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Erzählweisen des Körpers: Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit
Erzählweisen des Körpers: Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit
Erzählweisen des Körpers: Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit
eBook562 Seiten6 Stunden

Erzählweisen des Körpers: Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit

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Über dieses E-Book

Although the original edition of this volume appeared over 14 years ago, it has lost none of its usefulness and topicality. In the theory section it describes the most important humanistic, social and ethical tenets used in counselling, supervision and therapy to ensure a holistic view of the client: "Creative and cultural therapy not only strive [...] to obtain or maintain mental health, they also endeavour to secure and cultivate human relationships and the development of respect for all living beings and objects on earth."The basics of classical and integrative, creative gestalt therapy have been expanded to include cultural educative methods and expressive media. This textbook also contains a number of practical exercises that can be applied in various contexts depending on the job experience of the client. The theory section is coherently and clearly written without ignoring the deep intellectual background. The practical section, on the other hand, emphasises the usability and effectiveness of the exercises presented. In this volume, the original intention of gestalt therapy, namely, to empower people involved in a therapeutic process to become self-reliant, independent, and responsible persons, is combined with modern scientific results. It is a basic textbook, a coursebook and a handbook on the role of gestalt therapy in our knowledge, our behaviour and our feelings.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Okt. 2011
ISBN9783647995250
Erzählweisen des Körpers: Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit

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    Buchvorschau

    Erzählweisen des Körpers - Kurt F. Richter

    I.

    Das Konzept Kreativer Gestaltarbeit

    Lebensbewältigung: Auf dem Wege zu einer Kreativitäts- und Kulturtherapie

    Der Mensch scheint heute mehr denn je an sich und seinen Artgenossen zu leiden. Dies zumindest suggeriert ein enorm expandierender Lebenshilfe-Markt. Er reicht von Ratgeberbüchern, Audio- und Videokassetten bzw. DVDs, Computerprogrammen bis zu Fernsehsendungen für alle Lebensprobleme. Flankiert wird dieser Markt von einer unübersehbaren Therapie- und Beratungskultur. Es zeichnet sich hier eine gewaltige Kompensationsbewegung ab, die die Schwäche der Institutionen ausgleicht, die traditionell Lebenshilfe und Orientierung boten, diese Aufgabe aber schon lange nicht mehr ausreichend bewältigen können (z. B. Kirche, Schule, Familie). Es lohnt sich deshalb, einen kurzen Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Lebens zu werfen: Welche Formen der Unterstützung und Hilfe braucht der »postmoderne Individualist« und Konsument? Wie kann eine Beziehungskultur aussehen, in der Gegenseitigkeit und nicht Entfremdung und Gewalt herrschen? Wie kann Komplexität so reduziert werden, dass wieder Lebenssinn und Orientierung sichtbar werden?

    Im Zusammenhang mit der weltweit zu beobachtenden Modernisierungsgeschwindigkeit kommt es auf vielen Gebieten menschlichen Lebens zu krisenhaften Entwicklungen. Krisenverdichtungen zeigen sich unter anderem in dem Verfall der Urbanität (Unregierbarkeit der Großstädte, Kriminalität usw.), in der eruptiven Entwicklung des multikulturellen Zusammenlebens (Fremdenhass usw.), der Globalisierung der Wirtschaft, der Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut und der Auflösung von Eindeutigkeit der Wirklichkeit durch die rasante Entwicklung der Medien. Als Damoklesschwert schwebt über der Welt die Selbstzerstörung (Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion, atomare Katastrophen, Ozonloch usw.). Diese Selbstbedrohung ist nach der Beendigung des Kalten Krieges nicht weniger, nur unübersichtlicher geworden.

    Wird die Geschwindigkeit der Wandlungsprozesse permanent beschleunigt, so gerät die Veränderung irgendwann in ein kritisches Stadium. Dann zerbrechen Strukturen und Gewissheiten schneller, als neue nachwachsen können. Im Erleben vieler Menschen bewirkt dies Gefühle der Bedrohtheit, Angst, Ungeborgenheitsgefühle und Ratlosigkeit. Die zunehmende Gewaltbereitschaft und Rechtsradikalität sind mögliche Indizien für eine Beschleunigungskrise.

    Zunächst einmal scheinen die meisten Menschen, zumindest in Mitteleuropa, nicht besonders unter diesem düsteren Szenarium zu leiden. Es geht ihnen so gut wie in keiner Epoche zuvor. Das Elend erscheint nur medial vermittelt, die Betroffenheit bleibt dabei abstrakt.

    Noch nie hatte der Mensch so viele Entscheidungsfreiheiten. Spätestens seit den 1960er Jahren kam es zu einer zunehmenden Befreiung der Menschen von äußerer Bevormundung durch Institutionen und Traditionen sowie zunehmender Unabhängigkeit von Herkunftsdeterminanten. Damit schien für die Menschen die Chance erheblich gestiegen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und autonom zu gestalten. Aber dieser Individualisierungsschub hatte seinen Preis. Er diente nicht nur der Befreiung des Menschen zur Mündigkeit und Autonomie. Die Befreiung von traditionellen Festlegungen, Bindungen und eigenwilliger Innensteuerung (D. Riesman, 1961) macht ihn flexibel und mobil. Der gesellschaftliche Nutzen dieser Befreiungsbewegung besteht darin, dass sie die Individuen in die Lage versetzt, sich auf die immer schneller wechselnden Anpassungsansprüche aus einer sich ständig ändernden Umwelt und Arbeitswelt einstellen zu können. Die Reichweite der Lebensperspektive verkürzt sich dadurch beträchtlich, das Lebensgefühl zentriert sich immer mehr auf das Jetzt. Wer weiß schon, was morgen ist: Arbeitsplatz- und Ortswechsel werden in immer kürzeren Frequenzen notwendig. Berufswechsel, Umschulungen, Fortbildungen etc. werden Bestandteil der Lebenspraxis. Beziehungen halten keine Ewigkeit mehr. Auch die Sprache passt sich diesem Trend an. So signalisiert die Bezeichnung »Lebensabschnittspartner« die Sollbruchstelle einer Beziehung.

    Jede Entscheidung ist eine Reduzierung von Möglichkeiten. Angesichts eines übergroßen Angebotes wird die Wahl zur Qual. Ein Ausweg bietet die Pseudoentscheidung, der keine tiefere Verbindlichkeit zukommt. Andererseits ist auch die Wahl zwischen den Alternativen in unserer Gesellschaft oft nur Schein. Ihnen muss durch Werbekampagnen künstlich Bedeutung angedichtet werden (z.B. zwischen verschiedenen Waschmitteln, den einschlägigen Mittelklassewagen der großen Hersteller usw.).

    Autonomie heißt ja auch, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Hinsichtlich der Verantwortungsverteilung sind die Karten in unserer Gesellschaft aber gezinkt. So müssen die Einzelnen die Verantwortung und die Konsequenzen für Risiken mittragen, die von einer unverantwortlichen Wirtschaft und Politik »vergesellschaftet« wurden, zum Beispiel Umweltschäden, Luftverschmutzung, Unwirtlichkeit der Städte, atomare Risiken.

    In unserer Gesellschaft werden zwei, einander widersprechende, Anforderungen an das Subjekt gestellt: erstens die Entwicklung eigener Individualität und Autonomie und zweitens die Erwartung einer hohen Anpassungsbereitschaft und Flexibilität. Der eine Trend setzt eher Ich-Stärke voraus, der andere Ich-Schwäche. Die kreative Lösung in der Sozialisation scheint darauf hinauszulaufen, dass der Mensch keine reifen Ich-Strukturen mehr entwickelt, sondern in einer mehr oder weniger permanenten Adoleszenz verweilt. Da dieser »Sozialisationstyp« zwar Flexibilität garantiert, aber zugleich ein hohes Maß an Unzuverlässigkeit und Egozentrik aufweist, verursacht er gesellschaftlich unerwünschte Nebenwirkungen und Nebenkosten: Er eignet sich nicht mehr zur Bewältigung massiver Konflikte und zum Durchstehen von Krisen. Seine Beziehungsfähigkeit und damit soziale Verantwortung sind nicht besonders ausgeprägt. Dies verführt Sozialwissenschaftler, Industrielle und Politiker immer stärker zu Spekulationen über neue »soziale Bindemittel« (z. B. die Diskussion über Heimat, Gemeinschaft, Nationalität etc.). Werte, Normen, Sinnzusammenhänge werden eher strategisch gelebt, ohne dass ihr verpflichtender Charakter noch anerkannt wird. Dieser Trend ist aber nicht nur bei Privatpersonen, sondern ebenso auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens, der Industrie und Politik (z.B. die Zunahme der Bestechungsaffären) zu beobachten. Diese »Nebenwirkungen« gefährden vermutlich unsere Demokratie. Sie sind jedoch zugleich gelebter Widerspruch in unserer Gesellschaft.

    Als Psychologe bin ich natürlich besonders an dem individuellen Ausdruck, der seelischen Verfassung der Menschen interessiert, die im heutigen Sozialisationsklima groß geworden sind. Eines der Grundwachstumsmittel der Seele sind die intensiven Beziehungen, in die ein Mensch hineingeboren wird, in denen er lebt und die er mitgestaltet. In der modernen Beziehungssozialisation treten immer häufiger Faktoren auf, die eine Mangelentwicklung der Persönlichkeit bewirken. Hierzu zwei Beispiele: Die unmittelbare Beziehung wird immer häufiger unterbrochen bzw. ersetzt durch eine mediale. Internet, TV, Computerspiele liefern soziale Kontakte aus zweiter Hand (der »TV-Babysitter«).

    Eltern nehmen sich immer weniger Zeit für ihre Kinder. Sie sind zu sehr mit der Lösung eigener Probleme beschäftigt (Beziehung, Berufsplanung etc.). Aber auch wenn die Eltern Zeit haben, gelingt es ihnen oft nur schwer, sich wirklich auf ihre Kinder innerlich einzulassen.

    Eltern merken oft gar nicht, wie sehr sie ihre Kinder allein lassen. So entsteht unter der Decke einer offensichtlich normalen Beziehung eine Art Verlassenheitssyndrom. Es reifen Personen heran, die unter Umständen äußerlich zeitweise sehr gut funktionieren, aber von tief sitzenden Gefühlen der Leere und Sinnlosigkeit geplagt werden. Je nach der sozialen Biografie und der körperlichen und seelischen Vitalität wird das unzureichend genährte Selbst diesen Mangel durch Depressionen, Gewaltimpulse, Sucht, Karrierestreben oder hemmungslosen Konsum zu kompensieren suchen.

    Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass der Rückgang der Beziehungsfähigkeit und Gefühlskultivierung die Negativseite einer ansonsten gewollten Anpassung des Menschen an marktförmige Verkehrsformen darstellt.

    In unserer Kultur wird vom Einzelnen ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbststeuerung erwartet. Traditionelle Steuerungsmechanismen wie Außensteuerung durch Normen, Werte, Traditionen, Sanktionsangst oder Innensteuerung durch Verinnerlichung moralischer Richtlinien greifen immer weniger. Sie können den individualisierten Steuerungsbedarf auch nicht leisten. Dazu haben sich die Lebensbedingungen zu stark verändert: Der Mensch kann sich in seinen Gefühlsäußerungen nicht mehr Konventionen anvertrauen. Er muss für seine wahren Empfindungen eigene Ausdrucksformen finden. Bei der Gestaltung ihrer Beziehungen und ihres Zusammenlebens können Menschen nicht mehr einfach auf Vorbilder und bekannte Modelle zurückgreifen. Zusammenleben wird zu einem experimentellen Vorgang mit ungewissem Ausgang. Erleben und Handeln werden nicht mehr durch übergreifende, langfristige Motive und Sinnzusammenhänge interpretiert und strukturiert. Der Einzelne muss unablässig herausfinden, was zu ihm passt und was seinen subjektiven Vorlieben entspricht.

    Auf einen derartig angestiegenen Bedarf an Selbstmanagement sind die wenigsten Menschen vorbereitet. Auch hier zeigt sich die kulturelle Widersprüchlichkeit. Die notwendigen Voraussetzungen für eine autonome Lebensgestaltung werden immer undeutlicher. Das Ich bedarf der Orientierung, der Motivierung (Energetisierung), der Ziele und Sinnstrukturen. So scheint aber Sinn in unserer Gesellschaft »Mangelware« zu sein. Immer mehr Ethikkommissionen werden ins Leben gerufen, je ungewisser wird, was denn die Richtlinien für ein richtiges Leben sein könnten.

    Sinn wird gesellschaftlich angeboten, individuell angeeignet und gelebt. Sinn erscheint bei der Wertung oder Bedeutung, die ich einer Sache oder einem Ereignis gebe. Sinn entsteht also als intersubjektiv geteilte, individuell gelebte Lebensbedeutung. Er hat eine wesentliche Orientierungs- und Steuerungsfunktion für unser Leben. Sinn in seiner ursprünglichen Form geht durch die Sinne. Sinnlosigkeitsgefühle trüben und blockieren die Sinne. Die Aussicht wird im wahrsten Sinne des Wortes trübe. Und auch die Umkehrung gilt: Dort wo die Aussicht verstellt wird, entstehen Sinnlosigkeitsgefühle. »Sinn oder Bedeutung schaffen, heißt Ordnung in die Inhalte des Bewusstseins bringen« (M. Csikszentmihalyi, 1992, S. 283). Dies gibt dem menschlichen Streben eine Richtung. Sinn schafft also Zusammenhänge und ordnet ihnen Bedeutung zu. So lassen sich die einzelnen Lebensereignisse in der Gesamtheit einer Lebensspanne begreifen. Auch der »vertikale Sinn« verliert immer mehr an Kraft, das heißt die Fähigkeit, das eigene Leben und Weltengeschehen im Kontext einer transpersonalen Kraft (z.B. einer Religion) wahrzunehmen und ihm Bedeutung zu geben. Es scheint, dass die Erfassung von Sinn an der Begrenztheit unseres Vermögens scheitert, in der Komplexität, die in unserer Welt herrscht, verbindliche Zusammenhänge erkennen und integrieren zu können. Unsere Sinnerfassungskapazität (H. Petzold, 1990) und unsere Integrationsfähigkeit halten mit der Geschwindigkeit nicht mit, verweigern sich der neuen Unübersichtlichkeit. Ein Ausdruck dieses Dilemmas ist die Postmoderne, in der sich alles kombinieren lässt, ohne eine Legitimation dafür liefern zu müssen.

    Integration bezeichnet eine Tätigkeit, Zusammenhänge unter einem übergeordneten Gesichtspunkt herzustellen, Einzelelemente in ein Ganzes einzubeziehen. So ist die Assimilation von Nahrung (sie wird in körpereigene Stoffe umgewandelt) genauso eine Integration wie die Einbeziehung bestimmter Hypothesen in ein Theoriegebäude. In der Terminologie der Gestaltpsychologie können wir davon sprechen, dass sich aus der Komplexität, die in ihrer Menge an Einzelelementen und Verbindungen unübersichtlich ist, eine Form, eine Figur herausbildet, gegenüber dieser Form treten alle Einzelelemente in den Hintergrund. Diese Gestalt hat eine Kontur bzw. Grenze und eine Binnenstruktur. Ohne solche Grenzen wäre die Form nicht sichtbar und könnte nicht wahrgenommen werden. Eine Begrenzung grenzt aber auch aus.

    Meine Hypothese dazu ist, dass in einer Welt zunehmender Komplexität die Menschen an die Grenzen ihrer Integrationskraft stoßen. Dort, wo die Integration misslingt, passiert Entgrenzung. Dazu einige Beispiele.

    Entgrenzung auf der körperlichen Ebene

    Die Zahl der essgestörten Menschen nimmt drastisch zu. Das Sättigungsgefühl wird nicht mehr deutlich wahrgenommen. Dies führt zu einem grenzenlosen Essen. Es gibt die fatale Kombination von Frust, Bewegungsarmut und Fastfood. – Grenzenlose Leistungssteigerung, zum Beispiel im Sport durch Doping und Muskelaufbaupräparate. – Die Sucht nach Extrem- und Ausnahmesituationen. Nur in extremen Stresssituationen kann man sich spüren. Dazu gibt es bereits ein reichhaltiges Freizeitangebot. – Die Manipulation des Körperäußeren durch Schönheitschirurgie, Gymnastik, Diäten etc.

    Entgrenzung der kognitiven Funktionen durch Informationsüberflutung

    Die tägliche Informationsflut ist nicht mehr zu bewältigen. Eine bewährte Bewältigungsmöglichkeit ist die Gleich-Gültigkeit. Die Informationen werden nicht mehr verarbeitet. Sie bleiben an der Oberfläche und damit wirkungslos.

    Entgrenzung der geistigen Zusammenhänge

    Dies zeigt sich zum Beispiel in vielen New-Age- und anderen esoterischen Anschauungen. So werden Elemente verschiedenster Religionen und Heilslehren quer durch die Geschichte miteinander zu einer neuen Heilslehre gemischt. Entgrenzung entsteht durch die Beliebigkeit der Kombinationen und der Missachtung der ursprünglichen Zusammenhänge.

    Entgrenzung der menschlichen Möglichkeiten im Fortschrittsglauben

    Entgrenzung der ökonomischen Märkte und Industrieunternehmen

    Entgrenzung der geopolitischen Landschaften und als Folge Völkerwanderungen

    Entgrenzung der Zerstörungsmöglichkeiten

    Spätestens seit Tschernobyl ist bekannt, dass Umweltkatastrophen sich nicht mehr lokal eingrenzen lassen. Es gibt auf dieser Erde keinen Ort, der vor direkter menschlicher Bedrohung (ABC-Waffen) oder ökologischen Katastrophen schützt.

    Entgrenzung bewirkt aber auch heftige Gegenbewegungen, die Einengungen. Um überhaupt noch eigene Grenzen spüren zu können, werden Körper, Seele, Lebenswelt und sozialer Raum extrem eingeengt. Die neuen »Stammesfehden«, der Patriotismus auf engstem Raum, haben darin ihre Ursache. Und Engung ist aufgrund der Spannung, die sie bewirkt, besonders gefährlich. Die Enge explodiert leicht, entlädt sich in blutigen Auseinandersetzungen. Auch Religionen und Weltanschauungen können durch solche einengenden Abgrenzungsversuche, wie dies zum Beispiel im Fundamentalismus geschieht, gefährlich und aggressiv werden. Die Engung als Selbstheilungsmittel gegen Entgrenzung ist fatal. Aber auch andere Formen der Bewältigung von Komplexität sind selbst- und fremdgefährdend, zum Beispiel willkürliche Vereinfachung, Abspaltung, Ausblendung.

    Sowohl die Entgrenzung als auch die Engung führen zur Selbstentfremdung, zur Abkoppelung der sinnlichen, motorischen und geistigen Beziehungen zu sich und der sozialen, lebendigen und materiellen Umwelt. Der konservative Rückgriff auf alte Bewältigungsformen hilft da wenig. Wir müssen Formen finden, auch in einer beschleunigten Welt unser Tempo zu finden, so dass wir uns nicht verlieren.

    Noch einmal zurück zu den Grenzen. Sie grenzen nicht nur aus und halten nach innen zusammen, Grenzen sind auch die Kontaktflächen. Hier geschieht der Austausch zwischen Innenwelt und Außenraum. Berühre ich zum Beispiel die Haut eines Menschen (physische Kontaktgrenze), so spüre ich nicht nur deren Beschaffenheit, sondern auch die Wärme seines Körpers. Unklare Grenzen führen im geopolitischen Bereich zu Konflikten, im seelischen zu Konfluenzphänomenen (Überlagerung und Vermischung zweier Identitäten). In unserer Kultur erwarten wir, dass Paarbeziehungen aus Liebe eingegangen werden. Jede neue Beziehung liefert für ein paar Wochen, Monate, Jahre den emotionalen Kick einer »grenzenlosen Liebe« (also einer konfluenten bzw. symbiotischen Beziehung). Eine solche Grenzöffnung gefährdet jedoch die Ich-Stabilität und führt über kurz oder lang zu einer Grenzverschließung. Diese Grenzbewegungen werden in der Regel von sehr vielen Streitereien und Enttäuschungen begleitet. Beziehungen überstehen auf Dauer den Alltag offensichtlich nur durch intensive »Kontaktpflege«, das heißt Berührung und Austausch bei gleichzeitiger gegenseitiger Respektierung der Integrität der Grenzen des Anderen. Beziehungsgestaltung ist permanente Arbeit an den gemeinsamen Kontaktgrenzen. Die Bereitschaft oder Fähigkeit zu einer solchen Beziehungsarbeit geht aber rapide zurück. Pathologische Grenzprobleme finden ihren Ausdruck in Aggressivität, Depressionen, Gefühlsdiffusität, Süchtigkeit, Rauschzuständen, medialer Dauerberieselung, die von der Last der Kontaktarbeit ablenken. Entgrenzung wird oft nicht negativ bewertet, sondern als Entlastung vom Alltag.

    Eine andere Form der Kontaktvermeidung liegt in der Verdinglichung. Was ich besitze, bleibt äußerlich, der Kontakt beschränkt sich auf Erwerb und Konsum. Identitäten, die auf dem Haben-Modus (E. Fromm, 1976) aufbauen, sind stets gefährdet. Der Imagewert meiner Kleidung, meines Autos, meines Lebens- und Verhaltensstils wird durch andere bestimmt. Sein Wert verfällt schnell. Die Dinge bestimmen sich nach ihrem Gebrauchswert. Alles Lebendige, Menschliche wird so verdinglicht. Die lebendige Natur, insoweit sie konsumierbar ist (Tiere, Pflanzen), wird zur Biomasse. An diesem Ausdruck wird vielleicht deutlich, wie den Dingen dieser Welt ihre Eigenständigkeit genommen wird. Sie verlieren damit eine kontaktfähige Grenze. Der Mensch kann keine Beziehung mehr zu ihnen aufnehmen. Das Haben-Verhältnis hat sich auch auf den eigenen Leib ausgedehnt. Ich habe einen Körper, den ich dem jeweiligen Schönheitsideal entsprechend modellieren kann, wenn nötig mit chirurgischen Eingriffen. Der Kontakt zu wichtigen Aspekten des Selbst reißt ab. Der Mensch wird immer mehr davon abhängig, dass ihm gesagt wird, was er zu fühlen, wie er sich zu verhalten hat und was er braucht, also kaufen soll.

    G. Schulze (1994) bezeichnet die »Botschaft« der Werbung so: »Du bist so, dass dir dieses neue Produkt gefällt. Werbung ist Erfindung von Seinsformen, die Abnehmern zusagen können, sofern sie selbst keine Idee davon haben, wer sie sein wollen.« Werbung wird so betrachtet zur Orientierungs- und Lebenshilfe. In seinem Buch »Die Erlebnisgesellschaft« (1992) untersucht G. Schulze den »Erlebnistrend« in unserer Gesellschaft als einen Maßstab für Lebensqualität. Man will schließlich seinen Spaß haben. Aber die wenigsten Menschen sind noch in der Lage, sich ihren Spaß selbst zu organisieren. So entwickelt sich eine Erlebnisindustrie, Erleben wird marktwirtschaftlich produziert. Damit bestimmt das jeweilige Angebot, die neueste Mode darüber, was Spaß macht. Um allerdings richtig erleben zu können, muss man auch zur richtigen Clique, Gruppe, Subkultur gehören. Die Wahl der »Erlebnisgemeinschaft« hängt dabei weniger vom Bedürfnis und individuellen Geschmack eines Menschen ab, sondern davon, welche er sich leisten kann. Die Zugehörigkeit zu einer Erlebnisgemeinschaft wird nicht selten durch Konsumspezialitäten, wie zum Beispiel Markenartikel, symbolisiert. Identität entsteht hier unter anderem aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer »Erlebniskonsumgenossenschaft« von begrenzter Dauer. So ist zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer Fußballgemeinde noch recht preiswert, dafür aber auch nicht sonderlich exklusiv.

    Die Befreiung von der Gängelung durch Traditionen und Institutionen führt immer deutlicher in die Abhängigkeit von Medien und den von ihnen angepriesenen Produktimages und Verhaltensmoden, wenn es nicht gelingt, die Autonomie auf ein stärkeres Selbst zu gründen. So ist die Werbung zum Beispiel der wahre Protagonist der Postmoderne. Ihr gelingt es, Produkte mit Erlebnisbedeutungen zu koppeln, für die man in der nüchternen Alltagsrealität keine Entsprechung findet. Ein weiteres, für die Zukunft immer bedeutsameres Gebiet ist die gemachte, virtuelle Realität. Das reicht von Nachrichtenmanipulation (der Golfkrieg: Wirklichkeit oder eine Show, bei der leider Opfer zu beklagen sind?) über Reality-Shows zur Erlebnisrealität des Cyberspace. Auch die Realität wird scheinbar immer manipulierbarer. Unsere westliche Kultur akzeptiert nur sehr ungern, dass wir die Substanz unserer inneren und äußeren Welt zerstören. Die Menschen sind zwar über die ökologischen Krisen und die enorme Bedrohtheit alles menschlichen Lebens bestens informiert. Die Abstraktheit der Informationen verbindet sich allerdings nicht mit einer persönlichen Betroffenheit, die zur Handlung motiviert.

    Wichtig erscheint es mir, dass ein ökologisches und soziales Bewusstsein entsteht, das sich nicht wieder spezialisiert auf Ozonbelastung, Energieverschwendung usw., sondern das sich auf die Integrität von allem Lebendigen bezieht. Ein Bewusstsein, das die Vernetzung und Interdependenz alles Seienden berücksichtigt. Daraus kann sich der Mensch nicht ungestraft, das heißt »ohne Nebenwirkungen« ausklinken. Nun dürfen solche Appelle nicht zur Rückwendung führen. Ganz davon abgesehen waren die »alten Zeiten« ja keineswegs wünschenswerter. Die Auseinandersetzung mit der vorfindbaren Welt und Gesellschaft ist jedoch schwierig. Zu sehr haben wir uns an die Konsumgesellschaft gewöhnt. Verzichtpredigten helfen auch nichts, um die Masse lieb gewonnener Gewohnheiten zu beseitigen. Notwendige gesellschaftliche Veränderungen sind nur auf demokratisch-politischem Wege herbeizuführen. Den psychotherapeutischen und beraterischen Verfahren kommt nur eine eingegrenzte Bedeutung bei der Bewältigung anstehender gesellschaftlicher Modernisierungsprobleme zu. Die Veränderungslast kann nicht ausschließlich den Einzelnen aufgebürdet werden. Sie liegt auch in der Verantwortung unserer politischen Gremien und industriellen Großinstitutionen.

    Als eine der hervorstechendsten Auswirkung unserer Lebenskultur tauchten in diesen Gedankengängen immer wieder die Stichworte »Selbstentfremdung« sowie »Kontakt-« und »Grenzverlust« auf. Sie verweisen auf das Schwinden der spontanen Lebendigkeit und Kreativität.

    Kreativitäts- und Kulturtherapie verfolgt deshalb nicht nur das Ziel, seelische Gesundheit zu erhalten bzw. zu erlangen. Sie bemüht sich auch um die Erhaltung und Kultivierung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Entwicklung von Respekt vor allem Lebendigen und den Dingen dieser Welt. Kurz gesagt, es geht ihr darum, dass Menschen (wieder) lernen, in einen lebendigen Kontakt und Austausch mit ihrer naturwüchsigen, sozialen, geistigen und materiellen Umwelt zu treten. Wie kann dies unter den Bedingungen einer rasanten Fortschrittsbeschleunigung geschehen, die Lebensbedingungen schafft, die oberflächliche Anpassung erzwingen und fundierte Wandlung behindern?

    Viele Individuen können die Probleme, die sich einer Veränderung entgegenstellen, nicht aus eigener Kraft bewältigen. Im Makrobereich der Gesellschaft und zunehmend der Weltgesellschaft sind die Politik und ihre Institutionen gefragt. Wer sonst wäre dafür zuständig? Allerdings erwachsen ihnen in den letzten Jahren Konkurrenz multinationaler Gesellschaften von Gleichgesinnten, die Aufgaben der Kontrolle und Korrektur auf Weltniveau alternativ zu multinationalen politischen, militärischen und ökonomischen Vereinigungen übernehmen, wie zum Beispiel Amnesty International und Greenpeace. Ihr größter multinationaler Gegenspieler ist die weltweit operierende Industrie. Im sozialen Makrobereich werden Politikverdrossenheit und fehlendes Vertrauen in die politischen Institutionen zur Gefahr für unsere Demokratie. Bürgerinitiativen versuchen, eine Korrektur und Ergänzung zur institutionell verankerten Problemverwaltung zu schaffen. Es gibt eine Reihe von Modellen, die eine Reaktivierung des politischen Subjekts an der gesellschaftlichen Basis anstreben. Interessant sind zum Beispiel die Vorstellungen des Kommunitarismus, der Eigenverantwortung und soziales Engagement steigern will (z. B. A. Etzioni, 1994).

    Im sozialen Mikrobereich geht es darum, die Veränderungspotenziale von Einzelnen und ihren Gruppierungen zu aktivieren und Wandlung zu ermöglichen. Es zeigt sich allerdings, dass die analytischen und sprachfixierten Verfahren zunehmend überfordert werden von der Komplexität seelischer, sozialer und kultureller Störungen. Deshalb versuchen integrale Verfahren der Kreativitäts- und Kulturtherapie, auf das gesamte System persönlicher, sozialer, ökologischer und kultureller Lebenszusammenhänge einzuwirken. Die Komplexität der inneren und äußeren Lebensverhältnisse lässt sich nur zu einem kleinen Teil direkt in Sprache fassen und formulieren. Die subsprachliche Wirklichkeit präsentiert sich durch die verschiedensten Möglichkeiten der Symbolisierung. Ich nenne dies den analogen Raum. Hier treffen verschiedene Wirklichkeitsebenen (Systeme) zusammen. Botschaften werden zwischen den unterschiedlichen Informationssystemen ausgetauscht, dadurch energetische Besetzungen transferiert und in Bewegung (Arbeit) umgesetzt. So treffen im analogen (Innen-)Raum körperliche Vorgänge und seelische Prozesse (z. B. in Form von unterbewussten Imaginationen) zusammen. Dabei können zum Beispiel Belastungssituationen als körperliche Stresssymptome (Körpersymbolik) erlebt werden, lang anhaltende Beziehungsschwierigkeiten verschwinden hinter psychosomatischen Störungen, soziale Armut mutiert in Fremdenhass usw.

    Die Dynamik im analogen Raum ist oft nicht durch rationale Denkbewegungen unmittelbar zu begreifen. Das Verstehen bedarf einer Übersetzungsarbeit. Analoge Botschaften werden auf verschiedenen Präsentationsebenen sichtbar, hörbar, spürbar, intuitiv begreifbar. Ein Beispiel: Ich höre im Autoradio ein Lied. Ich fühle mich ergriffen. Ich reagiere auf die akustische Botschaft also mit einem Gefühl. Ich kann den Zusammenhang aber zunächst nicht begreifen. Statt erklärender Gedanken tauchen innere Bilder auf, Szenen werden deutlich. Ich kann jetzt sehen, was mich durch die Melodie berührt, und finde auch Worte dafür. Sie formen sich zu Gedanken. Eine Erklärung bahnt sich an. An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass der Verstehensprozess mehrere Wirklichkeitsebenen durchläuft, Informationen (Bedeutungszusammenhänge) in unterschiedliche Medien transformiert und sich dabei Symbolisierungsformen (im Beispiel: Musik, Imagination, szenisches Erinnern, sprachbezogenes Denken) bedient.

    Ein Kind lernt spielerisch, sich im analogen Raum zu bewegen. Es singt, malt, plastiziert, liebt Rollenspiele und benutzt vom Kleinkindalter an die entlastende und kommunikative Wirkung von symbolischen Handlungen und Interaktionen (s. Übergangs- und Intermediärobjekte). Der erwachsene Mensch verlässt sich hingegen stärker auf rationale (digitale) Kommunikation und Verstehensprozesse. Die Kreative Gestaltarbeit schätzt deshalb die Ausdrucksmedien bzw. künstlerischen Mittel. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Methodik. Sie fördern nicht nur die Ausdrucksfähigkeit und Kreativität, sondern lehren, im analogen Raum zu kommunizieren. Der analoge Raum ist auch der Fokus Jahrtausende alter Heil- und Lebenskultur. Moderne Therapieverfahren können in dieser Hinsicht noch einiges von der Heilkunst früherer Epochen lernen (K. F. Richter, 1993).

    So ist es ein wichtiges Ziel der Kreativen Gestaltarbeit, seelische, beziehungsdynamische und ökologische Lebenszusammenhänge auch aus der Perspektive des analogen Raumes sichtbar, begreiflich und verstehbar werden zu lassen. Dabei werden Aspekte der inneren und sozialen Wirklichkeit transformiert und damit kommunizierbar. Am Ende steht auch in der Kreativen Gestaltarbeit der rationale Diskurs. Er bewegt sich jedoch auf einer sehr viel breiteren Erfahrungsgrundlage und kann auf tiefere Einsichten aus den ansonsten sprachlosen Wirklichkeitsbereichen zurückgreifen. Der beraterische bzw. therapeutische Diskurs verfügt so über viele Hilfsquellen, die den Heilungs- bzw. Problemlöseprozessen zugute kommen. In diesem Sinne beginnen integrale Verfahren als Kreativitäts- und Kulturtherapien eine Eigenständigkeit zu gewinnen, und zwar sowohl gegenüber ihren beiden Hauptquellen, den klassischen Therapie- und Beratungsmethoden, als auch gegenüber den Künsten und der Kulturarbeit.

    In diesem Buch stelle ich das Konzept der Kreativitäts- und Kulturtherapie auf der Basis gestalttherapeutischer (F. Perls) und integrativer (H. Petzold) Therapieverfahren dar. Hinzu kommen vielfältige Erfahrungen mit kulturpädagogischen Methoden und Ausdrucksmedien, wie sie an der Akademie Remscheid gelehrt werden. Auch hier gilt die gestaltpsychologische Erkenntnis, dass das Ganze mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ich habe diesem neuen Ganzen den Titel »Kreative Gestaltarbeit« gegeben. Die Kreative Gestaltarbeit versteht sich trotzdem nicht als ein weiteres, neues Verfahren auf dem ohnehin unübersichtlichen Anbietermarkt, sondern als ein Erfahrungskondensat meiner beraterischen, therapeutischen und kulturpädagogischen Gestaltarbeit.

    Bleibt noch die Frage: Wo und wie lässt sich Kreative Gestaltarbeit anwenden? Hierzu einige Beispiele: Einzeltherapie- und Beratung; Paartherapie- und Beratung; Gruppentherapie- und Beratung; Selbsterfahrung (in Gruppen); Team-, Projekt-, Wohngruppenberatung; sozialtherapeutische Einzel- und Gruppenarbeit; Einzel-, Team-, Gruppensupervision; Organisationsberatung; Großgruppenarbeit; Kulturarbeit, z.B. zum Aufarbeiten und Verstehen von Erlebnissen und Erfahrungen; gestaltpädagogische Arbeit (schulisch und außerschulisch).

    Kreative Gestaltarbeit:

    Von den Phänomenen zu den Strukturen

    Ein Phänomen ist das, was erscheint. Es ist erfahrbar. Phänomene, die wir wahrnehmen, sind immer schon gegliederte Konfigurationen, heben sich als Gestalt vom Wahrnehmungshintergrund ab. Erfahrbar sind in diesem Sinne zum Beispiel alle Lebensäußerungen von mir und dem wahrnehmbaren, das heißt anwesenden Anderen. Zum Phänomen werden Bewegungen, Mimik, Laute, Sprache, Gefühle, Gerüche, aber auch sichtbare physiologische Reaktionen wie Schwitzen oder Erröten. Sie sind, so gesehen, das Material, das uns die Klienten bieten (D. Rahm et al., 1993), Anknüpfungspunkte für Interventionen in Beratung und Therapie. Phänomene stehen nicht für sich, sie haben einen Hintergrund, aus dem sie heraustreten. Dies geschieht nicht willkürlich, sondern nach bestimmten Regeln und Mustern. Wir versuchen, mit dem Klienten hinter den Sinn des Gezeigten, Erlebten und Verhaltens zu kommen, also Strukturen zu erkennen. Persönlichkeitsstrukturen sind bestimmte Formen von Persönlichkeitstendenzen, die sich von der Geburt an leiblich einschleifen und sich im Verlauf des Lebens immer wieder modifizieren. Sie entwickeln sich als Niederschlag von Interaktionserfahrungen. Strukturen können so auch als »komprimierte Chronik von Beziehungserfahrungen« (D. Rahm et al., 1993) bezeichnet werden.

    Phänomene sind Äußerungsformen von sehr unterschiedlichem Komplexitätsgrad. Auch die Gestaltung mit kreativen Medien und Symbolisierungsvorgänge führen ins sinnlich Begreifbare. Sie erschaffen Phänomene, in denen sich Strukturen veranschaulichen.

    Der Weg von den Phänomenen zu den Strukturen führt in der Kreativen Gestaltarbeit nur selten über Deutungen und Interpretation. Der Berater oder Therapeut erklärt nicht den Zusammenhang von Phänomen und Struktur. Er hilft dem Klienten dabei, den Zusammenhang für sich zu entdecken. Wichtig ist, dass der Klient durch aktive Selbstexploration und Analyse seiner Phänomene einen eigenen, zugleich sinnlichen, geistigen und kognitiven Zugang zu seinen »Hintergründen« findet. Er schreitet in seinem Prozess fort vom Wahrnehmen zum Begreifen, Verstehen und schließlich Erklären seiner Schwierigkeiten. Er erkennt ihren Sinn im Lebenszusammenhang (hermeneutisches Vorgehen, H. Petzold, 1993).

    An zentraler Stelle steht deshalb in der Gestaltarbeit das Konzept der Bewusstheit. Der Klient wird angeleitet, eine aufmerksame, wache Haltung einzunehmen gegenüber all den Begebenheiten, die sich im jeweiligen Augenblick in der Person, mit der Person und um sie herum ereignen. Er lernt, das Offensichtliche zu beachten, das heißt das Erleben im Hier und Jetzt. Er übernimmt eine phänomenologische Sichtweise. Dahinter steht die Annahme, dass der Mensch idealerweise auch in der Lage ist, im Strom seiner Bewusstheit die Dinge zu erkennen, die im Hier und Jetzt zur Erledigung anstehen, und ihre Bewältigung in Angriff zu nehmen (Selbstregulationsprinzip).

    Durch die Förderung der wachen Bewusstheit bekommt der Mensch Kontakt zu seinen Hemmungen, Blockaden und Vermeidungen. Die Störungen selbst können von vergangenen Ereignissen, der gegenwärtigen Lebenswelt oder von Zukunftserwartungen herrühren.

    Mit Hilfe verschiedener Techniken wird in der Gestaltarbeit versucht, entfernte Szenen aus der Vergangenheit, bedrückende Aspekte aus der jetzigen Lebenswelt oder bedrohliche Aspekte aus der Zukunft zu vergegenwärtigen. In der unmittelbaren Präsenz wird ihr emotionaler Bedeutungsgehalt erlebbar. Ihre Wirkungsstruktur gibt sich zu erkennen.

    Der Klient wird zum Beispiel aufgefordert, ein zurückliegendes Ereignis, einen Traum, eine Befürchtung sich so vorzustellen und zu beschreiben, als würden sie jetzt stattfinden. Durch die Form der dramatischen Vergegenwärtigung wird abgespaltenes Material wieder erfahrbar gemacht, die ungelebten Gefühle, die unterbrochenen emotionalen, körperlichen und geistigen Reaktionsmuster werden auf ihre Quellszenen zurückgeführt. Dadurch werden die Skriptseiten aus dem Buch des Lebens wieder aufgeschlagen. Der Klient erhält die Chance, sie umzuschreiben und damit dysfunktionale Strukturen zu ändern. Die Aufhebung oder Korrektur der permanenten Reproduktion solcher Szenarien gibt dem Menschen verlorene Freiheit zurück. Dies wirkt sich besonders auf seinen Beziehungsstil aus, das heißt auf seine Fähigkeit zu Kontakt, Begegnung und Beziehung mit anderen Menschen, seine Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit bzw. Intersubjektivität.

    Nicht immer sind die »Schatten der Vergangenheit« auf diesem Wege zu beheben. Wenn, zumeist aufgrund schwerer früher Störungen, Defizite, Traumata oder Konflikte, sich notwendige Basisstrukturen des Selbst, des Ich oder der Identität nicht ausreichend entwickeln konnten, bedarf es einer Haltung der »guten Elterlichkeit« von Seiten des Therapeuten, um fehlende basale Beziehungserfahrungen und damit Strukturbildung nachzuholen. Diese Vorgehensweise der so genannten Nachbeelterung ist naturgemäß ein zeitintensiver, über längere Abschnitte regressiv getönter Prozess.

    Ist es nun durch Therapie oder Beratung gelungen, alte Strukturen zu verändern, eine Passage im Lebensskript umzuschreiben, so bleibt häufig doch noch eine Handlungsunsicherheit. Der Klient weiß noch nicht, wie er seine Veränderung in ein angemessenes, neues Alltagshandeln umsetzen kann. Er muss zum Beispiel lernen, mit welchen Handlungen man sich durchsetzen kann, neue Kontakte knüpft. So gehören zur Kreativen Gestaltarbeit auch Verhaltens- und Kompetenztraining sowie Transferhilfen.

    Neben dem Subjekt (Binnensystem Mensch) liegt in der Kreativen Gestaltarbeit ein ebenso großes Augenmerk auf Intersubjektivität (soziale, interaktionale Systeme), Mitmenschlichkeit, also dem, was Menschen miteinander teilen, in geistiger, psychischer, sozialer, kultureller Hinsicht. Hieraus bezieht der Klient Lebenssinn, Orientierung und Motivationen. Intersubjektivität resultiert aus dem dichten Austausch zwischen den Subjekten (Korrespondenzprozesse, H. Petzold, 1993).

    Das wesentlichste seelische Nahrungs- und Wachstumsmittel des Menschen sind seine Beziehungen. Wie wir gesehen haben, sind Beziehungserfahrungen der Stoff, aus denen psychische Strukturen entstehen, die entscheidend Einfluss nehmen auf den Lebensverlauf. Natürlich bedarf der Mensch auch einer lebhaften Beziehung zur übrigen materiellen, belebten und geistigen Umwelt. Hier besteht, zumindest in unserer westlichen Kultur, die Tendenz zu einer immer größeren Entfremdung, bis hin zur Entfremdung auch von unserer eigenen inneren Natur.

    Kreative Gestalttherapie und Beratung übersteigen deshalb tendenziell Einzelarbeit, beziehen sich auf Gruppen, aber auch auf umfassendere Systeme und Kontexte. Selbst in der Dyade der Einzeltherapie sind vielfältige Subsysteme unsichtbar anwesend, zum Beispiel Herkunftsfamilie, Lehrer, Freunde, verflossene Beziehungen oder verstorbene Personen, aber auch die ganze Lebens- und Berufssituation mit ihrem »Personal«. Weitere Kontexteinwirkungen sind Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Ökologie.

    Der vielperspektivische Ansatz der Gestaltarbeit eignet sich so auch als change agent für Systeme der unterschiedlichsten Größenordnung. Für Einzel-, Paar-, Familien-, Großgruppen-, Organisations- und Institutionsberatung gibt es mittlerweile elaborierte Konzepte.

    Genauso wichtig wie der Kontext sind die Zeitperspektive und damit die geschichtliche Dimension. In der Zeitperspektive erscheint der Mensch in seiner Lebensspanne – von der biografischen Vergangenheit über das Jetzt in die nähere und ferne Zukunft. Aber auch die individuelle Lebensspanne ist eingebettet in die entsprechenden Kontexte der Gesellschaft, der Kultur (Abb. 1).

    Kreative Gestaltarbeit fußt auf verschiedenen Quellen, die sie unter Einbeziehung des medienintegrativen Ansatzes zu einem einheitlichen Verfahren zusammenstellt. Grundlage bildete dabei die Gestalttherapie, wie sie von Laura und Fritz Perls, Paul Goodman, M. und E. Polster und vielen anderen in den USA seit den späten 1950er Jahren entwickelt wurde. Der Gestaltansatz ist ein junges Verfahren geblieben, da er sich weit mehr als andere therapeutische Schulen gegen die Kanonisierung eines Lehrgebäudes, wie es am stärksten bei der Psychoanalyse zu beobachten ist, gesperrt hat.

    In Deutschland bekam die Gestalttherapie ihren größten Entwicklungsschub durch H. Petzold und seine Integrative Therapie. Mit unterschiedlicher Tragweite sind neben der Gestaltpsychologie unter anderem Psychodrama, psychoanalytische Aspekte, Existenzialismus, Phänomenologie, Hermeneutik, Zen-Buddhismus in die Kreative Gestaltarbeit eingegangen. Sie erfährt eine fortlaufende Korrektur durch neue Forschungsergebnisse und die Praxiserfahrungen vieler Gestalttherapeuten, Berater und Pädagogen. In der Praxis verbindet die Kreative Gestaltarbeit fünf Aspekte zu einer einheitlichen Vorgehensweise:

    Abbildung 1: Kontexte und Zeitperspektive eines Menschen

    ‣  Eine phänomenologische Sichtweise. Sie konzentriert sich auf das direkt Beobachtbare, Offensichtliche, also auf all das, was im Hier und Jetzt der Situation direkt gesehen, gehört, gefühlt, gerochen und ertastet werden kann. Dies ist das Ausgangsmaterial für eine prozessuale Diagnostik und für Interventionen.

    ‣  Die prozessuale Orientierung. Das phänomenologisch Augenscheinliche, der Beobachtungsgegenstand, ist nicht statisch. Es verändert sich permanent im Wechselspiel all der Kräfte, die im jeweiligen Moment in der (Therapie-)Situation wirksam sind. Die Wahrnehmung erfasst Veränderungsbewegungen in der Person (psychische Prozesse), zwischen den Personen (interaktionaler Prozess) und im Wechselspiel mit verschiedenen Kontexten und biografischen, das heißt zeitlichen Hintergründen. Jedes Wahrgenommene ist zugleich schon Ergebnis der intrapsychischen, interaktionalen oder kontextuellen Bewegungen.

    ‣  Die strukturelle Reflexion. In dem geäußerten, also beobachtbaren Verhalten sind alle gespeicherten Strukturen anwesend. Sie sind im Offensichtlichen »verborgen«. Bestimmte Phänomene wiederholen sich. Von dieser beobachteten Redundanz lässt sich vermuten, dass sie Ausdruck einer bestimmten Struktur sind. Durch sogenannte tiefende Interventionen werden diese Strukturen vergegenwärtigt und sind dann einer Revision zugänglich.

    ‣  Das bewusstseinsfördernde, erlebnisaktivierende, konfliktzentrierte und nachnährende Vorgehen. Die einzelnen Vorgehensweisen sind in dem Abschnitt über die »Fünf Wege der Entfaltung« (S. 42ff.) beschrieben.

    ‣  Mediale Expression und symbolische Interaktion. Die Vorgänge des Sichtbarmachens, der Vergegenwärtigung, der Verdeutlichung, des Experimentierens und Interagierens werden durch die kreativen Medien gegenüber einem rein sprachlichen Verfahren wesentlich erweitert und differenziert. Besonders hilfreich sind sie in der diagnostischen Arbeit.

    Gestaltarbeit verwende ich als Oberbegriff für alle Methoden, die nach dem integrativen Gestaltkonzept arbeiten, also Gestalttherapie, Gestaltberatung, Gestaltpädagogik, Gestaltsupervision und Organisationsberatung, Gestalt in der kulturellen Arbeit usw.

    Kreativität ist ein zentraler Begriff in diesem Konzept, und dies in mehrfacher Hinsicht: Kreativität benötigt der Klient, um seine Probleme zu lösen, seine Blockaden aufzuheben, seine Lebensschwierigkeiten zu beheben. Bei vielen psychisch kranken Menschen, Neurotikern und gestressten oder konfliktinvolvierten Personen wird die Kreativität im Gestaltprozess erst wieder geweckt und muss in ihrer Entfaltung unterstützt werden. Auch Therapie oder Beratung sind kreative Prozesse (J. Zinker, 1982). Der Therapeut, Berater oder Pädagoge muss seine eigene Kreativität ins Spiel bringen. Ohne seine Einfälle und Gestaltungskraft könnte der Prozess gar zu leicht versanden. Einige Therapeuten empfinden ihre Tätigkeit deshalb auch als eine Art Kunst (P. Peterson, 1987).

    Integration ist der zweite Schlüsselbegriff. Integrativ ist die Gestaltarbeit auf verschiedene Weise. In das Verfahren sind sehr verschiedene Theorie- und Methodenaspekte integriert, das heißt zu einem Konzept zusammengefasst. Die Integration abgespaltener oder aus ihrem Zusammenhang gefallener Persönlichkeitsaspekte ist der zweite zentrale Aspekt.

    Im Einleitungskapitel beschreibe ich eine beschleunigte, zunehmend unübersichtliche Welt, auf deren Komplexität zu reagieren immer schwerer fällt. Das greift die Identität an. Hier gilt es, anstelle einer multiplen, in viele Segmente zerfallenden, eine integrative Identität zu entwickeln.

    Und schließlich ersetzt Integration bis zu einem gewissen Grad die Vorstellung von der oft beschworenen und überstrapazierten Ganzheitlichkeit.

    Ziele, Wege

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