dunkler Fleck von Menschen sammelte sich im beziehungslosen Weiß. Einzeln waren sie aus dem kleinen Blumenladen herausgetreten, wo sie, Mann um Mann, Frau um Frau, jeder ein Sträußchen von drei mit etwas Tannengrün zusammengebundenen Rosen gekauft hatten als letzten Gruß an die ganz unerwartet dahingegangene Erbtante Leni. Der eine hatte sich für ein zartes Gelb, der andere für ein dunkles Rot entschieden. Ein Dritter hatte sich nicht entschließen können und war bei einem Farbton zwischen Lachs und Rosa hängen geblieben. Wieder ein anderer wollte dem Anlass so gerecht werden wie der Winterhimmel und hatte Weiß gewählt. Hier war der Ort, wo man in die Ewigkeit investierte.

    So standen sie beisammen mit ihren Sträußchen, Figuren in einem Spiel, dessen Ausgang ungewiss war.

    Vor ihnen erstreckte sich die unermessliche Allee, die zu der weit entfernten Aussegnungshalle führte, hinter dem stetigen Flockenfall erahnte man ihre Umrisse.

    Fanni Wünsche, das Patenkind der Verstorbenen, und ihre Cousine Doris Rothermund trafen gegen halb ein Uhr ein, chauffiert von ihrem Vetter Klaus, der einem anderen Zweig der Sippe entstammte und sie auch schon in die Innenstadt begleitet hatte. Sie kamen vom Amtsgericht, wo ihnen als Stellvertreterinnen ihrer beider Familien an eben diesem Vormittag Leni Bertolds Testament eröffnet worden war.

    Als die drei aus dem Wagen stiegen, gab es die familienübliche Begrüßung, Küsschen hier, Küsschen da, Küsschen dort. Die Gesellschaft bildete Grüppchen, die nacheinander den langen Weg zur Trauerfeier antraten, endlos dehnte sich die weiße Straße. Ebenso weit zog sich die Schar der trauernden Verwandtschaft auseinander, wie Fanni bemerkte, als sie sich einmal umdrehte.

    Fannis Schwester Mona und ihre Cousine Doris blieben immer wieder stehen, zwischen sich die greise Mutter und Tante Hertha Rothermund. Von beiden Seiten her versuchten sie ihr vermutlich gerade beizubringen, in welch unerwarteter Erbengemeinschaft sie sich nun befand.

    Denn entgegen allen Erwartungen war ihr als der nächsten Anverwandten Lenis und folglich Hauptleidtragenden nur ein Drittel des Erbes zugefallen. Das Gesamterbe musste sie sich mit dem Lebensgefährten und darüber hinaus noch mit einem Jugendfreund Lenis teilen, die der Verstorbenen während der DDR-Zeit in Leipzig zur Seite gestanden hatten, also fast ihr ganzes Leben lang. Die weitläufige Westverwandtschaft hingegen hatte den Kontakt zu ihr mit Briefen, Karten und Päckchen gehalten und an den Weihnachtsfeiertagen eine Kerze ins Fenster gestellt.

    Fanni führte mit Beate den Zug an, der in der weißen Ewigkeitswatte nicht vorwärtszukommen schien. Sie waren unschwer als Schwestern zu erkennen. Beide waren etwa gleich groß und hatten ehemals braune krause Locken, die jetzt von grauen Strähnen durchzogen waren, vor allem bei Beate überwog schon das Weiß. Fanni zog sich im Gehen die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und drängte voran. Sie fror und wollte nach ihrer glücklosen Odyssee durch das Labyrinth des Amtsgerichts endlich irgendwo ankommen, und sei es am Grabe.

    Die Damen der Trauergesellschaft trugen fast ausnahmslos lange schwarze Kapuzenmäntel, worin sie den unbeirrbaren Nornen glichen, die, von Schneeseelen umflattert, einer ihrer Beratungen zustrebten. Und wie die Schicksalsweberinnen in der altnordischen Sagenwelt sahen sie einander partout nicht ins Gesicht.

    Die Trauerhalle, ein ehrfurchtgebietendes Bauwerk der Gründerzeit, drohte die Lebenden schon durch seine bloßen Ausmaße zu erschlagen. Rechts neben dem Eingang befand sich ein Blumen-und Urnenwagen mit dem Namensschild Bertold.

    „Unserer!", dachte Fanni und machte sich daran, die darauf befindlichen Gestecke zu mustern, um das von ihr in Auftrag gegebene zu identifizieren. Doch bevor ihr das gelang, kam ein gesetzter Herr in schwarzem Gewand auf sie zu.

    „Sind Sie Fanni Wünsche? Eigentlich wollte ich ja mit Frau Doris Rothermund, von der wir den Auftrag ..."

    Fanni sah sich um. Doris befand sich weit abgeschlagen am Ende der Trauergesellschaft, wo sie offensichtlich weiterhin damit zu tun hatte, ihrer Mutter die verwirrenden Modalitäten des Testaments zu erläutern. Diese schüttelte wieder und wieder den Kopf, was Doris zu immer heftigeren Gebärden veranlasste.

    Ehe Fanni etwas erwidern konnte, fuhr der Schwarzgewandete eifrig fort: „Aber von Ihnen, Frau Wünsche, habe ich ja einige Informationen über die liebe Verstorbene erhalten, sie war Ihre Patentante, nicht? Kommen Sie mal mit, was soll ich sagen, wen soll ich denn nu namentlich erwähnen?"

    Er blätterte in seinem Ordner, in dem ungeordnet Faxe und Briefe lagen.

    „Erwähnen Sie doch die beiden betroffenen Familien Rothermund und Wünsche, das ist am einfachsten."

    „Gut, und dann haben wir noch ein Problem, mischte sich ein anderer Mitarbeiter des Bestattungsinstituts ein, „kommen Sie mit, ich muss Ihnen was zeigen.

    Sie durchquerten einen Wartesaal, in dem andere Trauernde warteten, kamen in einen dritten, in dem sie eigentlich warten sollten, was ihnen in rüdem Ton im Vorbeieilen mitgeteilt wurde. Fanni hastete mit wehendem schwarzem Mantel hinter den Trauerfachleuten her – wie kam sie eigentlich dazu, ihnen behilflich zu sein? Organisiert hatte die Feier doch Doris? Aber nur geschwinde, die Toten warten nicht.

    Im vorderen Teil des Trauersaals, dem Chorraum einer ehemaligen Kirche, befand sich anstelle des Altars ein Strauß Gladiolen. Davor gähnte der Höllenrachen einer riesigen Öffnung im Fußboden, die weitgehend von einer Sargattrappe ausgefüllt wurde. Sie überstieg jegliches Menschenmaß und erinnerte an einen Pharaonenschrein.

    Darin befanden sich doch wohl nicht die spärlichen Überreste der Tante? Sie war doch wohl schon eingeäschert worden? Fanni schoss ein Erinnerungsfetzen daran durch den Kopf, wie der Sarg bei der Beerdigung ihrer Mutter langsam im Boden versunken war, begleitet von den Klängen getragener Musik, die auch dem Härtestgesottenen noch ein Quäntchen Trauer zu entlocken vermochte. Das würde ihr hier und heute hoffentlich erspart bleiben? Der Name Lenis als ihrer Patentante war ihr von Kindesbeinen an eingeprägt worden, doch näher kennengelernt hatten sie sich erst, als Fanni schon eine erwachsene Frau und Leni alt war.

    Vor dem Riesenschrein stand eine schlanke Säule und darauf prangte die Urne königsblau.

    „Sehen Sie mal die Daten, stimmt auch alles?"

    Der Trauerfachmann las mit gemessener Stimme vom Urnendeckel ab für den Fall, dass Fanni dessen nicht mächtig sei:

    „Gertrud Helene Bertold, geboren 20.9.1928, gestorben 22.12.2001, stimmt ’n das?"

    Fanni zögerte, sie war sich nicht ganz sicher, ob das Geburtsdatum richtig angegeben war. Geburtstage im Gedächtnis zu behalten und zum richtigen Zeitpunkt parat zu haben, das war nicht ihre Stärke. Aber war bei diesem Sterben und den folgenden Ereignissen nicht sowieso schon alles aus der Spur gelaufen? Ach was, dachte sie, wenn sie jetzt auch noch unter einem falschen Datum beerdigt wird, ist das auch egal. Und sie gab ihre Zustimmung. Sichtlich erleichtert meinte der Bestattungsmann, dass er nun wohl die Urne schließen könne, Deckel drauf und fertig.

    Nun hatte aber der Trauerredner noch ein Problem.

    „Da ist ein Gesteck, da steht drauf, ‚Dein treuer Lebensgefährte Werner‘, das gehört doch wohl zu einer anderen Bestattung? Ich weiß gar nichts davon, da hat mir keiner was gesagt, stimmt ’n das?"

    In Fanni stieg ein Anflug leichten Zornes auf. Dass jener Mensch die Dreistigkeit besaß!

    „Was soll ich denn nu in meiner Rede sagen, soll ich ihn beim Namen nennen?"

    Sie überlegte kurz.

    „Sie können ihn ja erwähnen, aber sonst weiß keiner was Genaues, in den letzten Jahren vielleicht?"

    Mit Befriedigung stellte sie fest, dass ihr eigenes Gesteck das des Lebensgefährten an Umfang, Höhe und Qualität bei Weitem übertraf. Es war inzwischen vor der Urne auf den Fußboden drapiert worden, die Schleifen wie zu einer letzten Umarmung ausgebreitet, die Widmung gut lesbar.

    Die Fachleute bezeichneten es als Hauptgesteck, obwohl weder Fanni noch sonst ein Mitglied der Familie Wünsche zu den Glücklichen gehörte, die im Testament erwähnt waren. Wie schäbig nahm sich dagegen das Blumenkreuz des Lebensgefährten und Drittelerben aus! Es teilte sich auf dem inzwischen herbeigebrachten Blumenwagen den Platz mit vielen anderen Sträußen und Gestecken und ging in der Masse unter. Recht geschah ihm!

    Fanni nahm den Weg zurück, der Wartesaal war inzwischen gut gefüllt. Sie erfuhr von Beate und Mona, die verstohlene Zeichen machten, dass Günter Leiwand, der Jugendfreund Lenis, samt Schwester sowie Werner Amendt, der Lebensgefährte, inzwischen eingetroffen waren – die Dreistigkeit! Kein Blitz fuhr ins Dach, keine mahnende Stimme ertönte aus der Höhe. Stattdessen strebte, klein und rund unter ihrem schwarzen Glockenhut, Frau Leiwand-Tetzlaff dem Eingang zur Aussegnungshalle zu. Sie machte kurze, flinke Schritte, sodass ihr Gang wirkte, als bewege sie sich auf Rollen vorwärts. Vermutlich wollte sie sich einen der besten Plätze sichern.

    „Moment mal, rief ihr Fanni hinterher, „wir werden aufgerufen!

    „Nu, da warten wir halt, bis wir gerufen werden", gab jene mit einem ungerührten Grinsen zurück. Sie wandte sich ab mit dem eigenen Schwung, der Selbstsicherheit ausstrahlt und die Gewissheit derjenigen, die im Besitze der Wahrheit und anderer Kostbarkeiten sind.

    Endlich kam der erwartete Aufruf. Ehe noch jemand von der restlichen Trauergemeinde reagieren konnte, standen die Familienmitglieder schon bereit und sammelten sich wie ein Mann um die Hauptleidtragende.

    Schulterschluss, jetzt kam es darauf an! Tante Hertha wurde in die vorderste Reihe geschoben, flankiert von Tochter Doris und Nichte Mona, die sie stützten. Gleich danach schloss sich Fanni mit Beate an, dahinter folgten die anderen Familienmitglieder bis hin zu denen, die nicht blutsverwandt mit der Verstorbenen waren. Der erkleckliche Rest drängte ungeordnet nach.

    Wie in einer Kirche waren Stühle in zwei Blöcken aufgestellt, dazwischen befand sich ein Mittelgang. Der ehemalige Altarraum war bis auf das riesige Blumengebinde aus Gladiolen leer und verwies so auf die vergangenen fünfzig Jahre des real existierenden Sozialismus.

    Im rechten Block platzierten sich in erster Reihe die guten Freunde, die die Tante in den Tod begleitet hatten. Der Lebensgefährte saß unmittelbar vor seinem Trauergebinde, dessen Schleife die Aufschrift trug „Ein Wiedersehen in einem anderen Leben", und hatte von seinem Platz aus gute Vergleichsmöglichkeiten mit dem Hauptgesteck. Fanni stupste Beate sachte in die Seite und wies sie mit dem Kinn darauf hin. Wie stellte er sich eigentlich das jenseitige Wiedersehen vor? Leni würde ihm doch wohl die Hölle heiß machen!

    Neben ihm breiteten sich gewichtig Leiwand mit seiner Schwester Magda Leiwand-Tetzlaff und deren Gatte aus.

    Damit war die Reihe voll.

    Im linken Block, direkt vor dem Rednerpult, hatte die Familie Platz genommen. Als der leiblichen Cousine gebührte Tante Hertha der Vorrang und damit der erste Platz. Ihr schlossen sich Tochter Doris und ihre drei Nichten Beate, Mona und Fanni an, hinter denen deren Bruder Hans Wünsche Platz nahm. Der hatte Tante Leni seit Jahrzehnten besser gekannt als Doris in ihrem ganzen Leben und schien wie vor den Kopf geschlagen angesichts der Botschaft des Testaments. Fanni hörte ihn hinter sich scharf die Luft ausstoßen, als er sich setzte.

    Ganz vollzählig war die Familie nicht, denn Hertha Rothermunds ältere Tochter Bärbel fehlte. Fanni fragte sich, warum. Sie hatte Mona sagen hören, die beiden Töchter Tante Herthas seien in Streit miteinander geraten, als es um die Vorbereitung der Beerdigung ging. Was hatte Bärbel daran gestört? Fanni hätte das gern gewusst und vermisste sie bei dieser Gelegenheit, die Anlass zu einem veritablen Familientreffen gegeben hatte. Da hatte Tante Leni, die selbst kein Familienfest ausgelassen hatte, wenigstens am Ende einmal die Verwandtschaft eingeladen, und schon ging alles drunter und drüber.

    Fanni schrak zusammen, denn zur Einstimmung erklang auf dem Harmonium ein Bachchoral. Nun hatte jeder ausreichend Gelegenheit, die Urne zu betrachten, die inzwischen mit einem zierlich geflochtenen Kranz geschmückt war. Prompt presste Doris ein paar Tränen hervor, die sie wie schon als Kind mit Daumen und Zeigefinger noch auf der Wange zerdrückte, als handle es sich um lästige Käferchen. Doris konnte dieses Getier, das vereinzelt über ihre Haut krabbelte, wie auf Bestellung aus seinem Reservoir hervorlocken, das wusste Fanni seit Kindertagen. Interessiert beobachtete sie, wie immer wieder Daumen und Zeigefinger über die Wange krochen und das Ungeziefer quetschten.

    Der Redner trat ans Pult. Seine Stimme war auf merkwürdige Weise mutiert. Er holte sie jetzt tief aus unermesslichen Abgründen hervor, ließ sie grollen und rollen, formte sie in seiner Kehle zu dicken Trauerklößen, die sich zu einem gewaltigen Aufschrei zusammenballen wollten – dann brach er die Empfängnis ab und stieß sie mit der Zunge in den Rachen zurück. Fletus interruptus, genug des Schmerzes. Doris versiegten die Tränen.

    „Liebe Cousine Hertha, liebes Patenkind Fanni, liebe Familien Wünsche und Rothermund, liebe Kollegen der Verstorbenen, liebe Freunde, lieber Lebensgefährte Werner!"

    Hier endete die Aufzählung. Mit einem Mal ruhten die unruhig umherschießenden Augen des Lebensgefährten auf dem Redner.

    Dieser ließ die nun in seiner Kehle kullernden Knödel das Leben der lieben Verstorbenen resümieren. Da er nur von Fanni einige persönliche Informationen erhalten hatte, bestand der größte Teil seiner Ausführungen im Vorlesen des Briefes, den sie an ihn geschrieben hatte. Das Rednerpult befand sich fast direkt vor ihr, und so konnte er immer wieder Blickkontakt mit ihr aufnehmen.

    Beifall heischend schaute er sie an, recht so? Mach ich es nicht gut?

    Fanni starrte auf den nackten Putz des Altarraums und vor ihren Augen bevölkerten sich die kahlen Wände. Alle, alle wurden sie vom Sensenmann zum letzten Tänzchen gerufen: Da schritt der König hinweg über den Bettelmann, der sich im Veitstanz beiseite krümmte. Der Bischof schwenkte den Hirtenstab wie ein Tanzmeister, während ihm die Mitra vom Haupt zu rutschen drohte. Der Ritter hatte sein Schwert zur Seite gelegt und stolzierte vor dem Jungfräulein, das im Reigen hüpfte und die hochbetagte, zahnlos kichernde Matriarchin mit sich zog. Der Patrizier wollte von derlei letaler Gleichmacherei nichts wissen, und mit gerümpfter Nase hob er das Bein gegen die Handwerker.

    Diese tappten im Gänsemarsch einher und drehten ihre Mützen in den Händen. Innig ineinander verschlungene Liebespaare hatten ihren eigenen Rhythmus gefunden und bewegten sich gemeinsam, dennoch unaufhaltsam dem makabren Rufer entgegen. Hinter ihnen drängten sich gesichtslose Gestalten, marschierten im Gleichschritt, die Kaderakte unter dem Arm, die Hand zur Faust geballt.

    Es half ihnen nichts, sie mussten dran glauben. Auch mischten sich ledig gebliebene Tanten darein und ihre verheirateten Lebensgefährten, die ihnen ein Bukett mit Schleife und Widmung hinterhertrugen.

    Der Redner war inzwischen an einer Stelle seiner Ausführungen angelangt, die er der Bedeutung von Helenes Vater für ihr Gefühlsleben gewidmet hatte. In seiner Ergriffenheit fand er die entsprechende Passage in Fannis Brief nicht gleich und so kam es, dass er Lenis Vater nicht als die „größte, sondern als die „richtige Liebe ihres Lebens bezeichnete. Der Blick

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1