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Tod am Rhein
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eBook401 Seiten4 Stunden

Tod am Rhein

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Über dieses E-Book

Im Nordosten der Schweiz, am rechten Ufer des Hochrheins, liegt das malerische Kleinod Stein am Rhein. Der Charme des mittelalterlichen Städtchens zieht alle in seinen Bann. Hier lebt und ermittelt der eigenwillige Oberleutnant Alberto Brambilla von der Schaffhauser Polizei. Gewaltdelikte sind seine Spezialität, Intuition ist sein Ratgeber, Genuss mit Stil das Lebensmotto.
Eines Herbsttages kommt die 73-jährige Lydia Furger im Stadtgarten auf mysteriöse Weise ums Leben. Brambilla erahnt ein Geheimnis dahinter, nimmt die Ermittlungen auf und stösst mit seinen Verdächtigungen vielen vor den Kopf. Während er im Nebel stochert, freundet er sich mit dem Berner Sennenhund Balou an, und als er kurz davor ist, aufzugeben, fällt ihm unerwartet ein Brief in die Hände. Bringt dieser die entscheidende Wendung?
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2024
ISBN9783729624153
Tod am Rhein

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    Buchvorschau

    Tod am Rhein - Sandra Pfändler

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Prolog

    1

    2

    3

    4

    5

    6

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    27

    Über die Autorin

    Über das Buch

    Sandra Pfändler

    Tod am Rhein

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍n‍em Strukturbeitrag für die Jahre 2021‍–‍2024 unterstützt.

    © 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Alisa Charté

    Korrektorat: Ulrike Ebenritter

    Umschlagfoto: VLFotos / Adobe Stock

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub 978-3-7296-2415-3

    www.zytglogge.ch

    Sandra Pfändler

    Tod am Rhein

    Roman

    empty

    Nichts ist, wie es scheint.

    Prolog

    «Wo bleibt sie denn?» Xystus Furger trat an das Fenster seines Arbeitszimmers. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, suchte er den Garten und die dahinterliegende Wiese ab. Die Aussicht reichte bis zum Rhein. Der Fluss glänzte silbern und lag gemütlich in seinem Bett, auf dem Wasser tummelten sich Schwäne und Enten, ein paar Möwen kreisten durch die Lüfte.

    Der neue Tag begrüßte die mittelalterliche Kleinstadt feuchtkalt und schwer. Trostlos zeichnete sich die Umgebung vor seinen Augen ab. Die Sonne versteckte sich hinter einer Schicht grau melierter Zuckerwatte. Die um diese Jahreszeit zumeist leuchtend bunten Farben verwandelten sich in verwaschene Nuancen. Der Stadtgarten war wie ausgestorben. Dröhnende Stille tat kund, dass manche Menschen noch schliefen oder beim Frühstück saßen, andere bereits ihrer Arbeit nachgingen und die Kinder auf dem Weg zur Schule waren, anstatt sich auf dem großen Abenteuerspielplatz auszutoben.

    Es war Ende September. Allmählich löste der Herbst den Sommer ab, die Tage wurden kürzer, die Temperaturen kühler. Normalerweise legten sich an Morgen wie diesem zarte Nebelschwaden auf den Rhein, die im Schein der Sonnenstrahlen golden schimmerten und dem Fluss einen mystischen Zauber verliehen. Aber heute war alles anders.

    Xystus' Blick kehrte zurück und schweifte über die Dahlien in seinem Garten. Sie blühten in den unterschiedlichsten Formen und Schattierungen. Die Königin des Spätsommers gehörte zu Lydias Lieblingsblumen. Sie pflegte sie mit derselben Hingabe, mit der sie sich im Frühjahr den Tulpen und Narzissen, Pfingstrosen und Primeln und im Sommer den Callas, Rosen und Küchenkräutern widmete.

    Mit einem Lächeln schüttelte Xystus den Kopf, er schloss für einen Moment die Augen und rieb sich die Nasenwurzel. Obwohl er sich anstrengte, erinnerte er sich nicht daran, ob es je einen Tag in ihrem gemeinsamen Leben gegeben hatte, an dem seine geliebte Frau nicht im Garten gewesen war. Selbst im Winter trotzte sie eiskalten Winden, nur um einen Zweig Rosmarin für ihr sagenhaftes Lammrückenfilet zu ernten oder das Heidekraut zu bekümmern.

    Wieder hob er den Blick und ließ ihn dem schmalen Kiesweg entlang folgen, der sich von der Glastür seines Arbeitszimmers aus quer über das Grundstück schlängelte. Bei dem kleinen Tor inmitten des Holzzauns, der sein bescheidenes Eigentum begrenzte, verlor er sich im Nirgendwo. Dahinter trennte eine Wildwiese ihr Haus von dem Weg, der die Schifflände mit dem Strandbad verband und die Flaneure dem Rheinufer entlang durch den Stadtgarten führte. Der Boden gehörte einem Bauern, der die meiste Zeit im Jahr Schafe darauf weiden ließ. Auf diese Weise bescherte ihm sein Besitz kaum Aufwand, und was Xystus betraf, so kam ihm dieser Umstand sehr gelegen. Längst hatte er sich mit den Tieren angefreundet, täglich unterhielt er sich mit einigen von ihnen. Er liebte das unermüdliche Bimmeln der hellen Glocken, und auch Balou hatte einen Narren an den weißen, braunen und gefleckten Wollknäueln gefressen. Am liebsten spielte der Berner Sennenhund Fangen mit ihnen oder legte sich dicht an sie gedrängt unter den großen Walnussbaum, der mitten im Gelände stand. Die Tiere vertrauten dem zotteligen Hund vorbehaltlos.

    «Warum kommt sie denn nicht nach Hause?» Xystus verließ seinen Posten am Fenster und schlurfte zur Glastür hinüber. Erneut musterte er die Schafe und bestaunte ihre stoische Ruhe. Sie schienen niemanden zu vermissen, keine Angst oder Traurigkeit zu verspüren. Genüsslich zupften sie das Gras und blökten zufrieden. Hin und wieder sah eines der Tiere zu ihm herüber, und er winkte ihm zu.

    Minuten später nahm Xystus die weichen, behäbigen Schritte wahr, die sich ihm von hinten näherten. Langsam drehte er sich um und sah Balou, der sich neben ihn setzte und hechelnd zu ihm aufblickte.

    «Hast du eine Ahnung, wo sie steckt?» Mit knackenden Gelenken ging er in die Hocke, nahm liebevoll Balous Kopf zwischen die Hände. Der Hund verankerte seinen Blick in dem seines Herrchens. Xystus glaubte, darin tiefe Sehnsucht und eine noch nie da gewesene Unruhe zu erkennen.

    «Was ist?», hakte er nach, während er den Rüden hinter den Ohren kraulte. «Weißt du es oder weißt du es nicht?»

    Balou bellte kurz, aber unmissverständlich.

    «Das habe ich befürchtet», murmelte Xystus und fuhr Balou durch das lange, schwarz glänzende Deckhaar. «Wir müssen ihr beibringen, eine Nachricht für uns zu hinterlassen, wenn sie das Haus verlässt. Vor allem, wenn sie so lange wegbleibt.»

    Langsam richtete er sich auf, sehr darauf bedacht, keine schnellen Bewegungen zu machen, doch seine Vorsicht war umsonst. Wieder überkam ihn eine dieser unangenehmen Schwindelattacken. Er hielt sich am Fensterbrett fest, kniff die Augen zusammen und beschwor ihr Ende herauf. Ein leises Knurren vibrierte durch den Raum. Xystus lachte auf, obwohl ihm nicht danach zumute war.

    «Gut», meinte er, «dann wäre das geklärt. Lass uns also mit ihr schimpfen, wenn sie wieder da ist.»

    Schwerfällig stützte er sich ab. Allmählich ließ der Schwindel nach, der Anfall schien beinahe überstanden. Benommen torkelte er über die knarrenden Holzdielen zu dem Ohrensessel, der der Glastür gegenüberstand, und sank seufzend in die Polster. Angst schnürte seine Kehle zu, unermessliche Trauer breitete sich in seiner Brust aus, stumme Tränen vermischten sich mit den Fluten des Rheins. Er war müde.

    Mit einem Wuff sprang Balou auf und trippelte nervös hin und her, bevor er aus dem Arbeitszimmer huschte, durch den Flur wetzte und kurz darauf zurückkam, um schnüffelnd das Zimmer abzusuchen.

    «Ist ja gut, mein Großer», flüsterte Xystus. «Komm zu Opa.» Im Nu stand der Hund an seiner Seite. Mit offenem Maul und heraushängender Zunge atmete er rasch und deutlich hörbar ein und aus. Furger legte eine Hand auf seinen Kopf.

    «Sie kommt bestimmt bald wieder. Spätestens, wenn sie Hunger hat», versuchte er die Situation aufzulockern. Aber er war zu erschöpft, als dass er hätte Leichtigkeit hineinbringen können. Er lehnte sich zurück und lauschte auf die erwachenden Geräusche, die ihn wie einen schützenden Mantel umgaben: das vertraute Brummen des Verkehrs, der über die Straße vor dem Haus rollte. Das Stottern eines Motorboots auf dem Rhein. Balous regelmäßiges Schnaufen und das laute, gleichmäßige Ticktack der handgeschnitzten Schwarzwälder Uhr, die in der Küche an der Wand hing. Jeweils zur vollen Stunde öffnete ein kleiner schwarzer Kuckuck das Türchen im Giebel des Dachs und verkündete fröhlich die Zeit, bevor eine sanfte Melodie für wenige Sekunden durch die Wohnung hallte, nur um sich anschließend in endloser Stille zu verlieren, bis die nächste Stunde vorüber war.

    Lydia hatte ihm die Uhr geschenkt, möglicherweise aus Eigennutz, denn im Gegensatz zu ihm brannte sie für solchen Kitsch. In all den Jahren hatte er es nicht übers Herz gebracht, ihr zu beichten, wie sehr ihm diese Holzhütte missfiel und dass er den Vogel mit seinem Revierschrei geradezu hasste. Also hing die Uhr immer noch an derselben Stelle. Manchmal nahm er sie kaum wahr; an Tagen wie diesen störte er sich hingegen an jedem Tick und jedem Tack. Es erinnerte ihn daran, wie die Sekunden, Minuten und Stunden verrannen, Zeit, in der er auf das Liebste und Wertvollste wartete, das er in seinem Leben hatte.

    «Es ist eine sehr schlechte Angewohnheit von Frauchen, dass sie uns nie sagt, wo sie hingeht und was sie dort macht», jammerte er. «Denkt sie denn überhaupt nicht daran, dass wir uns um sie sorgen könnten?»

    Es fühlte sich an, als verlöre er die Kontrolle. Der Hund lag zu seinen Füßen und winselte ohne Unterlass. Ab und zu hob er träge den Kopf und sah ihn treuherzig an. Vorsichtig beugte Xystus sich vornüber und kraulte ihn mit steifen Fingern an dem kleinen weißen Nackenfleck. Liebkosungen dieser Art mochte der Rüde besonders. Genüsslich gab er sich den Streicheleinheiten hin, bevor er sich umständlich aufraffte und sich an seine Beine schmiegte.

    «Guter Hund», flüsterte Xystus, vergrub das Gesicht in seinem tiefschwarzen Fell, atmete den vertrauten, hündischen Geruch ein, spürte die Wärme seines korpulenten Körpers. Balou fiepte aufgeregt, verlagerte unentwegt sein Gewicht, drückte sich gegen seine Knie. Xystus richtete sich auf. «Was ist los mit dir? Du zitterst ja.» Der Hund zog die Rute ein, legte den Kopf auf seinen Oberschenkel und sah ihn ehrerbietig an. Xystus streichelte ihn in der Hoffnung, er möge sich beruhigen, doch die Anspannung wuchs mit jeder Minute. Er ließ von ihm ab, musterte ihn, rang mit seiner eigenen Überforderung. Warum kam Lydia nicht nach Hause?

    Plötzlich läutete die Hausglocke. Sie schreckten zusammen. Balou sprang zur Seite, Xystus hievte sich aus dem Sessel und hastete mit unbeholfenen Schritten durch das Zimmer und den langen, schmalen Flur zur Tür. Der Hund schleppte sich bellend hinterher.

    Ungeschickt machte er sich an dem Schlüsselbund zu schaffen, schloss endlich auf und drückte die Klinke hinunter. Kaum war die Tür einen Spaltbreit geöffnet, spähte er hinaus. In demselben Moment sackte er in sich zusammen.

    Anstelle seiner Frau stand ein düster dreinblickender Mann vor ihm. Er mochte auf die fünfzig zugehen, war durchschnittlich groß, hatte dunkle Haare, durch die sich feine Silberfäden zogen. Der kurze Vollbart verlieh ihm etwas Gangsterhaftes, dagegen hoben sich die auffallend gepflegten Brauen, die offensichtlich teuren Jeans, das weiße Hemd und das sportive Sakko deutlich ab. Seine Ausstrahlung war dennoch bedrohlich.

    Xystus wusste, wer der Mann war. Die Einwohnerinnen und Einwohner von Stein am Rhein kannten ihn und machten für gewöhnlich einen großen Bogen um seine Gestalt. Auch er. Nun stand er ausgerechnet vor seiner Tür. Unwillkürlich fasste sich Xystus an die Brust.

    «Furger?»

    Die nahezu schwarzen Augen des bekannten Unbekannten durchbohrten seine Seele. Er schluckte, um seine trockene Kehle zu befeuchten. Die Stimme, die irgendwo zwischen Tenor und Bass schwang, jagte einen eisigen Schauer über seinen Rücken.

    «Xystus Furger?»

    Er nickte.

    «Brambilla. Kriminalpolizei Schaffhausen.»

    1

    Mit blubberndem Auspuffsound fuhr er in seiner blauen Limousine auf den großen asphaltierten Platz vor der einzigen Taverne im Ort. Ohne auf Schilder oder Markierungen zu achten, parkte er den Wagen zwischen zwei alten, ausgedienten Schiffspollern, schaltete den Motor ab und warf einen Blick auf den Rhein.

    Die Schifflände wirkte verlassen, obwohl es kurz nach Mittag war. Von Diessenhofen her kommend bewegte sich ein Linienschiff direkt auf die Anlegestelle zu. Brambilla zweifelte daran, dass jemand auszusteigen plante, das Schiff war genauso leer wie der Platz, auf dem er stand.

    Er drehte den Kopf, sah zur Rheinbrücke, die die beiden Ortsteile von Stein am Rhein miteinander verband, und blieb an den wenigen Schaulustigen hängen, die aufmerksam das Geschehen an der Schifflände verfolgten. Schließlich lenkten ihn ein paar Wasservögel ab, die aufgeregt vor dem weißen Ungetüm flüchteten, das unerbittlich auf sie zusteuerte. Amüsiert äffte er ihr Schnattern und Quaken nach.

    Nachdem er genug gesehen und gehört hatte, zog er entschlossen den Zündschlüssel, wuchtete sich aus dem Auto und schlug die Tür zu. Dabei bekam er mit, wie einige Menschen aus einer Gasse stürmten und auf die Schiffsanlegestelle zueilten. Erst eine straff gespannte Kette zeigte ihrer Hast die Grenzen auf, sie blieben stehen und kramten nervös in ihren Taschen.

    Brambilla schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sich selbst. Zärtlich tätschelte er das Autodach, seine Augen glitten über das frisch polierte Kultblech. Der Ford Taunus aus den 70er-Jahren war legendär. Wenn er mit leichten Vibrationen durch die Straßen der Kleinstadt zog, drehten sich alle nach ihm um, nicht nur die Liebhaber alter Autos. Der Wagen mit der sportlichen Optik und dem unsportlichen Fahrwerk erregte Aufsehen, genau wie er, denn er konnte sowohl mit seinem Alter wie auch mit seiner Attraktivität durchaus mit dem Oldtimer mithalten.

    Bevor er sich auf den Weg zur Schenke machte, sah er sich noch einmal prüfend um. Mit Getöse wirbelten die Schiffsschrauben das Wasser auf, während sich der Koloss vorsichtig der Hafenmauer näherte. Die wartenden Menschen verhielten sich unruhig, Möwen kreisten kreischend über ihren Köpfen. In der Ferne bellte ein Hund. Dann brach wieder die Stille herein, nur das eintönige Brummen der Schiffsmotoren war noch zu hören.

    Wie vermutet stieg niemand aus, und bald würde nichts mehr daran erinnern, was sich an diesem Ort gerade abgespielt hatte.

    Brambilla setzte sich in Bewegung und schlenderte auf die große Holzterrasse vor seinem Stammlokal zu. Den Blick hielt er geradeaus gerichtet. Sein ungeteiltes Interesse galt der Schurken-Taverne oder Osteria dei Mascalzoni, wie seine Eltern sie nannten, eine Kneipe für Gauner oder eben: Schurken. Während es seine Mutter schlicht nicht kümmerte, fühlte sich sein Vater von dem Namen der Lokalität provoziert. Er vertrat die Auffassung, dass es eines führenden Mitarbeiters der Kriminalpolizei unwürdig sei, in einer Gaunerkneipe das Feierabendbier zu trinken. Dabei vergaß der alte Herr, dass sein Sohn Wein bevorzugte.

    In einem Punkt aber musste er seinen Eltern recht geben: Am Rande eines malerischen Städtchens am Schweizer Ufer des Rheins, eingebettet zwischen gut erhaltenen Fachwerkhäusern, wirkte die Osteria dei Mascalzoni mit ihrem mediterranen Flair tatsächlich fehl am Platz. Mit sensiblerem Gespür und etwas gutem Willen ließ sie sich aber auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Die Taverne fiel auf, sie lud zum Verweilen und Träumen ein, gestattete genussvolle Auszeiten und vermittelte ein Gefühl von Urlaub. Umgeben von altehrwürdigem Charme, unzähligen Kastanienbäumen, die sich dem Fluss entlang aneinanderreihten, und mit der Schiffsanlegestelle in unmittelbarer Nähe, erkannte man in ihr außerdem ein verirrtes Flüchtlingskind, das auf der Suche nach seinen Wurzeln war. Eine Metapher, die in gewisser Weise zu seinem und Sergios Leben passte.

    Brambilla zuckte zusammen. Abrupt blieb er stehen, um den Zusammenstoß mit einem Radfahrer zu verhindern, der in halsbrecherischem Tempo in Richtung Stadtgarten unterwegs war. Kopfschüttelnd sah er ihm nach, passende Kraftausdrücke schluckte er herunter. Wenn er sich nicht beherrschte, lief er Gefahr, sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Darauf konnte er verzichten.

    Vorsichtig setzte er sich wieder in Bewegung, direkt auf die Schenke seines Kumpels zu.

    Sergio Castelli, der Inhaber der Schurken-Taverne, und er waren Secondos, Söhne italienischer Migranten, die vor vielen Jahrzehnten als Gastarbeiter in die Schweiz kamen, um sich mit Ausdauer, unermüdlichem Fleiß und Demut ein neues, vor allem besseres Leben aufzubauen. Obwohl alle Einwanderer dasselbe Ziel verfolgten, erreichten es nicht alle. Doch ihre Eltern hatten es geschafft und so eine solide Basis für das Leben ihrer Kinder in diesem Land geschaffen.

    Wenn er sich recht erinnerte, war es ihnen immer gut gegangen. Trotzdem legten die Eltern keinen Wert auf den Schweizer Pass. Sie lebten hier, genossen Arbeit und Wohlstand, behielten aber die italienische Staatsbürgerschaft, blieben tief in ihrer Heimat verwurzelt und zelebrierten – weit entfernt von ihrer geliebten Insel – die sizilianischen Traditionen, so gut es ging. Dazu gehörte auch, dass sie an ihrer Muttersprache festhielten.

    Sergio und Brambilla waren gleich alt. Gemeinsam hatten sie die Schulbank gedrückt, mit der deutschen Sprache gekämpft, auf Italienisch geflucht, das Lehrpersonal in den Wahnsinn getrieben, sich auf dem Schulhof geprügelt, die Pausenbrote getauscht. Über die Jahre waren sie unzertrennliche Freunde geworden und geblieben, selbst als die Berufswahl ihre Wege trennte. Sergio ging ins Gastgewerbe, schloss eine Lehre zum Koch ab, arbeitete im Service und verwirklichte sich vor Jahren den Traum einer eigenen Taverne. Brambilla ging zur Polizei und jagte das Verbrechen. In all den Jahren hatten sie sich nie aus den Augen verloren und es gab kaum etwas, was sie sich nicht erzählten, wenn auch meistens ohne viele Worte.

    Sergio war für ihn wie der Bruder, den er nie hatte. Auf dem Papier und in ihren Herzen waren sie beide Schweizer. Dennoch wollten und konnten sie auf ein wenig Italianità nicht verzichten. Das eine schloss das andere schließlich nicht aus. Als Italiener liebten sie la Dolce Vita, die Frauen und den Wein, die Gemütlichkeit und das Abenteuer des Schönen. Als Schweizer waren sie kompromisslos, bestanden auf Privatsphäre, eiferten dem Pflichtbewusstsein nach und beharrten auf Status und Prestige.

    Nein. Sie waren keine Flüchtlingskinder. Sie hatten ihre Wurzeln längst gefunden und wussten, wo sie hingehörten. Nichtsdestotrotz erlebten sie Situationen, in denen sie sich in diesem Land nicht willkommen, gar deplatziert fühlten. Doch die Zeit lehrte sie, damit umzugehen.

    Mit gemütlichen Schritten näherte sich Brambilla seinem Ziel und staunte einmal mehr über Sergios Mut. Auffälliger hätte er die Schenke mit der rustikalen Steinfassade, einem Dach aus mediterranen Mönchziegeln sowie Fensterrahmen und Türen in kräftigem Blau nicht realisieren können. Kein Wunder, dass er zum Gerede der Stadtbewohner geworden war.

    Er nahm die einzelne Stufe zur Holzterrasse, schritt auf den Eingang zu, blieb stehen und musterte das kleine weiße Keramikschild, auf dem in blauer Schrift geschrieben stand:

    Vergiss den Alltag.

    Trink Wein.

    Besser hätte er es nicht zum Ausdruck bringen können. Neben dem verschnörkelten Schriftzug waren in kindlicher Malerei ein Glas Rotwein sowie Trauben abgebildet. Angeblich war die Platte das Geschenk eines zufriedenen Gastes gewesen und Sergio meinte, er habe es lediglich aus Respekt aufgehängt. Brambilla hingegen vermutete, dass sein Freund sie auf einem seiner Streifzüge durch den Trödelmarkt überteuert erworben hatte und sich nun dafür schämte. Letztlich spielte es keine Rolle, wie Sergio zu dem Schild kam. Es hing dort – e basta!

    Die Tür zum Gastraum stand offen und gab den Blick auf einen schier endlosen, düsteren Gang frei. Vertrauter Mief begrüßte ihn, der fraglos zu einer Schurken-Taverne passte und zugleich den Geruch Siziliens nach Stein am Rhein brachte.

    Er trat ein.

    Beim Umbau hatte Sergio zur Terrasse hin eine raumhohe verspiegelte Fensterfront eingelassen. Sie war nicht nur die einzige natürliche Lichtquelle in dem Raum, sie ließ ihn auch optisch größer wirken.

    Auf der Suche nach dem Freund schweifte sein Blick durch die Gaststube. Die schlichten braunen, weißen und blauen Holztische mit den dazu passenden Stühlen, der Natursteinboden und die typischen farbenfrohen Bilder an der Wand versetzten ihn in die Heimat seiner Familie.

    Erleichtert stellte er fest, dass außer ihm keine weiteren Gäste da waren. Hinter ihm lagen aufreibende Stunden, in denen er tiefem Schmerz und vielen Fragen begegnet war. Seine Gedanken überschlugen sich, für die kommenden Tage rechnete er mit jeder Menge Arbeit. Alles, was er jetzt brauchte, war eine Pause, Ruhe und ein Glas Wein.

    Er lief durch das Lokal, als gehörte die Taverne ihm, und setzte sich an den hintersten Tisch, der ausschließlich für ihn reserviert war und auf dem stets sein schwarzes Ledertäschchen griffbereit lag.

    Sergio war immer noch nicht aufgetaucht, doch er musste in der Nähe sein. Niemals würde er die Taverne sich selbst überlassen.

    «Bring mir einen Mystiker», rief er, den Blick starr geradeaus gerichtet. Seine Finger nestelten an dem Druckknopf des Etuis.

    «Salute.» Wie aus dem Nichts stand Sergio neben ihm, tischte ein gut gefülltes Weinglas auf und setzte sich zu ihm. «Die zweite Flasche ist bald leer. Du weißt, wie rar der ist. Ich krieg den im Moment nicht mehr. Such dir das nächste Mal einen anderen aus», brummte er.

    Brambilla nickte, bevor er fragte: «Cuvée oder Merlot?»

    Einen letzten Versuch war es wert. Er hielt den Kelch dicht unter seine Nase und roch den komplexen Körper. Anschließend löste er mit sanften Schwenkbewegungen kreisende Wellen aus. Damit erlaubte er dem Sauerstoff, den Wein zu liebkosen und ihn dabei zu unterstützen, die besonderen Aromen zu entfalten. Gleich darauf steckte er die Nase noch einmal in das Bouquet, dieses Mal tiefer, legte das Glas an die Lippen und nahm einen großzügigen Schluck.

    «Cabernet Sauvignon, St. Laurent, Blaufränkisch», beantwortete er sich die Frage selbst.

    «Zweigelt», murrte Sergio.

    «Was macht dich da so sicher?»

    «Zweigelt», wiederholte sein Kumpel.

    «Was macht dich da so sicher?»

    «Die Farbe.»

    «Die Farbe?» Ungläubig streckte Brambilla das Glas in die Höhe und begutachtete die dunkelrubinrote Flüssigkeit. In der schummrigen Beleuchtung war es kaum möglich, ihre Reflexe zu erkennen.

    «Samtig?» Sergio beobachtete ihn siegessicher.

    Brambilla kostete noch einmal und nickte.

    «Sauerkirsche?»

    «Ja.»

    «Pfeffer?»

    «Vielleicht.» Wieder steckte er seine Nase ins Glas.

    «Cassis?»

    Vehement schüttelte Brambilla den Kopf. «Auf gar keinen Fall. Aber woher hat er diese liebliche Eleganz?»

    Sergio zuckte mit den Schultern. «Dunkles Rotviolett», lenkte er ab.

    «Der ist nicht rotviolett.» Wieder hielt er das Glas in die Luft. «Schau selbst. Dunkles Rubinrot.»

    «Die Reflexe.»

    Brambilla hielt den Wein noch tiefer in den Lichtstrahl. «Aber nur mit sehr viel Fantasie», stellte er fest.

    «Ich sage dir, das ist ein Zweigelt.»

    «Und ich sage dir, das ist eine Cuvée. Der ist viel zu verspielt für einen Zweigelt.»

    Sergio stand auf und verzog sich hinter den Tresen. Brambilla wusste, dass das Thema für ihn erledigt war. An ihm aber nagte die Neugier. Er war es gewohnt, die Dinge zu ergründen. Nur schwer konnte er es auf sich beruhen lassen, dass der Produzent ein Geheimnis daraus machte, aus welchen Trauben dieser charakterstarke Wein geboren wurde. Trotzdem gab er es auf. Die Vernunft musste siegen. Es gab Wichtigeres, als sich über Rebsorten zu streiten. Der Wein musste den Gaumen verführen, alles andere war zweitrangig.

    Er klaubte die Pfeife, den Tabak, den Stopfer und die Streichhölzer aus dem Täschchen, breitete alles vor sich aus und legte die Hülle beiseite. Andächtig hob er die geschwungene Pfeife hoch, deren leicht ovale Kopfform nach oben hin schmaler verlief und an ein aufgeschlagenes Frühstücksei erinnerte. Das gute Stück lag ausgewogen in der Hand, das seidig glänzende, sandgestrahlte, schwarze Holz fühlte sich vertraut an. Liebevoll, fast zärtlich lockerte er den Tabak, gab einen Teil von ihm in die Rauchkammer, darauf eine zweite Lage, die er anschließend mit dem Zeigefinger festdrückte. Er legte die Pfeife auf den Tisch, nahm das Streichholzbriefchen und entfachte eine kleine Flamme, bevor er sich das Mundstück zwischen die Lippen klemmte, mit kreisenden Bewegungen über den Tabak fuhr und in ruhiger Gleichmäßigkeit daran zog.

    «Warst du noch einmal bei ihm?»

    «Bei wem?» Benommen sah er zu Sergio hinüber.

    «Dem Alten.»

    Brambilla schüttelte den Kopf. «Noch nicht.» Er zog an seiner Pfeife.

    «Interessiert es dich denn gar nicht, was er zu sagen hat?»

    «Doch, aber der läuft mir ja nicht davon.» Er nahm einen Schluck Wein.

    Im Nu stand Sergio wieder an seiner Seite. Behäbig stützte er sich auf der Tischplatte ab und musterte ihn neugierig. Brambilla schwieg, zog ab und zu an der Pfeife, nahm einen Schluck Wein.

    Sergio setzte sich. Er rieb sich das Kinn.

    «Was machen die Weiber?», wechselte er das Thema.

    Brambilla hatte keine Lust, darüber zu reden. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und gab sich den dynamischen Aromen des mit Bourbon-Whiskey angereicherten Tabaks hin.

    «Was machen deine Autos?»

    «Der Alfa hat letzte Woche den Geist aufgegeben.»

    «Der feuerrote?»

    «Ich hatte nur einen.»

    Sergios Augen blitzten. «Dass du darin Platz hattest, wundert mich schon.»

    «Was soll das heißen?»

    «Nichts. Nur dass das Auto möglicherweise etwas zu klein für dich war.»

    «Ach, hör doch auf! Du bist doch nur neidisch.» Brambilla schüttete sich den Rotwein in den Rachen.

    «Hey! Der ist teuer», knurrte Sergio.

    «Das sind meine Schätzchen auch.»

    «Da sagst du was. Wie kannst du dir das mit deinem Gehalt überhaupt leisten?»

    «Hatten wir das nicht schon?»

    Sergio zuckte mit den Schultern.

    «Mach dir darüber mal keine Gedanken», brummte Brambilla. «Es gibt Menschen», er zeigte auf seinen Kumpel, «die finanzieren ihre Ex-Frauen. Und es gibt andere», dabei tippte er sich auf seine Brust, «die leisten sich Tabak, Wein und Autos. Genuss mit Stil eben.»

    Zwei Männer betraten die Schenke und ließen sich an einem der vorderen Tische nieder. Brambilla steckte sich wieder die Pfeife in den Mund, langte in die Innentasche seines Sakkos und holte ein paar Geldscheine hervor, die mit einer schnörkellosen, silbernen Klammer zusammengehalten wurden. Er verlangte die Rechnung.

    «Du bist doch eben erst gekommen», wunderte sich Sergio.

    «Na und? Jetzt habe ich das Bedürfnis, wieder zu gehen.» Er griff nach dem Stopfer, rührte mit dessen Dorn den Inhalt der Pfeife auf und kippte sie über dem goldenen Aschenbecher aus, indem er sie leicht über die Kante seiner Hand klopfte. Anschließend legte er sie mit dem Ledertäschchen zur Seite.

    Sergio hievte sich hoch, schlurfte hinter den Tresen und kam gleich darauf mit dem Portemonnaie unter dem rechten Arm zurück. Brambilla bezahlte, stand auf und ließ das Wechselgeld in die Hosentasche gleiten.

    «Gehst du zu ihm?»

    «Mal sehen.»

    «Gibt es noch mehr auf deiner Liste?»

    «Möglich.»

    «Hast du keinen Plan, verdammt?»

    «Doch.»

    «Wieso kannst du mir dann nicht sagen, ob du nachher mit dem Alten sprichst?»

    «Was nutzt es dir? Sage ich Ja, entscheide ich mich auf dem Weg zu ihm vielleicht spontan um. Oder mir kommt plötzlich die reizvolle Idee, mich lieber mit einer jungen hübschen Frau zu unterhalten. Vielleicht habe ich aber auch die Schnauze dermaßen gestrichen voll, dass ich mich zu Hause aufs Sofa werfe. Wahrscheinlicher aber ist, dass eine unerwartete Wahrnehmung meinen Weg kreuzt, der ich unbedingt nachgehen muss. Willst du dir wirklich vorstellen, wie ich mit dem Alten rede, wenn in Wahrheit alles ganz anders ist?»

    «Du und deine Intuition»,

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