Ida Bindschedler: Leben, Wirken und Werk der Turnachkinder-Autorin
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Buchvorschau
Ida Bindschedler - Judith Burgdorfer
Inhalt
Cover
Titelei
Einführung
Porträt von Aleardo Schüpbach
Teil I – 1854‒1894
1. Kindheit in glücklichsten Verhältnissen
2. Lehrzeit an der Einwohner-Mädchenschule in Bern
3. Erste Stelle als Primarlehrerin an der privaten Mädchenschule in Zürich
4. Es bläst ein neuer Wind – Lehrerin an der Landschule
5. Als Lehrerin in Paris!
6. Zurück in Zürich – Lehrerin mit Herz und Seele
Bild von Ida Bindschedler
Teil II – 1894‒1919
1. Erster veröffentlichter Artikel in Die Philanthropin
2. Jugendbücher
3. Geschichten aus Frankreich
4. Reiseberichte
5. Artikel
6. Novellen
Teil III – Zum Tod von Ida Bindschedler
1. In Erinnerung an Ida Bindschedler und ihre Turnachkinder
Teil IV – Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter
1. Pauline Bindschedler (1856–1933)
2. Emma von Wachter
3. Joseph Viktor Widmann (1842‒1911)
4. Henriette «Netta» Tobler geb. Hattemer (1836‒1917)
Stammbaum der Familie Bindschedler-Tauber Friedrich Rudolf und Anna Elisabetha
Bibliografie von Ida Bindschedler
Quellennachweis
Gedruckte Quellen
Online-Quellen
Abbildungsverzeichnis
Die Autorin
Über das Buch
emptyJudith Burgdorfer
Ida Bindschedler
Leben, Wirken und Werk
der Turnachkinder-Autorin
NZZ Libro
Publiziert mit freundlicher Unterstützung der R.G. Bindschedler-Familienstiftung – www.bindschedler.name
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
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Korrektorat: Ulrike Ebenritter, Gießen
Cover: Virueña Design, Bern
Layout: icona basel gmbh, Basel
Satz: 3w+p, Rimpar
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-907396-71-1
ISBN E-Book 978-3-907396-72-8
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Einführung
Ida Bindschedler war ein schlanker, in sich abgeschlossener beherrschter Charakter von vornehmstem edelstem Gepräge und grösster Selbstdisziplin. Sie war ausgezeichnet durch eine selten hohe Ethik, die ihre ganze Wesenheit beeinflusste, und von tief religiösem Empfinden.
Mit philosophischem Gleichmut stand sie den menschlichen Dingen gegenüber und war zugleich überaus warmherzig und von grosser Güte immer auf andere bedacht auch in schweren, kranken Tagen.¹
Otto von Greyerz (1863‒1940)
Familienbewusstsein und diskreter Stolz auf die vollbrachten Leistungen haben in der Familie Bindschedler dazu geführt, dass das Erbe der Vorfahren sorgfältig gepflegt wird. Diesem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass die Rudolf Gottfried Bindschedler-Familienstiftung, im Jahr 1918 gegründet, heute über reichhaltiges Archivmaterial verfügt. Damit werden längst vergangene Zeiten ausführlich mit Archivalien dokumentiert, die heute Ausgangspunkt für aktuelle Recherchen sind. Sie ermöglichen es, die Lebenswege der Bindschedler-Ahnen lebendig nachzuzeichnen.
Die vorliegende Publikation widmet sich dem Leben, dem Wirken und dem Werk von Ida Bindschedler (1854‒1919). Die Autorin der nach wie vor bekannten Jugendbücher Die Turnachkinder im Sommer und Die Turnachkinder im Winter, publiziert in den Jahren 1906 und 1909, gilt bis heute neben Johanna Spyri und Olga Meyer als eine der erfolgreichsten Jugendbuchautorinnen der Schweiz. Ihre autobiografischen Erinnerungswerke reflektieren ihre glückliche Kindheit im Zürich der 1860er-Jahre und begeistern zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze Generationen von jungen Leserinnen und Lesern.
Ihr post mortem erschienenes letztes Jugendbuch Die Leuenhofer (1919) befasst sich mit der Jugendzeit in der Schule, wo sich Ida wohl der Erinnerung an ihre Zeit als Lehrerin an den Landschulen in Dietikon und Hirslanden bedient. In ihrem letzten Werk stellt Ida bereits die Wichtigkeit des «teamwork» in den Vordergrund. So lässt sie beispielsweise die Leuenhofer-Schulkinder gemeinsam ein verlorenes Büblein suchen und zeigt in einem weiteren Kapitel auf, wie durch geringen persönlichen Verzicht anderen Personen eine grosse Freude bereitet werden kann.
Ida Bindschedler schrieb aber nicht nur Jugendbücher, sondern auch zahlreiche Geschichten, Novellen, Reiseberichte, Artikel und Rezensionen, die in verschiedenen Publikationen zwischen 1891 und 1912 zum Teil als Fortsetzungsgeschichten im In- und Ausland veröffentlicht wurden. Diese Texte – ohne die in der Schweizerischen Lehrerzeitung regelmässig veröffentlichten Rezensionen – geben wir hier ungekürzt wieder. Wir sind der Meinung, dass sie nicht nur Einblicke in das Leben und in die Gefühlswelt von Ida Bindschedler, sondern dass sie uns auch aus kulturhistorischer Sicht wertvolle Einblicke in die Jahre des Jahrhundertwechsels geben. Die Texte wurden aus den Originaldokumenten vollständig transkribiert; die Rechtschreibung und die Interpunktion des frühen 20. Jahrhunderts wurden beibehalten.
Während Idas letzten Lebensjahren befand sich die Welt im Krieg, was der warmherzigen und gütigen Ida schwer zu schaffen machte. Um das Leid zu verringern, konzentrierte sie sich hauptsächlich darauf, Briefe an Soldaten im Feld und Kriegsgefangene zu schreiben und damit deren schweres Schicksal zu lindern. Trotz intensiver Nachforschungen ist es nicht gelungen, Briefe aus der Feder von Ida Bindschedler aufzufinden. In der Nacht des 28. Juni 1919 stirbt Ida Bindschedler während eines Urlaubsaufenthaltes in Zürich.
Gleichentags wird in Versailles (F) der Versailler Vertrag von deutscher Seite von Aussenminister Hermann Müller (1876‒1931) und Verkehrsminister Johannes Bell (1868‒1949) im Spiegelsaal von Schloss Versailles unterzeichnet. Der Erste Weltkrieg ist damit offiziell für beendet erklärt² und nach Jahren des furchtbaren Kriegstreibens herrscht wieder Frieden! Erreicht diese Freudennachricht Ida noch? Sollte es so gewesen sein, so wird sie dadurch eine enorme Freude, Erleichterung und Befreiung erlebt haben!
Endnoten
¹von Greyerz, Otto: Ida Bindschedler ‒ Lebensbild. Undatiert. Burgerbibliothek Bern.
²https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/aussenpolitik/versailles/ (Zugriff: 12. 7. 2023).
emptyAbbildung 1 Porträt von Aleardo Schüpbach, Bern Archiv R. G. Bindschedler-Familienstiftung Zürich
Teil I – 1854‒1894
Kinder- und Jugendjahre in Zürich
Lehrjahre in Bern
Einstieg in die Berufswelt und Reisejahre
Pädagogische Laufbahn
1. Kindheit in glücklichsten Verhältnissen
Am Donnerstag, den 6. Juli 1854, erblickt Ida Bindschedler im Haus zum Gewölb am belebten Zürcher Weinplatz das Licht der Welt. Sie wird in die gut betuchte Familie des Baumwollkaufmanns Friedrich Rudolf Bindschedler (1819‒1892) und der Anna Elisabetha geb. Tauber (1831‒1890) hineingeboren. Die Bindschedlers sind zu diesem Zeitpunkt bereits Eltern von Emma (1852‒1900).
Idas Vater Friedrich ist in der Textilbranche in Zürich tätig. In dieser Zeit ist der Weinplatz das eigentliche Stadtzentrum und einer der Hauptverkehrsknotenpunkte der Stadt. Von hier aus führt er erfolgreich Handel mit roher Baumwolle. Das Geschäft hat er im Jahr 1851 von seinem Vater übernommen. Daneben betreibt Friedrich Bindschedler eine Baumwollgarnhandlung und eine Baumwollspinnerei mit 4440 Spindeln. Wie es sich für Textilkaufleute zu jener Zeit schickt, ist er in der Zürcher «Zunft zur Wag». Er ist ein grosser Musikfreund und eifriger Förderer des Stadttheaters in Zürich. Für Zusammenkünfte der Familie hat er auch öfters kleine Orchester angestellt.³ Er stirbt am 24. Dezember 1892 im Alter von 73 Jahren in Zürich Hottingen.
emptyAbbildung 2 Weinplatz, Zürich – 1890 Baugeschichtliches Archiv Zürich
Idas Mutter Anna stammt aus Fürth in Bayern. Sie schafft die Verbindung zu Deutschland und bringt eine freie nachgoethesche deutsche Geisteskultur ins Haus zum Gewölb. Ida erinnert sich beispielsweise, dass sie und ihre Geschwister beinahe allmorgendlich noch vor dem Frühstück mit Schiller-Gedichten bedacht wurden:
Eine ganze Anzahl wusste die Mutter auswendig; aus andern trug sie uns Bruchstücke vor [...]. Am Taucher, von dem Mama viele Strophen konnte, begeisterten wir uns ebenfalls. Ja, wir trieben da die gute Mutter recht in die Enge. Wenn die Poesie ihr versagte und sie mit der Prosa aushelfen wollte, riefen wir alle aus unseren Betten: «Nein, Mama! nicht erzählen! du musst es sagen, wie Schiller es gemacht hat!»⁴
Die gelernten Gedichte trägt die Kinderschar jeweils stolz an Vaters Geburtstag, an Neujahr und Ostern vor.
Ida wählte wohl später ihre Mutter als Vorbild für die von ihr gestaltete kluge und gütige Mutter der Turnachkinder. Anna Elisabetha stirbt am 15. Dezember 1890 in Zürich.
emptyAbbildung 3 Die «Seeweid» der Turnachkinder Bild aus Studie von M. S. Metz 1954, Foto: Martin Bader-Polt, Staatsarchiv Thurgau 8405, 3/42
Bereits im Jahr 1855 wird Ida grosse Schwester; ihr Bruder, Johann Rudolf (1855‒1907), erblickt das Licht der Welt. Ein Jahr später wird Pauline (1856‒1933) und im Jahr 1860 Maria Elisabeth (1860‒1912) geboren. Ida ist zehn Jahre alt, als ihr jüngster Bruder Arnold Wilhelm (1864‒1925) zur Welt kommt. Sie, ein nach allen Richtungen glücklich veranlagtes Kind, verlebt zusammen mit ihren Geschwistern eine Kindheit in glücklichsten Verhältnissen.
Während der Sommermonate verlässt die Familie jeweils die belebte Stadt und zieht in das Sommerdomizil, in die «Solitude» an den See. Es ist für betuchte Familien üblich, in der warmen Jahreszeit vor dem Lärm und dem Gestank der Stadt zu flüchten, denn Mitte des 19. Jahrhunderts ist Zürich noch ohne Kanalisation. Die ersten modernen Abwasserkanäle werden in den Jahren 1860 bis 1873 gebaut.⁵ Idas Grossvater, Hans Rudolf Bindschedler (1794‒1851), erstand den Sommersitz «Solitude» von der Familie Landolt gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Mathias Landolt, seinerseits Statthalter, liess das Haus Mitte des 18. Jahrhunderts errichten.
Idyllisch am Seeufer im Seefeld gelegen, bietet es den Bindschedlers Ruhe, eine frische, gesunde Seebrise und besonders der Kinderschar eine aufregende Umgebung, wo sie sich austoben kann.
Die Erinnerungen an ihre unbeschwerte und glückliche Kindheit wird Ida später in Augsburg in den Jugendromanen Die Turnachkinder im Sommer (1906) und Die Turnachkinder im Winter (1909) verarbeiten. Beide Bücher gelten als autobiografische Werke: Schauplatz des Sommerbuchs ist somit die «Solitude», während sich die Handlung des Winterbuchs vorwiegend am Weinplatz und in der Zürcher Innenstadt abspielt.
2. Lehrzeit an der Einwohner-Mädchenschule in Bern
Wenn Ende der Sechzigerjahre ein Mädchen aus sogenannten gutbürgerlichen Kreisen sich dem Lehrerinnenberuf zuwandte, war das etwas Aussergewöhnliches. Bei Ida Bindschedler (geb. 1854) zeugt es von lebhaftem Geist und echtem Bildungsbedürfnis.
NZZ, 17. 7. 1947
Nach absolvierter Grundschulzeit in Zürich reist die junge Ida im Zug nach Bern. Sie will sich hier am renommierten Seminar der privaten Einwohner-Mädchenschule zur Lehrerin ausbilden lassen. Zum ersten Mal ist Ida allein fern von zu Hause; wie dem jungen Mädchen dabei zumute ist, beschreibt Ida rückblickend selbst:
Der Bahnzug fuhr über die hohe Brücke, und ich wünschte, dass sie zusammenbreche und mit dem ganzen Zug und mir in die Aare hinunterstürze. Ich war um zwei von zu Hause weggefahren und jetzt, um sechs Uhr, schon so unglücklich vor Heimweh, dass ich einen raschen Tod als Erlösung herbeisehnte. Aber die Brücke blieb fest; der Zug glitt ruhig dahin und hielt nach einer Minute im Berner Bahnhof, wo mich eine lebhafte Frau, meine künftige Pensionsmutter, in Empfang nahm und munter auf mich einredete, ohne damit meine stille Verzweiflung zu mildern.⁶
Zu Fuss wird sie mit ihrer Pensionsmutter vom Bahnhof in die Berner Altstadt gegangen sein, denn ihr Weg führt sie am «merkwürdigen Zeitglockenturm»⁷ – dem Berner Zytglogge – vorbei. Nach einer ersten Nacht im Pensionat tritt Ida am nächsten Morgen den Weg zum Schulhaus im Eckhaus Kornhausplatz-Statthaltergässchen – heute Rathausgasse – an, um ihre Aufnahmeprüfung zu absolvieren. Auch daran erinnert sie sich genau:
Am nächsten Morgen ging es hinauf durch die Lauben, die mir düster und dumpfig erschienen, zu dem alten «Einwohnermädchenschulhaus», das mir ebenfalls missfiel. Die ausgetretenen Treppen, die engen, niedrigen Schulzimmer, der barsche Abwart und dazu die Angst vor der Aufnahmsprüfung – mir war so trostlos zu Mut, dass ich jetzt noch, nach mehr als vierzig Jahren, Mitleid mit mir habe.⁸
Die private Einwohner-Mädchenschule setzt sich seit der Gründung 1836 zum Ziel, die «Jugend zu freiem Menschentum zu erziehen, befreit von den Fesseln der Standes- und Glaubensunterschiede»⁹. In dieser idealistisch geprägten Umgebung wird die wissensdurstige junge Ida ihre erste Ausbildung zur Lehrerin erhalten.
Ida besteht ihre Aufnahmeprüfung, obwohl sie sich dachte: «durchfallen, das wäre eigentlich das Beste; dann könnte man wieder heim».¹⁰ In Bern wird sie sich rasch eingelebt haben, denn schon am Abend nach ihrer Auf-nahmeprüfung schreibt sie nach Hause, sie «hätte nicht mehr so schrecklich Heimweh, wie gestern. Die Lauben, durch die man in der Stadt gehe, hätten etwas Heimeliges, und es sei sehr hübsch [...].»¹¹
Bereits am Tag ihrer Aufnahmeprüfung bekam Ida ihren Lehrer Joseph Viktor Widmann, der an den obersten Klassen der Anstalt Pädagogik, Psychologie, deutsche Sprache und Literatur unterrichtete und zudem als Direktor amtete, ein erstes Mal zu Gesicht. Wenig später lernt sie ihn als Lehrer kennen. Sie beschreibt die Stimmung während seines Unterrichts als eine prächtig freie, unbekümmerte:
In andern Fächern wurde doch immer etwas auf das Patentexamen hin gearbeitet. Bei Widmann dachten wir nicht daran. Seine Stunde war die Stunde des Grossen, Schönen und Edeln. Von allen Seiten liess er es hereinfunkeln. Aus der göttlichen Komödie sagte Widmann uns eine Strophe oder aus dem Faust; auf die Fresken der Sixtina kam er zu sprechen oder auf eine Symphonie von Beethoven. Und wie schön drückte sich auch in der flüchtigsten Erwähnung die Ehrfurcht vor dem Erhabenen aus. Shakespeare, Goethe, Schiller, Homer – wenn Widmann bloss den Namen nannte, lag in dem Tone eine stille Huldigung.¹²
Mit Widmann bleibt Ida bis an sein Lebensende freundschaftlich verbunden.
Wie ihr Alltag in Bern ausgesehen haben mag, können wir nur vermuten. Einem Bericht aus dem Jahr 1877 entnehmen wir, dass das Seminar mit «38 Wochenstunden Unterricht in der untersten, 40 in der mittleren und 16 in der obersten Klasse bedacht ist, wobei in der obersten Klasse vorausgesetzt wird, nebenbei einzelne Fachstunden der vorhergehenden Klassen zu besuchen»¹³.
Im April 1873 besteht Ida das zürcherische Staatsexamen für Lehrerinnen. Ihrem grossen Wunsch, als Lehrerin zu wirken, steht nun nichts mehr im Weg.
3. Erste Stelle als Primarlehrerin an der privaten Mädchenschule in Zürich
Als frischgebackene Lehrerin direkt ab Seminar stellt sich Ida Bindschedler bei Netta Hattemer vor, um sich für die Stelle einer Primarlehrerin an der in Zürich neu gegründeten Privatschule für Mädchen zu bewerben. Auf dieses erste Treffen mit der deutschen Professorentochter blickt Ida hier zurück:
Ich wurde in ein Zimmer geführt und fand mich einer mittelgrossen Dame gegenüber, die mir lebhaft, aber doch mit einer gewissen Haltung entgegentrat. Mit meinen neunzehn Jahren war ich sicherlich keine Menschenkennerin; das fühlte ich aber gleich, dass ich einer Persönlichkeit gegenüberstehe, einem eigenartigen, ungewöhnlichen Menschen. Die hübschen, energischen Gesichtszüge, vom dunkeln Haar umrahmt, machten mir einen starken Eindruck.¹⁴
Ida wird angenommen und wirkt ab Mai 1873 als Primar- und teilweise als Sekundarlehrerin an der neu eröffneten privaten Mädchenschule von Fräulein Hattemer in Zürich. In der Schulgründerin findet Ida eine ausgezeichnete Beraterin, die neben ihren vielen Aufgaben auch immer noch die Zeit findet, der unerfahrenen Lehrerin mit Rat beiseitezustehen:
Vom ersten Tag an lief das Räderwerk ausgezeichnet. Es war, wenn man Fräulein Hattemer so walten, anordnen, raten und unterrichten sah, als ob sie schon jahrelang an dieser Morgentalschule gearbeitet habe. Wie gut fand sie sich auch in Dingen zurecht, die ihr fern lagen; wie leicht wusste sie zu helfen: Es war ihr gelungen, mich zur Übernahme von zwei Botanikstunden an der Sekundarschule zu bestimmen. Botanik war im Seminar mein Lieblingsfach gewesen, und nur zwei Stunden in der Woche – das war vielleicht zu überstehen. Aber wie fängt man es mit solch einem Fache denn an? Da suchte Fräulein Hattemer – zu allem fand sie Zeit – unter ihren Büchern ein paar «Pflanzenlehren» heraus, blätterte sie mit mir durch, riet mir, da fast alle Schülerinnen aus Gartenwohnungen kamen, mit den Gartenpflanzen zu beginnen, möglichst durch Zeichnen auf der Wandtafel meinen Unterricht zu erläutern – kurz, gab mir eine vollständige Wegleitung, die sich als sehr gut erwies.¹⁵
emptyAbbildung 4 Morgentalschule Netta Tobler-Hattemer Stadtarchiv Zürich
Aber auch der patenten Frau Professor – Netta Hattemer heiratet im Sommer 1873 Herrn Professor Tobler – gelingt es nicht immer, alle Anfangsfehler zu vermeiden. Für den Erfolg des neu eröffneten Instituts ist es wichtig, dass die Lehrerinnen gut unterrichten und die Schule sich so das Vertrauen der Eltern und einen guten Ruf erwerben kann. Aber die jungen Lehrerinnen mit noch sorglosem Gemüt denken nicht immer daran, welche Auswirkungen Fehler auf den Erfolg der Schule haben können. Eines ihrer Fehler entsinnt sich Ida genau:
Ich erinnere mich z. B., dass ich einer besonders lebhaften kleinen Schülerin ins Zeugnis geschrieben: «Verursacht Störungen während des Unterrichts!» Ich glaube gar nicht, dass dem wirklich so war; aber kurz zuvor hatte meine ungeberdige jüngere Schwester den Satz in ihrem Zeugnis heimgebracht. Er hatte einen starken Eindruck bei uns zu Hause gemacht und mir deshalb imponiert. Durch ein Missverständnis war nun gerade das Zeugnis, das ich mit dem fatalen Zusatz versehen, dem letzten prüfenden Blick von Frau Professor entgangen. Entrüstet kam der Vater der Kleinen zu ihr, tat sehr aufgebracht und erklärte, wenn sein Töchterchen «den Unterricht störe», sei es wohl am besten, es herauszunehmen. Mit Mühe gelang es Frau Professor, den Erzürnten zu beruhigen.¹⁶
Nach zwei Jahren Tätigkeit an der Tobler-Schule entschliesst sich Ida, erneut in ihre Bildung zu investieren und sich am Lehrerseminar in Küsnacht auf das Staatsexamen vorzubereiten. Sie verlässt die Tobler’sche Mädchenschule im April 1875.
4. Es bläst ein neuer Wind – Lehrerin an der Landschule
1875 stehen Neuerungen in der Zürcher Bildungspolitik an! Während bisher den Lehrerinnen nur die Mädchenelementarklassen an der Stadtschule von Alt-Zürich offen gestanden hatten, werden nun auch Lehrerinnen auf dem Land eingestellt. Voraussetzung dafür ist allerdings das bestandene allgemeine Primarschulexamen. Um das zu erlangen, besucht Ida während eines Jahres das Küsnachter Seminar, wo sie im Frühjahr ihr Examen besteht.
Kurz danach tritt sie ihre Stelle in der Gemeinde Dietikon als Primarschullehrerin an. Gross ist der Unterschied zur privaten Mädchenschule im Morgental, wo sie artige und hübsch gekämmte Mädchen unterrichtete. In der Elementarschule auf dem Land ist die Stimmung jedoch anders:
Ich hatte da ein Heer unglaublich unartiger Buben und Mädchen «unter mir». Eigentlich war ich unter ihnen. Ich wusste mir am Anfang gar nicht zu helfen; auch im Verkehr mit den bäuerlichen Eltern und Vorgesetzten nicht.¹⁷
Ida stellt sich der Herausforderung. Sie wirft die Flinte nicht ins Korn, obwohl sie sich im rauen Wind der öffentlichen Schule nicht wirklich wohlfühlt. Zwei Jahre lang bleibt sie in Dietikon, ein weiteres Jahr unterrichtet sie in Hirslanden. Sie absolviert noch das Sekundarschulexamen, bevor sie sich aufmacht, um die Welt zu erkunden.
5. Als Lehrerin in Paris!
25-jährig reist Ida 1879 nach Paris, in die Stadt der Liebe und der schönen Künste. Hier will sie nicht nur ihre Französischkenntnisse perfektionieren, sondern auch etwas von der Welt sehen und erleben. Otto von Greyerz schreibt, dass sie sich dort «neben sprachlicher Ausbildung auch vielerlei Wissen und Menschenkenntnisse erwarb. Sie bezeichnete diese Jahre immer als eine reiche Erntezeit in ihrem Leben.»¹⁸
Die interessierte und unternehmungslustige junge Frau mit offenem Sinn wird sich bald in der Ferne wohlgefühlt haben. Sie wird durch die lauten, belebten Strassen von Paris gegangen sein, die lockenden Auslagen der Schaufenster bestaunend und das farbenfrohe Strassenleben geniessend. Viele Gestalten – oft so elegant, oft so verkommen – werden an ihr vorübergeeilt sein; sie wird die Paläste und Monumente, die ihr die Geschichte Frankreichs erzählten, besucht und bewundert haben. Freudig erregt wird sie durch den Louvre geschritten und im Musée de Cluny auf Entdeckungsreise gegangen sein. Theodor Leuthard, Protagonist ihrer Novellette Madame Yvonne, lässt Ida – als er unter dem rot-weiss gestreiften Vordach eines grossen Kaffeehauses am Boulevard St. Michel sitzt – Folgendes denken:
«Eigentlich lebt man doch nur hier ein wirkliches, volles Leben», seufzte er wohlig. «Man fühlt sich glücklich, klug, unternehmend, – wie getragen vom Ganzen. Man wächst gewissermassen über sich hinaus.» Was für prächtige Ferien waren das nun wieder gewesen in diesem einzigen Paris!¹⁹
Wer weiss, wie viel Ida wohl in den Worten des Herrn Leuthard steckt?
Ihren Lebensunterhalt finanziert sie, indem sie Schülerinnen in einem Pensionat unterrichtet. Nebenbei arbeitet sie als Privatlehrerin in vornehmen Häusern. Auch in Paris bevorzugen es die Wohlhabenden, die heissen Sommermonate auf dem Land im Sommerhaus zu verbringen. Ida reist wohl mit einer vornehmen Familie aufs Land, wo sie einige Monate verbracht haben mag. In Tante Nina’s Geschichte beschreibt sie diesen Aufenthalt folgendermassen:
Das alte Landhaus mit dem etwas verwilderten, parkartigen Garten lag in der grünenden Normandie, drei Stunden einwärts von Dieppe.
Hier umfing Nina nun ein Leben, wie sie es nie zuvor gekannt hatte, ein Leben der Unthätigkeit und der weltabgeschiedensten Stille. [...] Wenn sie so hinten in dem stillen Garten sass, wo die Morgensonne ihren Glanz durch die alten Bäume warf und der Springbrunnen leise plätscherte und die brennroten Geranien bespritzte, die rings im Kreise herum wuchsen, dann hielt sie wohl etwa ein Buch in der Hand; aber es war kein Grammatik- oder Literaturwerk, sondern ein Roman von George Sand oder Alexandre Dumas, den Nina in der gänzlich unbenutzten und verstaubten Bibliothek gefunden hatte. Auch wohl ein Band Musset.²⁰
Ida wird ihre Freizeit in Paris reich ausgestaltet haben, denn die grosse Stadt bietet neben einem belebten Strassenleben, Museen und historischen Bauten noch vielerlei weitere entdeckungswürdige Aktivitäten. So besucht sie beispielsweise Sonntagskonzerte des Dirigenten und Konzertveranstalters Jules Pasdeloup im Cirque Napoléon, heute Cirque d’hiver. Pasdeloup begründete 1861 mit einem eigenen Orchester die «Concerts populaires», die sich besonders der Verbreitung der Werke von Richard Wagner und Robert Schumann in Frankreich – noch zur Zeit des Wagnerhasses – widmeten.²¹ Wie sie den Tannhäuser im Sonntagskonzert in Paris erlebte, erzählt uns die begeisterte Ida selbst:
Nach jeder Nummer begann da ein wütendes Zischen und Pfeifen, und auf der anderen Seite, wo junge Deutsche sassen, ein frenetisches Beifallstoben und «Bis»rufen. Pasdeloup stand bewegungslos, mit erhobenem Taktstock den Moment erspähend, wo er mit dem Pilgerchor nochmals beginnen konnte – am Schlusse wieder Pfeifen und Gebrüll, oft bis die Polizei eingriff. Es war immer prachtvoll aufregend, beinahe gefährlich.²²
Nach 18 Monaten beendet Ida ihren Frankreichaufenthalt. Sie hat sich vielerlei Wissen und Menschenkenntnisse angeeignet und nimmt unzählige wertvolle Impressionen und Erlebnisse in ihrer Erinnerung mit.
Ida mag an einem nebligen Oktobermorgen vom Pariser Westbahnhof in eine neue unbekannte Ferne gereist sein.²³ Nun ist ihr Ziel England, wo sie ebenfalls als Lehrerin in einem gehobenen Pensionat unterrichten wird.²⁴ Hierzu liegen keine weiteren Informationen vor. Idas Lebenslauf entnehmen wir aber, dass sie sich lediglich ein halbes Jahr in Grossbritannien aufgehalten hat. An diesen Aufenthalt mag sich Ida erinnert haben, als sie in den Turnachkindern im Winter die Amerikanerin Edith mit adäquatem Akzent auf dem Larstetter Jahrmarkt lautstark Lebkuchen anpreisen lässt:
«Meine Herren und Damen, kommen Sie schnell kaufen, vor es ist zu spät!» rief Edith mit heller Stimme. «Hier, nehmen Sie von diesen ausserordentlich schönen Lebkuchen für – » sie wandte sich zu dem Männlein – «für dreissig Rappen!»²⁵
6. Zurück in Zürich – Lehrerin mit Herz und Seele
Nach zwei Reisejahren kehrt Ida im Frühjahr 1881 zurück nach Zürich. Sie bereitet sich auf das französische Fachexamen vor, um zukünftig auch als Französischlehrerin unterrichten zu können. Erneut tritt sie mit der Tobler-Schule in Kontakt. Frau Professor bietet ihr vorerst ein paar Stunden an, darunter das Zeichnen in den Realklassen. Ida ruft sich ihre Rückkehr ins Morgental ins Gedächtnis:
Die Schule hatte sich vergrössert: Im Frühjahr 1881, als ich wieder zu ihr in Beziehung trat, zählte sie rund 100 Schülerinnen. Man hatte die Klassen teilen und das erste Stockwerk zu Schulräumen umwandeln müssen.²⁶
Nach dem bestandenen Fachexamen übernimmt sie den Hauptunterricht der dritten und vierten Primarklasse an der Tobler-Schule.
emptyAbbildung 5 Ida Bindschedler erhält das Lehrerpatent für französische Sprache
Neue Zürcher Zeitung, Nr. 91, 22. 3. 1881
Als Ida 1885 eine Anstellung als Fachlehrerin für Französisch, Zeichnen und Turnen an der Mädchensekundarschule in Zürich (Hirschengraben) erhält, gibt sie den Hauptunterricht an der Tobler-Schule ab. Sie behält aber weiterhin den Unterricht an der unteren Sekundarabteilung, wo sie Geschichte, Geografie, Zeichnen und zeitweise auch Naturkunde und Turnen unterrichtet. Neben den Klassenstunden kommen noch reichlich Privatstunden dazu:
Bald war einer Unbegabten oder einer Schülerin, die länger krank gewesen, nachzuhelfen, oder einer Ausländerin – was ging uns alles an solchen durch die Hände, aus welschen Ländern und aus dem Norden, aus Ungarn und vom Schwarzen Meer, aus Brasilien und Nordamerika, dem Kapland und Vorderindien; – solch einer Ausländerin, also die Anfangsgründe des Deutschen und wohl etwa auch der Kultur überhaupt beizubringen.²⁷
Netta Tobler-Hattemer, die selbst ein ungeheuerliches Pensum absolviert, bietet die Stunden jeweils den Lehrerinnen an als ein selbstverständliches kleines Mehr:
Es wäre nicht gut gegangen, ihr zu sagen: «Ich kann nicht noch mehr übernehmen.» Das hätte sie nicht begriffen. Schliesslich war es ja auch ehrenvoll, 35 oder 40 Stunden zu haben statt bloss 30 und auch hübsch, dass die Einnahmen sich mehrten.²⁸
So verwundert es nicht, dass Ida Bindschedler am Ende der Woche immer todmüde ist; ihr Leben aber geht in jenen Jahren ganz auf in ihrer pädagogischen Arbeit.
Im Jahr 1892 verkauft Netta Tobler-Hattemer ihre Schule an die Wetli-Schwestern, selbst ehemalige Schülerinnen. Ida Bindschedler bleibt auch der neuen Schule als Lehrerin erhalten. Sie erinnert sich:
Warum ich als ältester Matrose auf dem Schiffe blieb, nachdem der Kapitän und die ganze Richtung gewechselt, weiss ich nicht. Ich glaube, Frau Professor hatte es für den Anfang gewünscht. Ich gehörte sozusagen zum Inventar.²⁹
Fünf Jahre später, im Alter von 43 Jahren, sieht sich Ida Bindschedler wegen eines Herzleidens dazu gezwungen, ihr geliebtes Lehramt vollständig aufzugeben. Über ihre Lehrtätigkeit an der Tobler-Schule schreibt sie rückblickend:
Manches in meinem Leben möchte ich streichen oder anders machen können. An jene Jahre aber denke ich mit Freude und Befriedigung. Wir arbeiteten so tapfer; wir liebten die Schule und waren stolz auf sie. Wir betrachteten uns nicht als blosse Angestellte, die ihre Pflicht tun und, wenn die Feierabendstunde schlägt, die Arbeitsschürze ablegen und damit auch alle Gedanken an die Arbeit. Wir waren mit der Schule verwachsen; sie war ein Stück von uns; wir standen für sie ein.³⁰
Trotz umfangreicher Recherchen konnte keine weiterführende Information über Idas Herzkrankheit gefunden werden. Ida selbst erwähnt ihr Leiden in den vorhandenen Dokumenten nur zwei Mal. Ein erstes Mal schreibt sie in einem Brief vom Februar 1909 an Joseph Widmann, während sie noch mit der Fertigstellung der Turnachkinder im Winter beschäftigt ist, dass sie kein weiteres Buch mehr schreiben werde, denn ihr Herz hielte das gar nicht aus.³¹ Eine weitere Erwähnung findet ihr Leiden im Nachruf auf Netta Tobler-Hattemer im November 1917. Sie schreibt: «Später konnte ich wegen meines Herzleidens die Treppen im Haus an der Asylstrasse nicht mehr ersteigen. Wir, Frau Professor und ich, trafen uns dann im Waldhaus Dolder oder sonst wo in einem Kaffeegarten.»³²
1897 verlässt Ida ihre Heimatstadt Zürich, um nach Augsburg ins Heim ihrer Freundin Emma von Wachter und deren Vater Dr. von Wachter zu ziehen, wo sie liebevolle Pflege und Ruhe findet.
Endnoten
³Metz, M. S.: Den kleinen und grossen Freunden Ida Bindschedlers und ihrer «Turnachkinder». Zürich 1952, Archiv R. G. Bindschedler-Familienstiftung Zürich.
⁴Bindschedler, Ida: Schiller in der Kinderstube. Schweizerische Lehrerzeitung, Nr. 18, 6. 5. 1918, S. 176, Schweizerische Nationalbibliothek Bern.
⁵https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000171/2015-01-25/ (Zugriff: 12. 7. 2023).
⁶Bindschedler, Ida: Zu J. V. Widmanns 70. Geburtstag (20. Februar 1842). Schweizerische Lehrerzeitung, 1912, Schweizerische Nationalbibliothek Bern.
⁷Ibidem.
⁸Ibidem.
⁹H. B.: Hundert Jahre Mädchenschule der Stadt Bern. In: Die Berner Woche in Wort und Bild: ein Blatt für heimatliche Art und Kunst. Band 26, Heft 42, 1936, www.e-perio dica.ch .
¹⁰ Bindschedler, Ida: Zu J. V. Widmanns 70. Geburtstag (20. Februar 1842). Schweizerische Lehrerzeitung, 1912, Schweizerische Nationalbibliothek Bern.
¹¹ Bindschedler, Ida: