AI
Von Tamás Kiss und Liliane Ritzi
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Über dieses E-Book
Die Hauptfigur ist ein 17-jähriger Punker, der sich auf seinem Hof in 9054 Haslen langweilt. Seine Eltern sind tot, seine Grossmutter im Heim, der Alltag im St. Antonius Gymnasium trist und das Bandprojekt auf Eis. Doch dann taucht Xenia auf. Xenia ist aus der Ukraine zugeflüchtet, mag Partys, Alpenbitter und Männer, die wissen, was sie wollen. Als eines Nachts ein UFO auf der Waldlichtung oberhalb der «Linde» landet, kommen die Dinge so richtig ins Rollen. Und es beginnt ein Abenteuer im Schatten des Säntis, unvergesslich wie die Reise von Arthur Dent und seinen Helden zum Restaurant am Ende des Universums.
Tamás Kiss
Tamás Kiss, 1966 in Zürich als Sohn einer Schweizer Mutter und eines aus Ungarn geflüchteten Vaters geboren, hat schon früh viel Unerklärliches gesehen. Mit dreizehn musste er auf eine katholische Privatschule. Anschliessend ging er aufs Gymnasium und nach einem Zwischenjahr als Eisteeabfüller, Maurer-Handlanger und Sandwichmann folgte ein Studium der Jurisprudenz an der Uni Zürich. Weil er Streitereien nicht mag, wurde er aber nicht Anwalt oder Richter, sondern Werber. Als Texter und Creative Director in verschiedenen in- und ausländischen Werbeagenturen, irgendwann auch im eigenen Hot Shop, hat er sich in den letzten Jahrzehnten Fantastilliarden von Ideen aus den Rippen geschwitzt. 2009 erschien sein Debütroman «Früher im Licht». Heute treibt er das Bauen ohne Land voran und ist am glücklichsten, wenn er zusammen mit seinen Söhnen Messi beim Zaubern zuschauen kann.
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AI - Tamás Kiss
AI
Tamás Kiss
Für János und Béla,
meine beiden grössten Helden.
Ich
Ich will kein Arschloch sein. Ich will andere Menschen nicht verletzen. Im letzten Schuljahr haben wir uns über andere Leute lustig gemacht, weil wir es verdammt lustig fanden. Aber heute will ich nicht, dass sich Leute meinetwegen schlecht fühlen. AI geht es auch darum, dass es fucking cool ist, ein guter Mensch zu sein. Es ist fucking cool, sich um andere zu kümmern. Es ist fucking cool, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das heisst aber nicht, dass man nicht wild sein, und sich über alles Mögliche lustig machen kann.
Mein 17. Geburtstag hatte fantastisch begonnen. Ich hatte mit Garantie die besten zehn Minuten meines bisherigen Lebens. Kurz nachdem ich im Stall meinen Kaffee getrunken, meine Flöckli verschlungen, und mein bisschen Gras geraucht hatte, rief mich Xenia an und fragte mich, ob ich abends mit ihr auf eine Party gehen wolle. Mein Herz flimmerte. Xenia war die Neue, zugeflüchtet aus der Ukraine. Ich war nicht nur in ihren süssen Dialekt verknallt. Und so grinste ich gefühlt minutenlang wie ein Honigkuchenpferd, sagte dann aber doch noch zu. Sie sagte: «Mega.» Wir verabredeten uns für acht Uhr am Dorfausgang. Von dort war es mit Signers Kawasaki ein Katzensprung bis hinunter nach St. Gallen, dem Ort des Geschehens.
«Glückwunsch, Blödmann», sagte Brülisauer.
Heute fühle ich mich wohler in meiner Haut als je zuvor. Ich habe mich ewig gefragt, wer ich bin und wer ich sein will. Bei AI dachte ich, ich wüsste es: ein rebellischer Punkrocker. Fuck you, fuck you, fuck you – wir Jungs tun, was wir wollen, haben unseren Spass und machen uns über alle und alles lustig. Aber dann wird man älter. Wenn man erste Gigs hatte, etwas Erfolg hatte, vielleicht eine Freundin hat, fühlt man sich so, als ob man nur noch so tut, als ob man sich um nichts gross kümmert. Natürlich ist das noch in einem drin, aber so zu tun, als wäre das alles, ist einfach nicht authentisch. In einer Punkband muss man das aber sein. Zwingend.
Inauen vom Sozialamt latschte immer in Birkenstöcken herum. Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch und kratzte erstmal ausgiebig seine Ellenbogen, bevor er meinen Aufsatz vor sich auf den Tisch legte.
Ich will ernsthafter werden, aber das heisst nicht, dass ich keine guten Penis-Witze mag.
Dass ich mit meinem Titel Inauens Erwartungen kaum erfüllen würde, schwante mir bereits.
«Also», sagte er dann aber zu meiner Überraschung, «wie geht denn dein Lieblings-Penis-Witz?»
Da brauchte ich nicht lange zu überlegen: «Wer ist der beliebteste Typ in der FKK-Kolonie?»
Keine Reaktion.
«Derjenige, der in jeder Hand eine Tasse Kaffee und dazu noch ein halbes Dutzend Donuts tragen kann.»
Inauen verzog keine Miene. Wie ein Chemiker bei einem Versuch rührte er eine Unmenge Rohzucker und einen Hauch Hafermilch in seinen Tee.
«Nicht lustig?», fragte ich ihn. Allerdings war das mehr so eine Proforma-Frage, denn sein Urteil war mir egal. Ich würde mich abends mit Xenia aus Cherson treffen. Ich lächelte ihr zu, sie lächelte hinreissend zurück.
Für meinen Witz erntete ich einen Dreiminuten-Sozialarbeiterblick. Das heisst, da war erstmal peinliche Stille, bis er sagte: «Ich hab’ schon Übleres gehört.» Auch wenn er mich mit dieser Aussage ein zweites Mal überraschte, sah er mich dann aber doch irgendwie verzweifelt an; mitleidig auch, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Schliesslich griff er mit seinen Spinnenfingern wieder nach dem Aufsatz und machte weiter.
Ich habe immer Leute um mich herum, die mir sagen: Du musst vorsichtig sein, sonst verdonnern dich die in Appenzell unten zu einem halben Jahr verschärftem Zivildienst. Und dann hockst du auf einmal wochenlang in irgendeiner Leitstelle herum, die aussieht wie ein stillgelegtes russisches AKW. Die abgefuckten Couches, auf denen praktisch rund um die Uhr Zivis in einer Art Wachkoma herumliegen, haben deine Vorgänger frisch aus dem Sperrmüll gezogen. In einer dieser Couches soll übrigens eine Maus wohnen. Kein Scherz, Koller hat sie mit eigenen Augen ein- und ausgehen sehen. Und dann geht es für dich darum, mit einem Zivi-Bomber irgendwelche belämmerten Sonderschüler von Heim zu Heim zu schippern, Mongos zu füttern, im Altersheim Ärsche abzuwischen und so Scheiss mehr. Wie in einem real gewordenen Police Academy-Film, in dem durchgeknallte Zivis in lustigen Uniformen die Hauptrollen spielen. Du wirst also von der Regierung gecancelt. Aber ich sage dann: Ich bin ein Punker. Und Punker kümmern sich nicht um diesen Scheiss. Würde ich mir Sorgen darum machen, gecancelt zu werden, würde es alles auslöschen, was ich als Teenager getan habe, wirklich verrückten, dummen Büffelscheiss. Jetzt soll ich mich plötzlich darum kümmern, was andere Leute denken?
Inauen stoppte und fixierte mich: «Zwei Fragen hätt’ ich zu dieser Passage.»
«Bitteschön!»
«Erstens: Was für Leute hast du da eigentlich um dich herum, die dir sowas sagen?»
«Meine Gang.»
«Deine Gang?»
«Meine Gang.»
«Und wer ist in deiner Gang dabei?»
«Brülisauer, Broger, Koller, Signer und Iceman.»
«Iceman?»
«Der kleine Bruder vom Brülisauer», erklärte ich, «der mit dem Top Gun-Fimmel.»
«Sind das die Goofen vom Hopme Brülisauer selig?»
Ich nickte.
«Okay», sagte er. «Und ihr besucht alle zusammen die neusprachliche Unterprima des St. Antonius Gymnasiums in Appenzell?»
«Naja, ich aus bestimmten Gründen bis auf weiteres erstmal nicht mehr», sagte ich, «und Iceman dümpelt noch in der Unterstufe herum.»
Jetzt nickte Inauen.
«Die zweite Frage?»
«Was genau meinst du mit wirklich verrücktem, dummem Büffelscheiss?»
Ich grinste, und entfernte ein Stäubchen von meinem Hoody, blies es kunstvoll davon. Dann verschränkte ich die Arme, lehnte mich zurück und schaute ihm direkt in die Augen. Ein Psychospielchen, das ich kürzlich in einem Mafiafilm mitgeschnitten hatte. Nach einer knappen Minute gab er auf und nahm sich den nächsten Abschnitt vor.
Yeah, ich denke, in den letzten paar Jahren steckte ich da etwas zu tief drin. Ich begann, etwas den Typen zu vergessen, den Sie hier gerade vor sich haben. Ich bin etwas zu tief auf diese andere Seite gegangen, statt mich mehr mit dem zu beschäftigen, worum ich mich eigentlich kümmern soll: die künstlerische Seite. Aber ich musste das tun! Das Pendel ist aus gutem Grund in diese Richtung geschwungen. Und jetzt schwingt es zurück, und ich kann mich wieder voll auf das konzentrieren, weshalb ich wahrscheinlich auf dieser Erde bin: die Leute über meine Kunst wachrütteln. Aber das könnte ich nicht, wenn wir nicht all die Dinge getan hätten, die wir halt getan haben.
«Sprichst du damit auf die Musik an oder auf euer abseitiges Hobby?», fragte Inauen. «UFOs und Ausserirdische?»
«Letzteres», erklärte ich und war stolz darauf, dass ich mit dieser Wahnsinnswendung gerade ein bisschen klang wie Schawalder, unser Deutschlehrer. «Wirklich abseitig ist allerdings vielmehr, dass zu der Zeit, als ich mich mit dieser Thematik zu befassen begann, die Welt noch eine Scheibe war und wir von allen nur ausgelacht wurden. Aber heute veranstaltet die NASA Symposien über Leben im Universum. Und auch der Vatikan spricht darüber, ja, es gibt Leben da draussen, und wie das mit der kirchlichen Sichtweise der Existenz kollidiert oder eben nicht.»
Inauen sagte nichts, sah mich einfach nur weiter an.
«Ich befass’ mich seit längerem mit diesem Thema. Ich hab’ Quellen in der Regierung und im Militär, Hauptmann Brülisauer hat mir vor seinem Tod Berichte von Sichtungen und Fotos hinterlassen. Mein Telefon wurde angezapft. Ich hab’ schon eine Menge seltsamer Dinge erlebt – die Leute würden mir nicht glauben, wenn ich es ihnen erzählte. Aber das passiert eben, wenn man anfängt, mit Dutzenden von Wissenschaftlern von verschiedenen Universitäten im ganzen Land eine E-Mail-Kette zu bilden, und wenn man anfängt, ältere Wissenschaftler von RUAG Space zu outen, die über die Realität dieser Dinge sprechen, Leute, die 30 Patente halten, Leute, die in unterirdischen Labors auf den Testgeländen von Nevada in Area 51 oder tief im Innern des Gotthardmassivs gearbeitet haben. Das alles geht weit über die simple Aussage hinaus: «Hey, schau mal, das kleine Lichtlein da am Nachthimmel, die grünen Männchen sind wieder unterwegs». Das wird dem Thema einfach nicht gerecht.»
Inauen sagte immer noch nichts. Stattdessen trommelte er mit den Fingern auf den Tisch.
«Warst du denn schon mal in der Area 51?», fragte er schliesslich.
«Nein, da dürft’ ich ja auch gar nicht hin. Die laden keinen Mittelschüler dorthin ein, schon gar keinen, dem gerade eine Auszeit aufgebrummt worden ist.»
«Und was ist mit diesem geheimen Gotthardlabor?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Verstehe.»
Lucky
Am 11. Mai kurz nach Tagesanbruch stiegen zwei F/A-18 vom Militärflugplatz Meiringen