Labyrinthe in der Schweiz
Von Bruno Schnetzer
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Über dieses E-Book
Bruno Schnetzer
Aufgewachsen in Thun, dem Tor zum Berner Oberland. Lehramtsstudium (Mathematik und Naturwissenschaften) an der Universität Bern. Anschließend zweites Studium (Bildungswissenschaften, Philosophie und Psychologie) mit Magisterabschluss. Umfangreiche Tätigkeit an Schulen und in der Lehrerbildung. Er beschäftigt sich seit etlichen Jahren mit Symbolik, Philosophie und Mystik. Seine großen Leidenschaften sind das Lesen und das Reisen. Er ist begeisterter Jakobspilger und Mitglied der „Labyrinth Society“ (TLS). Nach zehnjähriger Arbeit in einer jüdisch-orthodoxen Schule in Zürich ist er wieder ins Berner Oberland zurückgekehrt und lebt seither in der Region Thun.
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Labyrinthe in der Schweiz - Bruno Schnetzer
1 Was ist ein Labyrinth?
Ein Labyrinth bezeichnet ein System von ineinander verschlungenen Linien oder Wegen, die durch viele Wendepunkte gekennzeichnet sind und meist zur Mitte führen. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von Labyrinthen:
Ein-Weg-Labyrinthe und Mehr-Weg-Labyrinthe (Irrgärten)
Abb. 2: Zwei Labyrinth-Arten: Ein-Weg- und Mehr-Weg-Labyrinthe
1.1 Labyrinthe im engeren Sinne: Ein-Weg-Labyrinthe
Hierbei handelt es sich um ein verschlungenes Linien- oder Weg-system, das verzweigungsfrei ist und somit automatisch zum Ziel, meist dem Mittelpunkt, führt. Ein Beispiel ist das Labyrinth in der Kathedrale von Chartres.
1.1.1 Das Labyrinth in der Kathedrale von Chartres
In der Kathedrale von Chartres (geweiht 1260), ca. 90 Kilometer südwestlich von Paris, liegt im Bereich des grossen Westportals mittelschiffig das grosse, kreisförmige Fussbodenlabyrinth von Chartres, das einen Durchmesser von 13 Metern misst. Ihr Erbauer ist unbekannt. Er soll jedoch, so UWE WOLFF, unterhalb seines Labyrinthes begraben sein.
Abb. 3: Schema des Labyrinthes von Chartres
Es führt nur der eine Weg nach vielen Umwegen und Kehren schliesslich in das Zentrum. Das bedeutet, dass man einen bestimmten Weg durchlaufen muss.
Genauer ist der Weg zur Mitte in Chartres 294 Meter lang. Er verläuft durch 11 Gänge mit 34 Wendpunkten (28x 180 Grad und 6x 90 Grad). Die sechsblättrige Rose in der Mitte hat dabei einen Durchmesser von drei Metern. Der kreisförmige Rand des Labyrinthes ist mit 113 Zähnen versehen. Viel Geheimnisvolles rankt sich dabei um dieses vollkommene Labyrinth.
Das Fussbodenlabyrinth in Chartres symbolisiert den „Weg nach Jerusalem". Im Mittelalter nahmen jene, die nicht selbst ins Heilige Land reisen konnten, auf diese Weise an einer symbolischen Pilgerfahrt nach Jerusalem teil, wenn sie es im Gebet und auf den Knien durchwanderten.
Dazu schreiben Marion ZERBST und Werner KAFKA wie folgt in ihrem Buch „Das grosse Lexikon der Symbole":
„Die Labyrinth-Bodenmosaiken in vielen alten Kirchen (z.B. in der Kathedrale in Reims und in Chartres) stellen das menschliche Leben mit all seinen Prüfungen und Leiden dar, die Verstrickungen der Sünde, die den Menschen immer wieder vom geraden Weg abbringen; und in der Mitte wartet das Ziel, das himmlische Jerusalem, das der wahre Gläubige findet, wenn er unbeirrbar immer wieder auf den rechten Weg – den Weg zu Gott – zurückkehrt. Gläubige, die nicht auf eine Wallfahrt ins Heilige Land gehen konnten, hatten durch Betrachtung dieser Mosaike die Möglichkeit, diese Pilgerfahrt zumindest mit den Augen bzw. im Geist nachzuvollziehen." (S.284)
Heutzutage ist das Fussbodenlabyrinth von Chartres nur jeweils freitags begehbar, da an den anderen Tagen diese Fläche für die zahlreichen Kirchgänger bestuhlt ist.
Abb. 4: Das Fussbodenlabyrinth in der Kathedrale von Chartres
1.2 Mehr-Weg-Labyrinthe oder Irrgärten
In diesem System von Linien oder Wegen treten auch Verzweigungen und Sackgassen auf. Ein Verirren ist hierbei möglich und beabsichtigt. Ein Beispiel ist das kretische Labyrinth als Gefängnis für den Minotaurus.
1.2.1 Das mythologische Labyrinth für den Minotaurus
Auf der Insel Kreta lebten König Minos und seine Gemahlin Pasiphae. Sie schenkte ihm bereits mehrere Kinder, darunter auch die Prinzessin Ariadne. Während König Minos auf Kriegszug war, verliebte sie sich in einen schönen, kräftigen Stier. Mit Hilfe von Daidalos, einem genialen Erfinder, Baumeister und Bildhauer, gelang es Pasiphae sich mit dem Stier geschlechtlich zu vereinigen.
Als König Minos siegreich zurückkehrte, hatte sie ihm ein neues Wesen geboren. Eine Kreatur mit Menschenkörper und Stierkopf, der sogenannte Minotaurus. Versehen mit einem starken Hals, grossen Nüstern und spitzigen Hörnern wurde er rasch kräftiger.
Was würde mit der blühenden Insel Kreta geschehen, wenn der Minotaurus frei wäre, frug sich König Minos nachdenklich. So beauftragte er Daidalos, eine Art Leonardo da Vinci der Antike, für den Minotaurus ein Gefängnis zu bauen, aus dem er nicht ausbrechen könne.
Daidalos baute daraufhin ein Labyrinth mit Irrgängen und Wegen ohne Anfang und Ende, so verwinkelt, verzweigt, verzwickt, verschlungen und unübersichtlich, dass der Minotaurus daraus nie würde entfliehen können. Der Minotaurus wurde bis in die tiefste Mitte des Labyrinths gebracht. Dort wurde er losgebunden und lebte seither dort.
Zu dieser Zeit musste Athen gegenüber dem siegreichen Kreta einen Tribut zollen. Alle neun Jahre musste es sieben junge, unverheiratete Männer und Frauen nach Kreta schicken. Dort wurden sie in das riesige Labyrinth gebracht, wo sie nicht wieder herausfinden konnten und früher oder später vom Minotaurus getötet und verschlungen wurden.
Theseus, der Königssohn Athens, hörte die Wehklagen seines Volkes darüber und nahm sich vor, dem ein Ende zu setzen, indem er den Minotaurus umbringen würde. Bei der Auslosung der 14 jungen Opfer meldete er sich freiwillig.
Vor seiner Abreise fragte er das Orakel von Delphi um Rat. „Wähle die Göttin der Liebe zur Führerin und erbitte ihr Geleit, erhielt er zur Antwort, „so wirst du erfolgreich heimkehren!
Vergeblich beschwor König Aigeus seinen Sohn, es doch bleiben zu lassen. Dieser beruhigte ihn, indem er seinem Vater versicherte, dass er glücklich heimkehren werde. Sein Schiff werde mit schwarzen Trauersegeln starten, aber mit weissen Siegessegeln zurückkehren.
Mit günstigem Wind gelangte Theseus mit seinen Gefährten nach Kreta und trat vor den König Minos. Als die kretische Königstochter Ariadne den herrlichen Theseus erblickte, verliebte sie sich in ihn. Sie sagte ihm ihre Hilfe zu und gab ihm einen Wollknäuel, den er am Eingang des Labyrinthes anknüpfen und dann abrollen solle. So werde er wieder sicher den Ausgang finden.
Voller Zuversicht drang Theseus in das Labyrinth ein und erschlug den Minotaurus. Der Faden der Ariadne führte ihn und die seinen wieder sicher zum Eingang zurück.
Abb. 5: Theseus und Minotaurus (Villa Albani, Rom)
Zusammen mit der liebreichen Ariadne flohen die Todgeweihten, nachdem sie die kretischen Schiffe unbrauchbar gemacht hatten, auf ihrem Schiff.
Als sie auf der Insel Naxos landeten, erschien Theseus der Gott Dionysos im Traume und gebot ihm, die schöne Ariadne als seine Frau zu überlassen. Da er in Götterfurcht erzogen worden war und den Gotteszorn scheute, liess er die Königstochter allein auf der Insel zurück und segelte heimwärts.
Niedergeschlagen über den Raub der Ariadne vergassen sie in ihrer Traurigkeit, dass ihr Schiff noch die schwarzen Trauersegel aufgezogen hatte. Als König Aigeus auf einem Felsen sehnsuchtsvoll nach dem heimkehrenden Schiff Ausschau hielt und dabei die schwarzen Trauersegel erkannte, stürzte er sich wegen dem vermeintlichen Tode seines Sohnes vor lauter Lebensüberdruss in das Meer, das seither nach ihm das Ägäische Meer heisst.
Nach diesem schweren Verlust wurde Theseus zum König Athens gewählt und war sodann ein Herrscher, der sein Land in Weisheit und Gerechtigkeit regierte.
Doch wo liegt nun das von Daidalos erbaute kretische Labyrinth? Als historische Vorlage für das Labyrinth gilt vermutlich der Palast von Knossos, ein mehrstöckiger Gebäudekomplex, etwa fünf Kilometer südlich von Iraklio, der Hauptstadt Kretas. Sir Arthur EVANS, ein britischer Archäologe, der ihn Anfang des 19. Jahrhunderts ausgrub, sah diesen mit seinen zahlreichen Kammern (ca. 1200 Räume!), Gängen und ihren Sackgassen als das geschichtliche Vorbild für das mythologische Labyrinth. Dieser Palast, in dem der Stier verehrt wurde und Stierspiele stattfanden, wurde durch mehrere Erdbeben stark beschädigt und letztendlich durch einen Brand (vermutlich im 14. Jh. v. Chr.) endgültig zerstört.