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Chrononomicon: Eine historische Cthulhu-Anthologie
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Chrononomicon: Eine historische Cthulhu-Anthologie
eBook347 Seiten4 Stunden

Chrononomicon: Eine historische Cthulhu-Anthologie

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Über dieses E-Book

Schon seit Urzeiten bedrohen die Alten Götter und andere mächtige Wesen aus anderen Dimensionen die Erde und ihre Bewohner. Sie wollen diese Welt zerschlagen, die Kontinente bersten lassen, das Leben verbrennen …
Habt ihr euch jemals gefragt, was passieren würde, wenn die Alten Götter aus H. P. Lovecrafts Universum auf mutige Menschen der Antike, des Mittelalters oder gar der Steinzeit treffen würden? Ägypter, Germanen, Inkas, Kelten, Römer, Wikinger?
Vierzehn Autorinnen und Autoren betreten historische Universen vom Anbeginn der Menschheit bis zur Neuzeit, und schildern diesen Kampf gegen grausame Gegner aus Raum und Zeit.

Titelbild & Illustrationen von Detlef Klewer.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum7. Mai 2024
ISBN9783957657244
Chrononomicon: Eine historische Cthulhu-Anthologie

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    Buchvorschau

    Chrononomicon - Detlef Klewer

    Manuel Otto Bendrin

    Meister, der nicht ist

    »Die Sonne geht unter.«

    Nabraziti hielt einen Moment inne und richtete den Blick auf den Horizont. Tatsächlich war es so weit. Sie warf die letzten Holzstücke auf den großen Stoß und verabschiedete sich mit knappem Nicken von den Frauen der Stadt Talianki. Diese arbeiteten mit ernsten Mienen weiter. Sie lagen gut in der Zeit.

    Die junge Priesterin eilte durch Taliankis weite Straßen zum im Zentrum der Metropole gelegenen offenen Platz, der etwa die Hälfte der Stadt einnahm und sechzig Schritt staubigen Sandes durchmaß. Ihn umschloss ein größeres, grasbewachsenes und von Wegen durchzogenes Rund, das bis zum heutigen Tag als Weide gedient hatte. Lediglich einige hölzerne Ställe befanden sich hier. Inmitten des Platzes warteten bereits die übrigen elf Priesterinnen. Beiläufig entdeckten Nabrazitis Augen die benötigten Utensilien: große Krüge mit Erdöl am Rand des Orts, Trommeln und Farbschalen in der Mitte.

    »Bereit?«, fragte die Älteste, als Nabraziti ihren Platz eingenommen hatte.

    Die Anderen nickten feierlich. So oft hatten sie das Ritual geübt. Mit zitternden Fingern streifte Nabraziti im Gleichklang mit den Gefährtinnen ihr Kleid ab. Die Körper aller Priesterinnen schmückten tätowierte Spiralen und Muster. Nur die Gesichter waren frei.

    Mit dem Erlöschen des letzten Sonnenstrahls frischte der Wind auf und Nabraziti fröstelte unwillkürlich, als sie sich mit der Farbe in der Hand nach links wandte, um das Muster im Antlitz der neben ihr stehenden Frau zu vollenden. Zeitgleich malte diese dieselben Formen auf Nabrazitis Haut. Kribbelnde Wärme entstand, wo die Farbe antrocknete.

    Danach hoben sie die Trommeln an ihre Taillen. Sanft hauchte Nabraziti alle Unsicherheit aus und ließ die Finger wie auf ein unsichtbares Zeichen hin beinahe zärtlich einen leisen, harmonischen Takt klopfen. Mit geschlossenen Augen gab sie sich ganz dem Rhythmus hin. Wie von selbst tanzten die Füße der Priesterinnen in jahrelang einstudierter Choreografie über den Platz. Ihre nackten Zehen und Fersen gruben dabei Linien, Spiralen und Triskelen in die trockene Erde.

    So überzogen allmählich komplexe Muster die gesamte Fläche, während das letzte Tageslicht unter nahendem Donnergrollen der Dunkelheit wich.

    Die cucutenischen Männer standen außerhalb der steinernen Ostmauer. Kahuul wartete in der ersten Reihe, ein langes Messer aus Feuerstein in seiner Rechten. In feierlicher Stille beobachteten die Krieger, wie die Sonne versank. Endlich würden sie ihre Bestimmung erfüllen.

    Fernes Donnergrollen kündigte die heraufziehende Nacht an. Ihr Schatten rann über die Hügellandschaft. Und ihm folgte eine schwarze Flut ungeahnten Schreckens.

    Das dumpfe Grollen wandelte sich zum Geräusch Abertausender Schritte. Die dunkle Woge erwies sich als Armee unzähliger albtraumhafter Kreaturen: menschlich, nichtmenschlich sowie grotesk deformierte Mischwesen. Froschartige. Reptilienartige. Unbeschreibliche Kreaturen warfen sich Taliankis Kriegern entgegen.

    Viel zu früh lösten sich erste Pfeile von den Bogensehnen, landeten wirkungslos zwischen den Fronten. Davon angespornt beschleunigten die heranstürmenden Angreifer ihren Lauf. Kurz bevor ihre ersten Reihen auf Taliankis Streiter trafen, stieg deren nächste Pfeilsalve in die Luft, um als tödlicher Regen auf die Feinde niederzugehen. Schon stürzte sich der erste Reptilienartige auf Kahuul, der sich duckte und die Kreatur über seine Schulter warf. Dem Nächsten stieß er das Messer tief in den Bauch.

    Mit einem Ruck kam der Ansturm zum Erliegen. Kahuul fand sich hoffnungslos zwischen unzähligen Leibern eingekeilt. Auf einmal ging es einzig darum, sich Platz zum Atmen zu erkämpfen. Blind stach und schlug er auf alles ein, was er erreichen konnte. Mit wenig Erfolg.

    Wie lange konnte er durchhalten? Vor ihm sah es nicht besser aus. Die ersten Reihen seiner Mitkämpfer waren hoffnungslos zwischen den Armeen eingekeilt. Es ging nur noch um das nackte Überleben – um jeden einzelnen Atemzug. Für die Götter zu kämpfen hatte Kahuul sich anders vorgestellt.

    Niemand bemerkte die über ihre Köpfe hinweg zur Stadt fliegenden Schatten.

    Am äußeren Rand des Platzes endete der Tanz der Priesterinnen abrupt. Sie ergriffen die ölgefüllten Krüge. Während sie feierlich das Bodenmuster abschritten und die Linien mit der Flüssigkeit tränkten, stimmten sie einen leisen Sprechgesang an.

    Derweil entzündeten in der Stadt die Frauen Fackeln im Schatten der Häuser. Die überall aufleuchtenden Lichtpunkte formten eine vage Fortsetzung des rituellen Musters auf dem zentralen Platz.

    Die Schatten kamen auf beinahe lautlosen Schwingen und stürzten sich auf die in den Straßen wartenden Frauen. Ihr erstes Opfer starb stumm, ohne das Geschehen überhaupt zu begreifen. Eine andere, die den scharfen Krallen nur knapp entging, stieß einen gellenden Warnschrei aus, den im Nu Dutzende Kehle aufgriffen und weitergaben.

    Aus den Häusern stürmten weitere Bewohnerinnen, bewaffnet mit Hacken, Steinmessern, Ruten und allerlei anderen kampftauglichen Gegenständen. Mit wildem Blick stellten sie sich den Angreifern – abstrusen Mischwesen aus Fledermäusen und deformierten Kleinkindern. Berührten deren scharfe Klauen Holz oder Haut, verdarb beides unter bestialischem Gestank.

    Standhaft verteidigten die Frauen die brennenden Fackeln. Ihre improvisierten Waffen verursachten jedoch kaum Schaden auf der steinernen Haut der Bestien. So richteten sie ihre Angriffe gegen die dünnen Flughäute. Bald krochen etliche der Kreaturen geifernd und kreischend im Blut sterbender und toter Cucutenierinnen umher.

    Der Lärm der um Talianki tobenden Schlachten wehte gleich einer bizarren Untermalung des Gesangs der Priesterinnen über den Platz. Sie tanzten. Völlig losgelöst von dem blutigen Treiben.

    Der letzte Tropfen des Öls fiel zu Boden und Nabraziti verharrte schlagartig. Als sie ihre Augen öffnete, bildeten alle zwölf einen Kreis von etwa zwanzig Metern Durchmesser. Mit einem gutturalen Schrei schlossen sie ihre Beschwörung ab.

    Die Antwort erfolgte prompt. Heißer, trockener Wind strich über die Stadt. Die Feuer loderten blau empor, sandten überwältigende Hitze aus. Die fliegenden Monster prallten entsetzt zurück. Unter triumphalem Jubel warfen die Cucutenierinnen ihre Fackeln auf die strohgedeckten Dächer. Binnen Sekunden fraßen sich die Flammen daran entlang. Holz- und Strohstapel dienten dem Feuer als Brücke zu den Nachbarhäusern. Sengende Hitze schmolz Haare und Flughäute. Ein regelrechter Regen dämonischer Kreaturen ging auf die Stadt hernieder.

    Die Frauen jedoch verharrten in größtmöglichem Abstand zu den Flammen. Warteten mit gezogenen Waffen und entschlossenen Gesichtern auf all jene Feinde, welche die Reihen der Krieger durchbrechen würden.

    Vor Nabrazitis Augen fraß sich die rasende Feuersbrunst durch die weit auseinanderstehenden Häuser. Grell zeichnete sich das blaue Flammenmeer vor dem Nachthimmel ab, dessen Sterne dichter Rauch erstickte. Inmitten der brüllenden Lohe vermeinte sie, Schemen zu erkennen: affenartige Silhouetten, die brennend einen Veitstanz aufführten. Erstaunlicherweise erfüllte der Anblick sie nicht mit Furcht, sondern mit Vorfreude und Mut.

    Unter größter Willensanstrengung riss sie sich von dem Schauspiel los, um sich wieder auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Mit gen Himmel gerichtetem Blick hoben die Priesterinnen ihre Arme und begannen eine neuerliche Beschwörung.

    Kaum verließ die erste Silbe Nabrazitis Lippen, als sich ihr augenblicklich alle Nackenhaare aufrichteten. Als weigere sich ihr Körper instinktiv, diesen fremdartigen Lauten in die Realität zu verhelfen, schnürte sich ihre Kehle zu.

    Verzerrte und verdrehte Töne hallten durch die Nacht, drohten den Verstand zu lähmen und das Herz zu zerreißen. Nabraziti wollte sie nicht hören, nicht sprechen, nicht einmal denken. Jahrelang hatte sie sie zwar geübt, doch nun, in dieser unheiligen Zeremonie, klangen sie besonders bösartig und weckten eine übermächtige Urangst in ihr, die sie zur Flucht antrieb.

    Dennoch spie Nabraziti in unbeugsamer Entschlossenheit die abartigen Worte aus. Buchstabe für Buchstabe. Silbe für Silbe.

    »Gnaiigof'n ot syha'h n'ghft, c'ymg' uln. Nog mgyogor hup yogfm'll ng ymg' mgah'n'ghft.«¹

    Wieder und wieder sprachen die Priesterinnen diese Sätze. Bei jeder Wiederholung erklangen ihre Stimmen lauter und schriller; die Worte unmenschlicher und gefährlicher; steigerte sich der Fluchtdrang zur Unerträglichkeit. Angst wuchs in Nabraziti zu einer den Verstand lähmenden Panik, gegen die sie alle verbliebene Willenskraft stemmen musste.

    Etwas änderte sich. Die Luft selbst verlor an Lebendigkeit. Die Welt entrückte der Realität. Nabrazitis Widerwille wandelte sich nun zu gegenteiligem Zwang: Die widernatürlichen Laute verließen ihren Mund von selbst. Schneller, lauter, schriller und unmenschlicher steigerten sie sich zu einer unweltlichen Kakofonie, die Nabraziti nicht beenden konnte.

    Ihr Herz raste. Sie vermochte kaum Luft zu holen. Die Silben brachen unaufhaltsam aus ihr heraus. Eine Ohnmacht dräute am Rande ihres Geistes.

    Plötzlich schien die Welt innezuhalten. Die Anrufung brach ab. Die zwölf Priesterinnen erstarrten. Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern hauchten sie beinahe lautlos einen Namen: »Uh'eog nafl ah.«²

    Nie zuvor hatte Nabraziti diesen Namen vernommen. Und in diesem Moment wünschte sie, dies hätte sich nie geändert. Doch eine Macht, weit jenseits dieser Welt, hatte ihn ihr in den Mund gelegt und aus ihrer Kehle gepresst. Nun war es zu spät.

    Der Rauch am Himmel öffnete sich und etwas senkte sich vor fahlem Mond zur Erde hinab. Der Pesthauch lebloser Äonen fuhr auf sie hernieder. Fern jeglicher Beschreibung verbanden sich unterschiedlichste Formen zu einer Erscheinung, die jeglicher Vernunft weit über die Grenzen des Verträglichen zusetzte: Abertausende Schlangenkörper wanden sich violett glänzend über die fedrige Schuppenhaut einer formlosen Masse. Hunderte bezahnte Augen drehten sich wild in Mündern, welche sich selbst verschlangen.

    Nabraziti stockte der Atem. Zwanzig Meter über dem Platz verharrte das immense Wesen. Rastlos zuckten seine Augen von einer Priesterin zur nächsten. Als sie den Blick auf Nabraziti richteten, stieg unbeschreibliche Panik in ihr auf. Ausschließlich lähmende Furcht hielt sie an ihrem Platz. Ihr Verstand weigerte sich, die sich stetig wandelnde Oberfläche als lebendes Wesen, gar als Gottheit, anzusehen. Dies war das pure Abnormale – die Widernatur jenseits von Gut und Böse.

    Kahuul, in das Blut seiner Feinde und Freunde getränkt, hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. Wie viele hatte er getötet? Wie viele Cucutenier waren gefallen?

    Die Flammen hinter ihnen tauchten die kämpfenden Armeen in unheilvoll blaues Licht. Funken regneten aus den Aschewolken auf die Krieger hernieder. Nisteten sich in Haaren und Kleidern ein. Fanden wider jede Natur selbst in den feuchtesten Stoffen noch Nahrung. Bald brannten überall unselige Kämpfer lichterloh.

    Ein einsamer Funke tanzte vor Kahuuls Augen vorbei und entzündete den Mann neben ihm. Brüllend vor Schmerz warf der Unglückselige sich zwischen ihre Feinde, um diese mit in den Tod zu reißen. Unter der schieren Hitze der emporlodernden Flammen schlug Kahuuls Haut Blasen und seine Haare schmolzen, während das Blut seiner Feinde verdampfte. Der Gestank raubte ihm beinahe den Atem.

    Plötzlich erstarrte die Welt. Alle Waffen schwiegen. Selbst die Sterbenden verstummten, ihre brechenden Augen auf die brennende Stadt gerichtet. Ein eisiger Schauer kroch über Kahuuls Rücken, doch vermochte er dem innerlichen Drang nicht zu widerstehen. Er drehte sich um.

    Die Gestalt des Alten Gottes ließ sich zwischen dichten Rauchschwaden nur als vernebelter Schatten erkennen. Doch reichte dies aus, um gellende Schreie der Verzweiflung unter den Cucuteniern auszulösen. Selbst Kahuul überfielen schlagartig Zweifel an ihrer heiligen Mission. Wie sollten Menschen so etwas bezwingen können?

    Die Feinde lösten sich zuerst aus ihrer Starre und drangen mit neuerlichem Ingrimm voran, ihrem Gott entgegen. Im letzten Moment wich Kahuul einer Klinge aus und fuhr mit dem Mut der Verzweiflung herum. Dieser Gott war nicht ihre Aufgabe! Sie mussten den Priesterinnen den Rücken freihalten!

    Der Wind trieb einen glühenden Funken heran, der wie ein Leuchtwurm vor Nabrazitis Augen tanzte, kurz aufflammte und erlosch. Ihr Werk war noch nicht getan. Als hätte der einsame Funke ihr diesen Gedanken eingeflüstert, erwachten Nabrazitis Verstand und Entschlossenheit. Sie löste sich aus der Starre und sah in die Runde. Vier weitere Priesterinnen hatten sich ebenfalls von dem Anblick losgerissen. Die Übrigen rangen sichtlich um ihre geistige Gesundheit. Sie durften keine Zeit verlieren!

    Nabraziti straffte ihre Schultern und legte alle Willenskraft in die folgenden Worte: »Llll ya gn'th'bthnk Y' ymg' ah'ehye l' fahf shugnah.«³

    Sie zog eine knöcherne Nadel aus ihrem Haar und stach damit tief in ihren Unterarm. Der wohlbekannte Schmerz währte nur kurz. Sekunden später tropfte ihr Blut zu Boden.

    »Uh'eog nafl ah!«

    Schlagartig erstarrte die Kreatur. Die grausamen Augen fixierten Nabraziti. Während maßloser Unglaube die Luft durchtränkte, verflog Nabrazitis Furcht gleich einem üblen Traum. Das Blatt wendete sich.

    Eine Priesterin nach der anderen griff nun den Bannspruch auf und ließ ebenfalls ihr Blut zu Boden tropfen.

    Als die zweite Priesterin einstimmte, begannen die monströsen Augen der widernatürlichen Kreatur wild zu kreisen. In grotesker Geschwindigkeit wand sich das Gewürm, als sich die vierte Stimme hinzugesellte. Langsam stieg das Wesen wieder dem fahlen Mond entgegen. Als die zehnte Priesterin ihr Blut vergoss, stieß der Alte Gott einen unirdischen Schrei aus, der, lautlos und doch wahrnehmbar, Herz und Mark zutiefst erschütterte. Die Augen der Wesenheit fixierten den Himmel, als sie ihren schwerelosen Aufstieg beschleunigte.

    Dann traf der letzte Blutstropfen den Boden.

    Der Große Alte verharrte. Die Bewegungen seiner Oberfläche wurden hektischer. Seine Augen nahmen eine violette Färbung an. Deformierte Schlangenkörper lösten sich von seinem Leib, regneten herab und schlängelten geifernd auf die Priesterinnen zu.

    »Ymg' ahor nafl c' ngahnah!«⁴, brüllte die Älteste. »C' ephaiah ahorr'eogor than ymg'!«⁵

    Eine eisige Faust schloss sich um Nabrazitis Brust, als sich die meterlangen Schlangen mit fingerlangen Giftzähnen auf sie stürzten. Doch sie wich nicht zurück, denn die Priesterinnen hatten den Großen Alten gebannt. Nun handelte es sich um einen reinen Kampf des Willens. Ein Kampf, den sie nicht verlieren würden, schließlich hatten ihre Mütter sie allein zu diesem Zweck geboren.

    Unmittelbar vor Nabrazitis ausgestrecktem Arm verharrten die Schlangen mit weit aufgerissenen Rachen und wildem Blick wie vor einer unsichtbaren Wand. Ein letzter Blutstropfen fiel in eines der geifernden Mäuler und ließ das Untier zurückprallen. Unter gellendem Kreischen wand es sich in Krämpfen. Nabraziti erlaubte sich ein triumphierendes Lächeln.

    Die Schlangen ließen von ihr ab, sammelten sich jedoch zu einer Masse sich windender Leiber, die sich im nächsten Augenblick auf eine andere Priesterin stürzte. Noch sichtlich durch das Erscheinen der grausamen Gottheit verstört, schrie diese auf. Sie hob schützend die Arme vor das Gesicht, als die zur geballten Bösartigkeit vereinten Bestien über sie herfielen.

    Hilflos sahen die Anderen zu, wie die dicken Leiber ihre Mitstreiterin unter sich begruben und Dutzende Giftzähne sie durchbohrten.

    Sie hatten gewusst, dass sie Opfer bringen mussten! Die Schwächsten starben zuerst. Umso mehr Kraft mussten die Verbliebenen nun aufbringen. Mühsam die schrillen Schreie der Sterbenden ignorierend konzentrierten sich die restlichen Priesterinnen darauf, den Bann aufrechtzuerhalten. Wie Eichen harrten sie an ihren Plätzen aus und klammerten sich an die bannenden Worte, derweil die Reptilien sich zu ihren Füßen wanden und auf geringste Anzeichen von Schwäche lauerten.

    Mittlerweile umtoste sie ein wahres Inferno, das selbst Stein schmolz. Fremdartig und unverständlich wisperten Stimmen in den Flammen. Sie erfüllten Nabraziti mit Mut und Zuversicht, während erste Funken sich auf die ölgetränkte Erde niedergingen.

    Der Alte Gott wand sich in seinem Bann, ließ sein innerstes Wesen gegen den Willen seiner Widersacherinnen anbranden. Sein Unglaube wich zunächst wachsender Enttäuschung, welche sich zu Wut wandelte. Doch nichts davon täuschte über die verzweifelte Furcht hinweg, die Nabraziti hinter jedem dieser gewaltigen Angriffe spürte. Und in diesem Wissen vermochte sie dem Ansturm standzuhalten.

    Unter das Flüstern des Feuers mischte sich eine weitere Stimme, wisperte kaum hörbar unaussprechliche Silben, die in den Köpfen aller unbeschreibliche und unbegreifliche Bilder heraufbeschworen: Illusionen von Tod und Vernichtung, von Verfall und endlosem Leid.

    Alle Schrecken der Welt erhielten auf einmal vor Nabrazitis geistigem Auge ein Gesicht – das Gesicht ihrer Tochter! Allein gelassen. Diesem Wahnsinn ausgesetzt, weil Mutter und Vater hier ihr Leben gelassen hatten und ihr die ewig währende Rache eines Gottes aufgebürdet hatten!

    Für endlose Sekunden verkrampfte sich Nabrazitis Herz und brachte sie ins sie Wanken. Doch fasste sich wieder und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf ihre Atmung und die Aufgabe. Diese Schreckensbilder waren nur grausame Illusionen: Ihre Tochter befand sich in Sicherheit! Wollte Nabraziti ihren Liebsten jedoch eben jenes Schicksal ersparen, so musste sie um jeden Preis standhaft bleiben.

    Zunehmend mischte sich das Wimmern und Stöhnen der anderen Priesterinnen unter den tosenden Lärm. Nabraziti vermochte nur zu erahnen, welche Qualen ihre Mitstreiterinnen durchlitten. Welch unaussprechliche Schrecken mochte das unirdische Wesen ihnen zeigen?

    Unversehens nahm der Druck hinter Nabrazitis Stirn zu und beinahe zeitgleich sank die Frau zu ihrer Linken zu Boden. Sie starb leise, gab ihre Last mit einem erleichterten Seufzen an die Verbliebenen weiter.

    Von einer weiteren Gegnerin befreit, zog sich der Alte Gott für einen Moment zurück, um deutlich erstarkt erneut zuzuschlagen. Zwei Priesterinnen brachen, von der Wucht des Angriffs überrumpelt, schwankend zusammen. Als die Schlangen die Unglücklichen unter sich begruben, riefen ihre von dem Gelächter des Großen Alten untermalten Schreie in Nabraziti das Gefühl verzweifelter Agonie hervor.

    Durch einen Schleier aus Rauch und Tränen sah Nabraziti schemenhaft die brennende Stadt. Die Flammen hatten das Öl entzündet. Nun rasten sie entlang des Musters auf die Priesterinnen zu. Und mit ihnen nahte der Sieg!

    Nachdem der Große Alte vier seiner Gegnerinnen getötet hatte, schwächte sich der Bann merklich ab und der Alte Gott kämpfte mit wachsender Kraft. Er ließ Worte des Zweifels und der Angst in die Hirne seiner Widersacherinnen sickern: Sie würden nicht ewig durchhalten. Er würde sie beseitigen – eine nach der anderen.

    Nein! Nabraziti riss ihr Bewusstsein von den schrecklichen Prophezeiungen los. Sie mussten diesen Kampf nicht gewinnen. Sie durften nur nicht unterliegen! Die Zeit arbeitete für sie. Kaum hatte sie diese Erkenntnis zu Ende gedacht, richteten sich alle Augen der Wesenheit auf sie.

    Der Schlag traf sie völlig unvorbereitet.

    Eine unbegreifliche Macht prallte gegen ihre Brust und schleuderte sie zurück. Für zwei Atemzüge schien die Welt stillzustehen. Flammen loderten in beinahe lächerlicher Langsamkeit empor. Funken gaukelten durch die Luft, während Nabrazitis Haar sanft wie in stillem Wasser wogte.

    Was geschah hier? Normalerweise verschlang das göttliche Feuer das Öl so gierig, wie ein Falke eine Taube schlägt …

    Sie blinzelte.

    Die Lohe war nun deutlich näher gekommen. Von ihren Mitstreiterinnen sah sie nur noch drei Schemen vor der bläulichen Flammenwand.

    Wieder blinzelte sie. Die Hitze traf ihren Nacken so jäh, als presse jemand heiße Kohlen auf ihre Haut. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass die Flammen sie beinahe erreicht hatten. Überall schwebten bewegungslose Funken. Ihr Haar schmolz in faszinierender Langsamkeit.

    Erstaunlicherweise verspürte sie keinerlei Furcht. Weder darüber, dass alle Empfindungen erloschen, noch darüber, dass der Alte Gott sie aus ihrem Körper gerissen hatte. Für einen winzigen Augenblick sah sie sich selbst inmitten des Flammenmeers. Dann ergriff sie etwas jenseits von Zeit und Raum und trug sie fort.

    Kahuul spürte den glühenden Stein der Außenmauer in seinem Rücken. Schweiß rann in Strömen an ihm herab, und seine erschöpften Finger vermochten kaum noch den glitschigen Griff seines Dolchs zu umklammern.

    Während sich die Reihen der Cucutenier immer weiter lichteten, schien die Flut unheiliger Kreaturen kein Ende nehmen zu wollen. Einzig die übernatürliche Hitze der göttlichen Flammen hielten diese Feinde davon ab, die Armee der Menschen zu überrennen und in die Stadt einzufallen.

    Kahuul konnte die Enttäuschung in den Augen seiner Gegner erkennen. Obwohl sie so weit gekommen waren, hatten sie am Ende doch nichts erreicht. Denn selbst wenn sie alle Menschen niedermetzelten, würden sie ihrem Gott nicht mehr helfen können. Allein dieses Wissen hielt Kahuul noch aufrecht. Er würde seine Tochter wohl nie wieder sehen, doch hatte er seine Aufgabe als Krieger erfüllt und sah seinem Tod mit Stolz entgegen!

    War Nabraziti zuvor noch überwältigt gewesen, so zerrte dieser unnatürliche Zustand an ihrem Verstand. Der Raum drohte ihr Sein zu einem winzigen Punkt zusammen zu pressen und dehnte es zugleich in die Unendlichkeit aus. Ewigkeit und Vergänglichkeit des Moments trafen einander in einer endlosen Folge von Geburt und Tod, zwischen denen nichts existierte.

    In der Zeit erstarrt blieben Nabrazitis Schreie in ihrer Lunge gefangen. Was war das für ein Zustand? War die Schlacht zu Ende? Hatte sie verloren? War dies die Ewigkeit nach dem Tod? Fragen fluteten ihren Verstand und entzogen sich ihr sofort wieder.

    Schwärze und endlose Stille umgaben sie. Trostlose und endgültige Einsamkeit. Es schürte eine nie gekannte und namenlose Furcht, die kein Mensch jemals erfahren sollte.

    Gefangen in Ungewissheit vermochte Nabraziti nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, als ein Funke der Realität sie einholte: Fremde Panik überrollte sie gleich einer Woge und hinterließ alarmierte Todesangst. Was war geschehen? Nabraziti versuchte, etwas zu erspüren, doch umgab sie einzig das endlose Nichts.

    Zeit zerfiel in ein Wort ohne Sinn und erlangte gleichzeitig die größte Bedeutung überhaupt. Mit jeder verstreichenden Ewigkeit (oder handelte es sich nur um einen Moment?) grub sich das Gefühl absoluter Einsamkeit tiefer in sie. Sogar jene schrecklichen Albtraumbilder wären ihr eine willkommene Ablenkung gewesen. Doch selbst ihr inneres Auge blieb nicht von dem allumfassenden Nichts verschont und vermochte ihr kein einziges Bild zu zeigen.

    Wie lange weilte sie schon hier? Vergaß sie bereits alle ihre Liebsten? Hatte der Feind sie deswegen hierher gebracht? Damit sie alles, sich selbst und damit auch ihre Aufgabe, vergaß?

    Wieder rollte eine Welle namenloser Furcht über sie hinweg. Für die Dauer eines brüchigen Moments meinte Nabraziti, die klagende Stimme der ältesten Priesterin zu vernehmen. Dann war es vorbei. Es hinterließ einen Hauch trostloser Nichtexistenz und Endgültigkeit.

    Einsamkeit wandelte sich in absolute Leere. Zusehends fiel es ihr schwerer, ihre Gedanken festzuhalten. Worte entfielen ihr und quälende Unruhe bemächtigte sich ihrer. Nabraziti lechzte danach, etwas zu sehen, zu spüren – wahrzunehmen. Doch ihre Sinne waren in Talianki zurückgeblieben. Die einzige Unterbrechung in diesem absoluten Einerlei ihrer Gedanken bestand in den über sie hinwegrollenden plötzlichen Wogen fremder Emotionen und Empfindungen, die für den Bruchteil eines Augenblicks an Erinnerungen rührten und sie mit dem Wissen um den Tod ihrer Mitstreiterinnen zurückließen.

    Nabraziti konzentrierte den letzten Rest ihres Bewusstseins auf einen einzigen Gedanken: Solange sie sich hier befand, also noch lebte, war ihr Feind in Talianki gebunden. Alles andere war bedeutungslos.

    Als eine neuerliche Welle sie überrollte, hinterließ diese überraschenderweise etwas. Sie hieß diese Empfindung willkommen und klammerte sich daran wie eine Ertrinkende: Etwas befand sich plötzlich in ihrer Nähe. Sie konnte es nicht wahrnehmen, wusste jedoch um seine Anwesenheit; um die drohende Gefahr. Er war also endlich gekommen, sie zu vernichten.

    »Ist es dies, das du willst?« Tonlose Worte. Inhalt ohne Sprache. »Dieses Schicksal blüht all jenen, die eure sogenannten Götter in ihrem ewigen Hunger verschlingen.«

    Sollte sie ihm zuhören oder ihn ignorieren? Doch wie ließ sich ignorieren, was dem eigenen Geist zu entspringen schien?

    »Ist das, was ihr uns bringt, denn besser? Unterjochung, Vernichtung? Auslöschung und das allumfassende Ende?«, konterte sie trotzig.

    »Sie belügen und benutzen euch ebenso. Ihr sterbt für ihren Kampf, ohne dass sie einen einzigen Gedanken an euch verschwenden.«

    »Sie haben uns nie belogen. Wir wissen, warum wir es tun und was wir opfern.«

    Eine Woge der Ungeduld und des Ärgers kam über sie und verlor sich in der Unendlichkeit. Also war die Schlacht noch nicht verloren! Von neuem Mut beseelt ging Nabraziti zum Angriff

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