Retterin bei Nacht: Amy Carmichael
Von Kay Walsh und Voice of Hope
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Über dieses E-Book
Kay Walsh
Kay Walsh hat die Bücher »Amy Carmichael Retterin bei Nacht« und »John G. Paton South Sea Island Rescue« (Rettung der Südseeinsel) geschrieben.
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Buchvorschau
Retterin bei Nacht - Kay Walsh
Amy Carmichael
Retterin bei Nacht
___________________________________________
Kay Walsh
Originaltitel: Rescuer by Night
© 2004 Kay Walsh
Veröffentlicht bei Christian Focus Publications
Alle Rechte vorbehalten
© der deutschen Ausgabe by Verlag Voice of Hope, 2018
Eckenhagener Str. 43
51580 Reichshof-Mittelagger
www.voh-shop.de
Übersetzung: Bettina Bräul
Lektorat, Cover und Satz: Voice of Hope
Coverbild: Helen Smith
ISBN 978-3-947102-78-5 – E-Book
ISBN 978-3-947102-33-4 – Hardcover-Buch
Alle Bibelstellen sind gemäß der Schlachter-Bibel 2000.
1.
In die Dunkelheit
_____________________________________
»Ich kann nichts sehen! Es ist so dunkel überall. Was ist das für ein Ort? Wo bin ich?« Jeya versuchte um sich zu spähen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie wusste, dass sie lange Zeit geschlafen haben musste, denn sie verspürte gerade großen Hunger und Durst. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie große Steinpfeiler erkennen. Befremdende, unheimliche Konturen ragten in der Finsternis auf. Zwischen den Säulen befand sich ein riesiger Steinkörper. Sie schauderte, als sie dessen Gesicht sah. Die strengen, bösen Züge waren mit roten und schwarzen Beschriftungen ausgestaltet. Das war, wie sie wusste, Kali, die Göttin des Todes und der Zerstörung.
Das kleine Mädchen zitterte. Sie begriff, dass sie in einem Tempel sein musste. Sie versuchte sich zu bewegen, doch ihre Beine waren zusammengebunden. Die Gitterstäbe ihres Käfigs waren dick und fest. Sie versuchte sich zu entsinnen, was sie den Priester zu ihrer Mutter hatte sagen hören.
»Ihr kleines Mädchen wird bei uns glücklich sein. Sie wird reichlich zu essen haben. Wir werden sie lehren, vor unseren Göttern zu tanzen. Sie wird den Himmel für Ihre gesamte Familie erwerben, wenn sie die Götter erfreut.«
»Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher. Als ich vor ein paar Tagen zustimmte, hatte ich nicht nachgedacht. Meine Jeya ist so jung und klein.« Die Stimme ihrer Mutter hatte besorgt und ängstlich geklungen. Die schmalen Augen des Priesters hatten vor Wut geflackert, als sie das sagte.
»Aber ich habe das Geld mitgebracht. Ihre anderen Kinder werden damit ein besseres Zuhause und gutes Essen haben. Wie kann eine arme Witwe wie Sie drei Kindern all das geben?! Und nun streiten sie nicht weiter. Wir haben ja eine Vereinbarung!«
Jeya konnte die Tränen in den Augen ihrer Mutter noch sehen. Sie hörte wieder das klimpernde Geräusch, als das Geld übergeben wurde. Eine letzte Umarmung mit ihrer Mutter, und sie war fortgegangen. Der Priester hob die Vierjährige, die er soeben gekauft hatte, auf seinen Karren, und sie verließen ihr Heim. Auf der Reise gab er ihr etwas zu trinken, das süß und klebrig war. Daraufhin hatte sie sich sehr schläfrig gefühlt und muss in den Schlaf gesunken sein.
»Wach auf, Mädchen! Ich bin gekommen, um dich zu holen.« Durchdringende Augen starrten zu Jeya hinein. Eine kleine, hagere Frau war vor den Käfig getreten. Sie war sehr alt, und ihre dunkelbraune Haut war runzlig und lederartig.
Sie hob draußen einen Riegel an und steckte ihre Hände hinein, um die Lumpenbänder an Jeyas Füßen aufzuschnüren. »Komm mit mir«, ordnete sie an. »Du wirst deine ersten paar Monate mit mir in meinem Haus verbringen und deine Tempelpflichten erlernen.«
Ihre Hütte war schmutzig und stinkend. Sie gab dem kleinen Mädchen zwei Mahlzeiten pro Tag und begann ihr beizubringen, die langen Sprechgesänge auswendig zu lernen, die sie den Göttern vortragen musste. Wenn Jeya einen Fehler machte, schlug die alte Frau sie heftig. »Wie geht es meiner Mutter? Ist mein kleiner Bruder wieder gesund?«, fragte sie die Frau. »Vergiss alles über sie. Dein Leben spielt sich jetzt hier ab. Du musst hart arbeiten, sonst wird der Priester dich schlagen.« – Jeya weinte sich jede Nacht in den Schlaf.
Jeden Nachmittag schickte die Frau sie zum Fluss, um Wasser zu holen, während sie selbst ein gutes langes Schläfchen machte. An ihrem sechsten Tag dort war Jeya allein unten am Fluss. Sie setzte sich ein wenig länger als gewöhnlich ans Flussufer. Der Wassertopf war schwer, und sie hatte bereits drei lange Gänge damit gemacht.
»Du siehst müde aus, Kleine. Jemand, der dich liebt, hat mir erzählt, dass du an den Priester verkauft worden bist. Ich kann dich von hier wegbringen an einen sicheren Ort.« Die Stimme klang sanft und freundlich. Jeya schaute in ein lächelndes Gesicht auf. Die dunkelbraunen Augen der Frau, die sie anblickten, ließen sie so gütig aussehen. »Wir können mit dem Ochsenkarren dorthin fahren«, sagte sie.
Jeya schaute in die Richtung, in welche sie zeigte, und sah eine ältere Frau und einen Fahrer unweit der Bäume warten. Kein Sprechgesang mehr, keine Schläge, kein Arbeiten mehr in diesem furchterregenden Tempel – welch ein Ausblick! »Oh ja, bitte«, antwortete sie. Die Frau in dem Sari hob sie hoch und trug sie zum Karren hinüber.
Nachdem sie einige Stunden gefahren waren, trafen sie an einem niedrigen Gebäude hinter einem Bungalow ein. Jeya war so müde, dass sie ihre neue Umgebung kaum wahrnahm. Die ältere Frau sprach jetzt. »Amy, bring du sie ins Bett, und ich hole eine Tasse Milch für sie.« Jeya wurde in ein Schlafzimmer getragen, umgezogen und von derselben Frau, die sie am Fluss angesprochen hatte, in ein Kinderbett gelegt.
Plötzlich kamen alle Ängste in Jeya wieder hoch, und sie rief aus: »Du wirst mich nicht schlagen, oder? Ich werde gut sein und hart für dich arbeiten!« Zu ihrer Verwunderung fühlte sie, wie die Arme der Frau sie umschlangen, und eine liebevolle Stimme sagte: »Du wirst hier nicht hart arbeiten müssen. Heute Nacht wirst du in meinem Zimmer schlafen. Du wirst Brüder und Schwestern haben, mit denen du morgen im Garten spielen kannst. Unser Gott ist die Liebe. Niemand wird dich hier verletzen.«
Obwohl die Augen der Frau braun waren, konnte Jeya jetzt sehen, dass sie keine braune Haut hatte. »Warum bist du hierhergekommen? Wie heißt du? Kommst du aus einem Dorf hinter den Bergen?«, fragte Jeya sie. Daraufhin lachte die Frau und sagte: »Mein Name ist Amy Carmichael; aber du kannst mich Amma nennen. Mein Zuhause ist hinter den Bergen und auch hinter dem Meer. Große Schiffe sind durch stürmische Gewässer gesegelt, um mich an diesen Ort zu bringen. Ich komme aus einem Land, das Großbritannien genannt wird. Aber jetzt schließ deine Augen, und morgen früh stelle ich dich deinen neuen Freunden vor.«
Jeya war jetzt weniger ängstlich. Ihr Bett war weich, und die Milch hatte ihr so gutgetan. Sie begann sich schläfrig zu fühlen. »Hinter dem Meer – das klingt, als wäre das sehr weit weg«, dachte sie. »Ich frage mich, was das ›Meer‹ ist. Ist es sicher? Vielleicht ist es gefährlich? Aber ich brauche mir um solche Sachen keine Sorgen zu machen. Ich weiß, dass diese Frau auf mich aufpassen wird. Ich habe mich nie zuvor so beschützt gefühlt – ich fange an, mich hier wohlzufühlen.« Und das kleine Mädchen schloss seine Augen und sank in den Schlaf.
2.
Gerettet
_____________________________________
»Hilfe! Hilfe! Die Strömung hat uns erwischt! Sie ist zu stark für uns«, gellte Normans Stimme. Er packte sein Ruder noch fester an. Ebenso tat es sein Bruder Ernest. Deren Schwester Amy stand nur wie erstarrt auf der Stelle und fragte sich, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie herausfänden, dass sie ungehorsam gewesen waren. Wie oft war es den Carmichael-Kindern schon gesagt worden: »Der Ozean ist gefährlich! Seid vorsichtig und fahrt auf keinen Fall selbst mit dem Boot hinaus!« Doch Amy, Norman und Ernest hatten einfach nicht darauf gehört, und nun wünschten sie sich, sie hätten es doch getan. Die dunkelgrünen Fluten der See hatten sie in ihren Fängen, und die Kinder wurden rasch aus der Sicherheit des Hafens hinausgezogen.
Beide Jungen wussten, dass sie sich der Sandbank an der Zufahrt zum Meer näherten. Auf der anderen Seite lagen die offenen Wasser der Irischen See.
»Halte dich so fest, wie du kannst, Amy!«, riefen die Jungen ihrer Schwester zu. Sie tat, was sie sagten. »Mache ich, mache ich. Wir sind hier auch früher schon mal gerudert, und es ging alles gut. Wir müssen irgendwie ein bisschen zu weit abgekommen sein. Es ist fast schon Abendzeit. Vielleicht verhält sich dann die Strömung anders«, antwortete Amy.
Norman dachte angestrengt nach. »Amy, fang so laut wie möglich an zu singen! Jemand könnte uns dann hören. Ernest und ich müssen weiterrudern. Wir können vielleicht das Boot genügend abbremsen, um zu verhindern, dass wir aufs Meer hinaustreiben.« Amy begann zu singen.
»Was immer ich tu, was immer ich bin,
dennoch weiß ich, dass es Gottes Hand ist,
die mich führt.«
Dieses Lied war das Erste, was ihr eingefallen war. Inzwischen hatten sich über ihnen dunkle Wolken gebildet. Wie klein wirkte ihr Boot auf den mächtigen Fluten der See!
»Ich kann da vorn etwas sehen. Ich glaube, das ist ein Boot. Ja, es ist die Küstenwache! Hier rüber! Wir sind hier hinten! – Sie kommen! Wir sind gerettet!«, schrie Amy.
Wie froh waren die drei, als sie an diesem Abend sicher nach Hause kamen. Eine erschöpfte Amy rollte sich zusammen, um es sich im Bett bequem zu machen. Sie liebte ihr altes Haus mit seinen grauen Steinmauern. Dem Raunen des Windes draußen zu lauschen, machte ihr Schlafzimmer erst recht gemütlich.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Kinder wieder in Schwierigkeiten waren. Ihr Vater war Miteigentümer der großen Kornmühle in ihrem Dorf an der Küste. Das bedeutete, dass ein großes Haus mit Garten für ihn erschwinglich geworden war. Da konnten Amy und ihre vier Brüder und zwei Schwestern so viel spielen, wie sie wollten. Sie liebte all die Blumen und Bäume; doch konnte sie es nicht lassen, mit einigen davon zu experimentieren. Eines Tages genossen sie einige reife Pflaumen vom Garten. »Lasst uns auch mal die Kerne essen!«, schlug Amy vor.
»Hört auf! Ich sehe schon, was ihr machen wollt.« Die Kinder blickten auf. Ihr Kindermädchen Bessie stand an der Hintertür. »Wenn ihr die hinunterschluckt, dann wird ein Pflaumenbaum aus euren Köpfen wachsen, aus jedem Kern, den ihr gegessen habt!«
»Das hört sich nicht gut an«, sagte einer.
„Ich werde zwölf Kerne essen und schauen, ob ich morgen zwölf Bäume aus dem Kopf wachsen sehe«, verkündete Amy herausfordernd. Am nächsten Morgen fragte eine besorgte Bessie: »Geht’s dir gut, Amy?«
»Nein, ich habe Magenschmerzen; es fühlt sich an, als würden in mir zwölf Pflaumenbäume wachsen.«
Nicht, dass ihr dies eine Lektion erteilt hätte. Einige Tage später schaukelten Norman, Ernest und Amy an der Eingangspforte. Über ihnen wehten die hellgelben Blütenstände des Goldregenbaumes hin und her. »Bessie sagt nur unsinnige Sachen, um uns Angst einzujagen; da bin ich mir sicher. Sie sagte, wir würden sterben, wenn wir Goldregenschoten essen würden. Lasst uns zählen, wie viele wir essen können, bevor wir sterben«, sagte Amy. Wie üblich machten die anderen beiden mit.
Einige Minuten später begann es allen Dreien übel zu werden. Ernest, der Jüngste, wurde