Politik von unten: Gelingt das Comeback der Sozialdemokratie?
Von Robert Misik
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Über dieses E-Book
Robert Misik, jahrzehntelanger Kenner der österreichischen und der europäischen Sozialdemokratie, beschreibt, wie es zur Sklerose der progressiven Parteien gekommen ist, wie sehr die Identitätskrise des »Dritten Weges« noch nachwirkt und wie in eine orientierungslose Apparatschikpartei wieder Leben hineinkommen kann.
Robert Misik
Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller und schreibt regelmäßig für die Berliner »tageszeitung«, »Die Zeit«, die »Neue Zürcher Zeitung« und den Wiener »Falter«. Zahlreiche Preise, etwa der Bruno-Kreisky-Förderpreis, 2010 Journalist des Jahres in der Kategorie Online. 2009 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen im Picus Verlag »Was Linke denken«, »Ein seltsamer Held«, »Herrschaft der Niedertracht«, »Die neue (Ab)Normalität«, »Putin. Ein Verhängnis« (2022).
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Buchvorschau
Politik von unten - Robert Misik
1
Plötzlich Chef
Integer, glaubwürdig, volksnah – kann Andi Babler mit diesen Attributen punkten?
Es ist der 4. Juni 2023, knapp nach 15 Uhr, ein Sonntag, und nach wilden Wochen kommt »der Andi«, wie ihn das halbe Land längst nennt, langsam zur Ruhe. Er sitzt im Familienauto am Steuer und bringt die Schwiegereltern, die die letzten Tage auf die Tochter aufgepasst haben, zum Bahnhof. Denn schließlich findet ein großes Abenteuer jetzt sein vorläufiges Ende und der Traiskirchner Bürgermeister kann zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass sein Leben und das seiner Partnerin und Mitstreiterin, Karin Blum, wieder in etwas ruhigeres Fahrwasser treibt. Es ist ziemlich genau vierundzwanzig Stunden nach Andreas Bablers größten Triumph– von dem in diesem Augenblick allerdings noch niemand etwas ahnt.
»Mich hat gestern niemand trösten müssen«, lacht er aufgeräumt, als ich ihn am Mobiltelefon erreiche. »Wir haben eine unglaubliche Kampagne zustande gebracht, wir haben in der Stichwahl so viele Delegierte auf unsere Seite gezogen, die Parteitagsrede hat gut funktioniert, mehr hätte man nicht drehen können«, sagt der Mann, der erst vor drei Monaten als Underdog-Kandidat und Frontfigur einer idealistischen Basisbewegung in den Wettbewerb um den SPÖ-Vorsitz eingestiegen war, mit seiner Grassroots-Kampagne für eine Eintrittswelle von Tausenden neuen Parteimitgliedern gesorgt und dann auf dem Parteitag nur haarscharf verloren hatte. Wir scherzen etwas herum, und irgendwann sage ich, »ein paar Stimmen mehr, und euer normales Leben als Familie wäre zu Ende gewesen.«
Vierundzwanzig Stunden später wird das bisherige Leben des Kleinstadtbürgermeisters tatsächlich zu Ende gehen.
Denn es ist etwas ganz Irres geschehen. In Wahrheit hatte Babler gewonnen, die Wahlkommission hatte sich nur verzählt. Eine falsch befüllte Excel-Vorlage hatte ein bizarres Additionsfiasko ausgelöst, sodass am Parteitag der falsche Sieger ausgerufen wurde. Am Montag wurde noch einmal nachgezählt und nach Fehlern gesucht, dabei fiel erst auf, dass eigentlich Babler gewonnen hatte.
Es war der skurrile Höhepunkt eines holprigen Führungswettbewerbs der SPÖ, bei dem die Emotionen hochgingen. Eine länger schon innerlich zerrissene, mit sich selbst hadernde Partei lieferte sich bissige Grabenkämpfe. Das Auszählfiasko verdeckte auch ein bisschen, was da eigentlich Unglaubliches geschehen war. Als sich ein Duell der bisherigen, oft recht glücklosen Parteivorsitzenden Pamela Rendi-Wagner und ihres Dauerrivalen Hans Peter Doskozil abzeichnete, war nicht nur »bitte keiner von den beiden« eine recht weit verbreitete Stimmung in der Partei und der Sympathisantenschar. Eine Gruppe rebellischer, unorthodoxer Parteifunktionäre – nicht nur, aber überwiegend der jüngeren Generation – startete eine Basisbewegung. Nach einigem Hin und Her ging Andi Babler als Kandidat dieser Gruppen ins Rennen. Da die österreichische Sozialdemokratie, wie jede etablierte progressive Partei, auch eine behäbige Funktionärstruppe ist, erschienen die Chancen eines solchen antietablierten Underdog-Kandidaten nicht unbedingt extrem hoch. Gewiss, es war jedem klar, dass es diesmal ein Window of Opportunity gibt, also ein »Fenster des Möglichen«. Aber als Favorit hätte den Underdog wohl kaum jemand gesehen.
Wenige Wochen später war der Außenseiter tatsächlich Parteichef und Anführer der größten Oppositionspartei. Es ist ein veritables Politikmärchen geworden. Der Outsider, der den Apparat aufrollt, der David, der den Goliath bezwingt. Die linke Basiskandidatur, die so stark wird, dass am Ende auch wichtige Teile des führenden Parteiestablishments auf den Neuen einschwenken.
Betrachtet man die Sache aus einer größeren historischen und globalen Perspektive, dann ist dieses Geschehen zwar bemerkenswert, aber nicht völlig einzigartig. In den traditionellen progressiven Parteien gibt es viel Unzufriedenheit mit dem etablierten Führungskader, weil der oft nicht idealistisch genug ist, weil der die politischen Energien der Anhängerschaft frustriert, aber auch, weil er oft nicht auf der Höhe der Zeit ist, nicht modern genug, weil er das Strippenziehertum verteidigt, das seine Macht begründet. Das Lamento über das hergebrachte Politiksystem nährt sich auch durch die Tatsache, dass junge, eigensinnige Köpfe praktisch nie hochkommen. Teile der Wählerschaft würden sich leidenschaftlichere Weltverbesserungsparteien wünschen, bekommen aber nur langweilige, graugesichtige Anzugträger geboten, andere Teile der Wählerschaft würden sich volkstümlichere Politiker wünschen, von denen man spürt, dass sie das Herz am rechten Fleck haben. Oder einfach Leute, die begeistern können. Es ist ein ganzer Strauß an Gründen, nicht immer treffen alle gleichzeitig zu, die eine durchaus verbreitete Unzufriedenheit mit den linken Traditionsparteien begründen. Bei den US-Demokraten haben radikale Basiskandidat:innen wie Alexandria Ocasio-Cortez glänzende Erfolge gefeiert, der großväterliche, idealistische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders ist einer Nominierung als Spitzenkandidat überraschend nahe gekommen, die britische Labour Party wählte den eigensinnigen Hinterbänkler Jeremy Corbyn zum Parteichef, was zeitweise Begeisterung auslöste, am Ende aber nicht so viel brachte. Die italienischen Demokraten hievten 2023 eine Art links-progressive Quereinsteigerin, Elly Schlein, nach schmerzhaften Niederlagen auf die Spitzenposition, und bei der deutschen SPD gewann 2019 ein Links-Duo die Vorsitzwahl, das quer zum etablierten Apparat stand. Letztlich war sogar schon Barack Obama bei den US-Demokraten ein Produkt dieser Stimmungen: 2004 fiel der State-Senator des Staates Illinois erstmals einem größeren Publikum auf, schon vier Jahre später war er US-Präsident. Kurzum, die hergebrachten linken Parteien und politischen Kräfte der früheren Arbeiterbewegung haben ein großes Frustpotenzial in sich und auch genug an aufgestauter Identitätskrise, die in letzter Zeit immer wieder dazu führen, dass rebellische Außenseiter an die Parteispitze gespült werden. Und auch Spitzenpolitiker und -politikerinnen, die eher aus dem etablierten Funktionärskader kommen, versuchen ihre Politik zu adaptieren oder einen anderen Stil anzuwenden, vom charismatischen portugiesischen Premierminister Antonio Costa über Pedro Sanchez in Spanien bis hin zu Olaf Scholz, der sich nach seiner Niederlage im innerparteilichen Wettstreit neu positionierte, Kanzlerkandidat wurde und wider viele Prognosen die Bundestagswahlen gewonnen hat.
Andi Babler ist als Phänomen also eine Art Reaktion auf eine Unzufriedenheit, die es nicht nur in Österreich gibt. Als erst der linke Ökonom und widerborstige Bezirksfunktionär Niki Kowall und danach auch Babler die Kandidatur anmeldeten, geschah etwas völlig Unbekanntes: Es kam regelrechte Aufbruchstimmung auf. Praktisch über Nacht sind zehntausend neue Mitglieder der SPÖ beigetreten. Womöglich ist Babler auch deshalb eine so spannende Figur, weil er Charaktereigenschaften vereint, die heute relativ selten in einem Linkspolitiker kombiniert sind. Er ist links-progressiv, in der Gesellschaftspolitik liberal, hat keine Abgleitflächen in Richtung eines »Links-Nationalismus«, wie das etwa bei Sahra Wagenknecht der Fall ist, in ökonomischen und sozialpolitischen Fragen ist er links, und als Phänotyp ist er ein geerdeter, bodenständiger Bürgermeister einer Kleinstadt mit sehr viel Street Credibility auch im ländlichen Bereich. Er ist so eine Art Menschenfischer, von dem die Leute sagen, »das ist einer von uns«, der einfach von seiner Ausstrahlung wie selbstverständlich als ein warmherziger Fürsprecher der »ganz einfachen, normalen Leute« erscheint. Und dem man zudem anmerkt, dass er sich auf jedem Kirtag und Feuerwehrfest wohlfühlt.
Fünfzig Jahre war er gerade geworden, als er in den Führungswettkampf einstieg. Allgemein ist Babler da schon als »der gute Mensch von Traiskirchen« bekannt. Als linker Juso hat er gegen die konservative Kirche mobil gemacht und für einen Skandal gesorgt, weil er sarkastisch das Verbrennen von Kreuzen empfahl, aber mittlerweile ist es auch schon wieder einige Jahre her, und er wurde sogar vom Papst zu einer Privataudienz empfangen, der sich ausdrücklich bei ihm für die Hilfe bedankte, die er und seine Gemeinde hilfsbedürftigen Flüchtlingen zukommen lassen.
Babler hat den Zuspruch der Parteibasis, die sich nicht mehr gehört gefühlt hat, er ist ein Linker, der sich in Menschenrechtsfragen gegen den rechten Mainstream stellt, aber zugleich kultiviert der frühere Maschinenschlosser und Fabrikarbeiter seine Volksnähe. Darin ist er authentisch, dadurch wird er auch in weiten Teilen der arbeitenden Klassen als authentischer Vertreter wahrgenommen. Auf der Links-Rechts-Achse ist er links, auf der nicht minder wichtigen Oben-Unten-Achse verkörpert er das »Unten« gegen »das Establishment«. Vor sieben Jahren holte er in seiner Neunzehntausend-Seelen-Kommune sagenhafte dreiundsiebzig Prozent der Stimmen, vor zwei Jahren verlor er auch nur unwesentlich auf knapp zweiundsiebzig Prozent.
Die Befürworter Bablers sind kritische Parteimitglieder, die der Maxime folgen, »wir holen uns die Partei Victor Adlers zurück«, aber auch Aktivisten und Funktionäre, denen das Gegeneinander der vormaligen Top-Kandidaten einfach auf die Nerven geht.
Bald nach Bekanntgabe seiner Kandidatur war es eine veritable Woge, die ihn trug: Wo er hinkam, gab es volle Säle. Bei