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Phänomenologische und Soziale Psychiatrie: Präliminarien zu einem Dissertationsversuch
Phänomenologische und Soziale Psychiatrie: Präliminarien zu einem Dissertationsversuch
Phänomenologische und Soziale Psychiatrie: Präliminarien zu einem Dissertationsversuch
eBook321 Seiten3 Stunden

Phänomenologische und Soziale Psychiatrie: Präliminarien zu einem Dissertationsversuch

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Über dieses E-Book

Soziale Psychiatrie ist eines der originalen Projekte der Generation, welche wir kurz und knapp die "68er" nennen.
Insofern schauen wir in diesem Buch auf 40 Jahre Soziale Psychiatrie zurück.

1975 war das Ziel der sozialpsychiatrischen Reformer von 68 erreicht: Die Psychiatrie-Enquete ist eine der großen Erfolgsgeschichten der "68er" und bildet bis heute die Grundlage der Sozialen Psychiatrie.

Asmus Finzen, einer der 68er Reformer der Sozialen Psychiatrie, fragte auf einer der Feiern zu diesem Jubiläum: Wie soll das nun mit der Sozialen Psychiatrie weitergehen? Und er forderte "unsere Soziale Psychiatrie", als ausgesprochen sozial-integrative und inklusive Soziale Psychiatrie auf, einen Perspektivenwechsel hin zur Subjektivität -- im substanziellen Sinne -- ihrer Betroffenen zu machen.

Das zentrale Anliegen dieses Buches ist es, diese Forderung eines unserer Altvorderen nach dem Verstehen des Subjekts in der Sozialen Psychiatrie auf substanzielle Weise zu begründen.

Das wollen wir, indem wir einerseits die Soziale Psychiatrie zum Subjekt hin öffnen im Anschluss an Ludwig Binswangers transzendental-phänomenologische Psychiatrie. Auf der Basis von Edmund Husserls transzendental-phänomenologischen Untersuchungen des Bewusstseins in seinem Spätwerk, werden hier wohl ausgesuchte Analysen Husserls zum Zeitbewusstsein und zur Lebenswelt vorgestellt. Mit diesen Analysen werden wir -- anschließend an Binswanger -- Melancholie und Formen der Schizophrenie versuchen zu verstehen.

Andererseits wollen wir die Transzendental-Phänomenologie zum Sozialen hin öffnen, indem wir die Intersubjektivität, und den inklusiven und sozial-integrativen Kern der Sozialen Psychiatrie nicht aufgeben. Sondern eben diese um die phänomenologische Psychiatrie erweitern und damit erneuern als: Phänomenologische und Soziale Psychiatrie.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Jan. 2019
ISBN9783748122524
Phänomenologische und Soziale Psychiatrie: Präliminarien zu einem Dissertationsversuch
Autor

Daniel Wittig

Daniel Konrad-Wittig, geboren 1956, 1974--1982 Berufsbegleitende Ausbildung zum Heilerziehungspfleger am Institut für soziale Berufe, Ravensburg. Lukas Klinik Hegenberg (Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik) Integrierte Therapeutische Kinder-Wohngruppe: Gemeinsame Wohngruppe von Kindern mit geistiger Behinderung und mit und ohne psychiatrischer Diagnose. 1983--1987 Schule für Erwachsenenbildung (SfE) in West-Berlin, Kreuzberg -- Selbstverwaltungsprojekt. 1988--1989 Mitarbeiter als Heilerziehungspfleger beim Aufbau eines Wohnhauses. 1989--2003 Hamburg Personenzentrierte Weiterbildung am Institut für sozialberufliche Weiterbildung der Hochschule für Wirtschaft und Politik, HWP WS 1990--SoSe 1995 Studium der Soziologie mit Schwerpunktfach Sozialpsychologie und Interdisziplinäres Spezialfach Sozialpsychiatrie. Abschluss als Diplom-Sozialökonom. Mitglied des interdisziplinären sozialpsychiatrischen Forschungsfeldes an der HWP. Mitarbeiter im Rauhen Haus, Hamburg-Horn. Gemeindepsychiatrisches Projekt "Haus Schönburg" Reha von jungen Langzeitpatienten . Weiterbildung am Hamburger Institut für gestalttherapeutische Weiterbildung (HIgW), Abschluss als Gestaltberater. 1998--2003 Doktorand bei Prof. Dr. Manfred Wetzel zu "Phänomenologische und Soziale Psychiatrie -- Theorie und Praxis". Seit 2003 Mitarbeiter im Reha-Bereich der BruderhausDiakonie -- Sozialpsychiatrische Hilfen Ravensburg-Bodenseekreis im Stadtbereich Ravensburg.

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    Buchvorschau

    Phänomenologische und Soziale Psychiatrie - Daniel Wittig

    Team

    1 Einleitung

    Dies ist als soziologischer Versuch ein Beitrag zur sozialpsychiatrischen Theoriediskussion.

    1.1 Zum Begriff: phänomenologische Psychiatrie

    Bevor wir zur Sache selber kommen, wollen wir gleich hier zu beginn den Begriff: phänomenologische Psychiatrie² so wie wir ihn hier im Folgenden verstehen, abgrenzen.

    Die Begriffe „phänomenologisch und „Lebenswelt³ sind im Rahmen dieses soziologischen Versuches nicht im Anschluss an Alfred Schütz und seine „Sozialphänomenologie zu verstehen. „phänomenologische Psychiatrie, so wie wir diese in diesem Versuch entwickeln wollen, schließt sich auch ausdrücklich nicht an die „Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz an, obwohl die „Neue Phänomenologie von Schmitz im Zusammenhang mit der Gestalttherapie, so wie wir diesen Ansatz als phänomenologische therapeutische Praxis im Sinne des HIGW⁴ hier vorstellen, sehr wohl auch mitschwingt.

    Wir meinen auch keine existentielle Psychiatrie im Sinne von R.D. Laing und J.P. Sartre oder existentiell-daseinsanalytische Psychiatrie mit dem Horizont von Martin Heideggers phänomenologisch-anthropologischer Philosophie.

    Wir wollen hier deskriptive Phänomenologie im Sinne der vorurteilsfreien Beschreibung von Symptomen betreiben, so wie der Begriff meist im psychiatrischen Zusammenhang gemeint ist.

    phänomenologische Psychiatrie in dem hier verstandenen Sinne meint aber zuerst und ganz allgemein: phänomenologische Psychiatrie versucht die subjektiven und intersubjektiven Konstitutionsleistungen des Bewusstseins auf der theoretischen Grundlage der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls zu verstehen. Ludwig Binswanger hat in ganz herausgehobener Weise in diesem theoretischen Sinne phänomenologische Psychiatrie verstanden. Auf der Basis bestimmter Schriften aus Husserls Philosophie, versuchte Binswanger psychiatrische Phänomene wie „Melancholie und „Wahn zu verstehen.⁵ Ludwig Binswanger hat auf folgende Schriften Husserls zurückgegriffen: Formale und transzendentale Logik von 1929⁶, die Binswanger seinen Untersuchungen der Konstitutionsweise psychotischer Subjektivität zugrunde gelegt hat.7 Die Untersuchungen Binswangers zur Melancholie greifen auf Husserls „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (erstmals 1928 erschienen) zurück, wo Husserl die apriorische Gefügestruktur im Aufbau der zeitlichen Objektivität herausarbeitet.⁸ „Zeit wird von Binswanger nun nicht mehr ontologisch (wie bisher mit der anthropologisch - daseinsanalytischen Hintergrundtheorie von Heideggers „Sein und Zeit, Einfügung von mir, (ab jetzt so: e.v.m.)) sondern intentional interpretiert. Diese neuartige Interpretation soll die Zeitanalyse zum vermittelnden Glied zwischen daseinsanalytischer und konstitutionsanalytischer Betrachtungsweise machen.⁹

    1.1.1 Warum versuchen wir Psychosen auf philosophischer Basis zu verstehen?

    Neurologie und Psychiatrie sind zwei verschiedene Disziplinen. Die Neurologie gründet auf der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der somatischen Medizin. Sie ist organisch. Von einigen speziellen Ausnahmen können wir das von der Psychiatrie nicht sagen. „Es ist interessant, dass Freud selbst von der Neurologie ausging, zu welcher er einige originelle Beiträge lieferte. Ackerknecht hat in seine ausgezeichnete „Kurze Geschichte der Psychiatrie (E.H. Ackerknecht, Stuttgart, 1967) ein „Von der Neurologie zur Psychoanalyse betiteltes Kapitel aufgenommen, in dem er zeigt, wie sehr der Fortschritt in der Psychiatrie während der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von den Beiträgen einiger oft sehr bedeutender Neurologen herrührt, welche die Neurologie objektiv aufgaben, indem sie Beiträge zur Psychiatrie lieferten. Das Problem war und ist hier der Versuch, Symptome zu verstehen und zu klassifizieren, nicht Ursachen im materiellen Sinn. (Kursiv gesetzt im Original.)¹⁰

    Symptome zu verstehen und zu klassifizieren, nicht Ursachen im materiellen Sinn. Das ist das Problem.

    Das interessanteste, ja brennendste aller psychiatrischen Probleme ist die Psychiatrie selbst. „Als „Ganzes" befindet sich diese nach Binswangers Auffassung trotz bedeutender Forschungsresultate im einzelnen in einem desolaten Zustand: statt eine einheitliche Wissenschaft zu sein, besteht sie in einem Konglomerat heterogener Forschungsansätze, die sich teils auf die Biologie, teils auf psychologische Theorien stützen, samt und sonders aber auf ungeklärten Voraussetzungen beruhen.¹¹ Es handelt sich also um das Problem der Psychiatrie als Wissenschaft. Die Frage lautet vorerst: Wie ist Psychiatrie als Wissenschaft möglich? Wie sind Gegenstand und Methode der Psychiatrie zu bestimmen, um ihren Erkenntnissen wissenschaftliche Qualität zu sichern?"¹² Diese Fragen meinen wir mit Binswanger damit beantworten zu können, dass wir psychiatrische Symptome nicht nur phänomenologisch vorurteilsfrei beschreiben, klassifizieren und psychotherapeutisch deskriptiv diagnostizieren. Wenn wir die Konstitutionsweise psychotischer Subjektivität analysieren können, dann erst verstehen wir bestimmte psychiatrische Phänomene in ihrem Grunde nicht als somatische oder psychische Seelenkrankheit sondern als Störung der Konstitution des Bewusstseins. Praktische und theoretische Probleme dieses Ansatzes diskutieren wir in diesem Versuche: Zum Theorie- Praxisverhältnis.

    1.2 Zu den weiteren Begriffen

    Sozialpsychiatrie, Gemeindepsychiatrie und Soziale Psychiatrie: diese weiteren Begriffe des Titels dieses soziologischen Versuches wollen wir nun gleich klären und fragen dabei: in welcher Differenzierung verwenden wir diese Fachbegriffe der Psychiatrie (als Disziplin der Medizin), der Sozialpsychologie (als Disziplin der Soziologie) und der speziellen Sozialpsychologie als eigenständiges Fach (gemeint: als selbständiges Forschungsgebiet Vermittlerin zwischen Soziologie und Psychologie)?

    In diesem Versuch verwenden wir den Begriff der Sozialpsychiatrie, wenn wir das Feld interdisziplinäre Forschung von Psychiatern, Therapeuten, Sozialpsychologen, und speziellen Sozialpsychologen bezeichnen.

    Wenn wir aber dasjenige praktische Tätigkeitsfeld der reformierten Psychiatrie (nach der Psychiatrie- Enquete von 1975¹³) bezeichnen möchten, welches die Menschen mit psychischen Krankheiten aus der Klinik wieder sozial im gesellschaftlichen Zusammenhang von Gemeinden inkludieren will, reden wir von Gemeindepsychiatrie. Den ganzen Hintergrund dieses Ansatzes der Psychiatrie als Sozialpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie so wie dieser sich seit der Reform der Psychiatrie, Manifestiert in der intern kurz genannten „Enquete", entwickelt hat, begreifen wir cum grano salis als radikal gesellschaftsvermittelten Sozial-Integrativen-Ansatz. Geht es nun darum, von Praxis (Gemeindepsychiatrie) und Forschung (Sozialpsychiatrie) in ihrem expliziten sozial-integrativen Ansatz im Zusammenhang zu sprechen, dann wird üblicherweise von sozialer Psychiatrie geredet.¹⁴

    In systematischer Absicht werden wir diesen sozialpsychiatrischen Begriff von der Sache sozialer Psychiatrie als sozial-integrative Psychiatrie für unseren Versuch um Eugen Bleulers¹⁵ Begriff von sozialer Psychiatrie schon an diesem Ort verlängern.

    Wir werden nun zu diesem Zweck aus dem klassischen Psychiatrie Lehrbuch von Eugen Bleuler¹⁶ hier ein langes Zitat einschieben: „Ist der Arzt vor die Aufgabe gestellt, einem psychisch kranken Menschen zu helfen, (Kursiv im Original, wie im weiteren alle Kursiv gesetzten Wörter und Sätze innerhalb des Zitates) stehen ihm zwei Wege offen: registrieren, was krank ist. Er wird dann aus den Krankheitssymptomen auf eines der unpersönlichen Krankheitsbilder schließen, die beschrieben worden sind. Dann wird er wissen, was für Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, und er wird sie nach den Bedürfnissen seines Kranken auswählen und anwenden.

    Er kann aber auch einen anderen Weg einschlagen: Er kann dem Kranken zuhören, wie ein vertrauter Freund. Er wird dann sein Augenmerk weniger darauf richten, das Kranke festzustellen, psychopathologische Symptome zu notieren, und daraus eine unpersönliche Diagnose zu stellen, als darauf, einen Menschen in seiner Einmaligkeit zu erfassen und seine persönlichen Nöte, Ängste, Wünsche und Erwartungen mitzuerleben. Er kann ihm so ein persönlicher Berater und Helfer in machen Belangen werden. Darüber hinaus wird die Gemeinschaft zur Beruhigung, zur inneren Sammlung und zur Entspannung des Kranken beitragen und sie wird, wenn sie gefestigt und auf lange Zeit lebendig erhalten wird, seine ganze Entwicklung zur Gesundung fördern. In jedem Fall sind beide Arten des Vorgehens nötig; im einen ist die eine, im anderen die andere vordringlicher und wichtiger."¹⁷ (Auf der einen Seite greift der Psychiater, Therapeut, Berater auf die medizinisch-psychiatrischen Theorien zurück, auf der anderen Seite wendet er sich in der Praxis dem Menschen zu. Siehe dazu auch das 2. Kapitel. Wo es auch darum geht, die phänomenologische Psychiatrie nicht „existentiell-anthropologisch aufzugeben.)

    „Wie der behandelnde Arzt einen doppelten Auftrag an seinem Kranken zu erfüllen hat, so haben sich zwei grundsätzliche Lehr- und Forschungsrichtungen in der Psychiatrie gegenseitig zu ergänzen: Die eine beginnt nach dem Vorbild der Naturwissenschaften mit der Beschreibung von krankhaften Untersuchungsbefunden und prüft, wie sie sich von der Norm abheben. Sie sammeln die Unterlagen zur unpersönlichen Umschreibung der einzelnen Krankheiten und ihrer Eingliederung in eine natürliche Ordnung. Erstrebt wird eine Diagnostik, die dem zielbewussten Handeln, der Bekämpfung der Ursachen, der Vorhersage und der Behandlung zum Wegweiser wird. Das Augenmerk wird vor allem auf das Gegenwärtige des Krankheitsbildes gelegt, auf einem Querschnitt, auf das, was gegen früher anders, eben krank geworden ist. Diese Betrachtung hebt die Art der krankhaften Äußerung hervor, das Formelle in den Krankheitsabläufen ist ihr wichtiger als das Inhaltliche. Man sprach überspitzt von einer deskriptiven und statischen Psychiatrie.

    Die zweite Richtung ergibt sich weniger aus der naturwissenschaftlichen Grundhaltung des Arztes heraus, als vielmehr aus seinem unmittelbaren Helferwillen. Es wird gefragt: Was will der Kranke mit seinen Äußerungen sagen, was bedeuten sie? Was für Wünsche und Bedürfnisse stehen dahinter, in welchem Zusammenhang stehen sie mit seiner Lebenslage und seiner Vergangenheit? Dabei ringt man um ein Verständnis der Kranken als Menschen aus ihren persönlichen Lebensschicksalen heraus, anstatt um die Einreihung ihrer Krankheitssymptome in allzu abstrakte Krankheitsbegriffe. Dabei übersieht man Längsschnitte, Entwicklungen; was die Kranken denken, sagen, und empfinden, wird bedeutungsvoller als wie sie es tun, als das Formelle. Man versucht weniger zu beschreiben, als menschliche Schicksale zu verstehen. Das Gesunde im Kranken nimmt man dabei wichtiger als Krankheitszeichen. Der statischen stellt sich die „dynamische" Psychiatrie gegenüber.

    Die statische Psychiatrie ist ein Kind der naturwissenschaftlich gerichteten Medizin des letzten (des 19. a.d.V.) Jahrhunderts. Sie ist an den psychiatrischen Universitätskliniken Europas zur Blüte gelangt. Die dynamische Psychiatrie ist in ihren Ursprüngen alt, hat sich aber gegen Ende des letzten Jahrhunderts verdrängen lassen; seither ist sie durch die psychoanalytische Bewegung mächtig emporgetragen worden. Zeitweise wurde sie mehr in der Sprechstunde der psychotherapeutischen Fachärzte gepflegt als an den großen Kliniken. Sie hat schon früh in den Vereinigten Staaten von Amerika besonderes Interesse gefunden. In grober Vereinfachung, ja teilweise Verfälschung der Tatsachen hat man die statische Psychiatrie als diejenige der älteren Zeit, des alten Kontinents und der Kliniker bezeichnet, die dynamische als jene der modernen Zeit, des neuen Kontinents und der Psychotherapeuten.¹⁸

    Heute wäre es fortschrittshemmend, wenn aus der Unterschiedlichkeit beider Richtungen weiterhin gegenseitige Missachtung und Feindschaft hervorgingen. Statische und dynamische Psychiatrie sind beide notwendig. Die statische Psychiatrie brauchen wir zur Diagnose und damit auch zur Behandlung. Freilich ist der Einwand richtig, dass die ältere Psychiatrie eine Menge von künstlichen höchst überflüssigen Krankheitsbegriffen geschaffen hat, deren Verwendung oder Missachtung für das Schicksal der Kranken belanglos ist; demgegenüber dürfen wir nie vergessen: die genaue Beobachtung und Beschreibung der psychischen Krankheitserscheinungen, die vielgescholtene deskriptive und statische Psychiatrie lässt in zahlreichen Fällen mit Sicherheit, in anderen mit Wahrscheinlichkeit erkennen, ob ein Geisteskranker ein Hirnkranker ist, oder ob er eine körperliche Behandlung nötig hat. Man tut gut, sich beim Studium der Psychopathologie dauernd vor Augen zu halten, dass die Vernachlässigung ihrer „statischen Richtung leicht dazu führen kann, die Diagnose und die rechtzeitige Behandlung einer Krankheit zu versäumen. Unerbittlich fordert die Gesetzgebung von der Psychopathologie eine feste Grenzziehung zwischen gesund und krank; ohne eine solche sind Begriffe wie Urteilsfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit, Ehefähigkeit u. a. unbrauchbar.¹⁹ Hier haben wir jetzt den „klinischen Pragmatiker" Eugen Bleuler in Reinform gehört.

    Nun geht er über zu seinem Begriff der Sache Soziale Psychiatrie: „Die Soziale Psychiatrie braucht deshalb „statische" psychopathologische Grundlagen.

    Die „dynamische Psychiatrie ihrerseits eröffnet das menschliche Verstehen am Geisteskranken; sie ermöglicht es uns, seinen scheinbar unverständlichen Äußerungen zum Trotz den Bruder in ihm zu sehen (.) und tief zu erleben, wie er gleichen Wesens ist wie wir. Dadurch führt sie zu einer therapeutisch wirksamen inneren Gemeinschaft ... mit dem Kranken. Sie bildet eine Grundlage für die Psychotherapie.²⁰

    Soziale Psychiatrie mit cum grano salis radikal gesellschaftsvermitteltem sozial-integrativem Ansatz muss verlängert werden zur therapeutisch wirksamen inneren Gemeinschaft mit den Betroffenen. So bildet sie eine Grundlage für die Psychotherapie. Die theoretische Grundlage einer solchen Sozialen Psychiatrie –und das ist jetzt die Erweiterung über Bleuler hinaus und hin zu Binswanger und Husserls transzendentaler Phänomenologie – ist das Verstehen der Konstitution psychotischer Subjektivität. Diese Erweiterung ist die Pointe dieses Versuches; genauso wie sich die phänomenologische Psychiatrie zur sozial-integrativen Gemeindepsychiatrie hin öffnen sollte, sollte sich die Gemeindepsychiatrie dem Verstehen der Subjektivität der Betroffenen zuwenden.

    Noch kürzer gesagt, geht es darum, einerseits die phänomenologische Psychiatrie zum Sozialen hin zu öffnen, andererseits die Soziale Psychiatrie zum Subjekt hin.

    So können wir nun schon etwas differenzierter verstehen und sagen nun: Dieser soziologisch-sozialpsychologische Versuch möchte einen transzendental-phänomenologischen Beitrag zur sozialpsychiatrischen Theoriediskussion leisten. Das zentrale Anliegen dieses Beitrages ist es, die Forderung nach dem Verstehen des Subjekts in der Psychiatrie zu unterstützen. Diese Forderung wurde in den letzten Jahren immer lauter. Nachdem die Soziale Psychiatrie 25 und 30 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete von 1975, das Erreichen der damals formulierten Reformen feierte, fragt sie sich jetzt selbst, wie es nun mit ihr weitergehen soll: soll sie – erfolgreich auf der Stelle tretend – als ausgesprochen sozial-integrative Gemeindepsychiatrie weitermachen, oder als Soziale Psychiatrie einen Perspektivenwechsel hin zum Subjektiven ihrer Betroffenen machen? Der (Sozial-) Psychiater Asmus Finzen z.B. fordert die Wiederentdeckung von Subjektivität vor ihrem kulturellen und sozialen gesellschaftlichen Horizont; und fragt danach, wie in diesen je kulturell ausdifferenzierten sozialen Gesellschaften der Umgang mit psychischer Gesundheit und Krankheit ist. Wenn es uns nicht gelingt, das Erleben und Erleiden, die subjektive Wahrnehmung von Menschen mit schweren und andauernden psychischen (Störungen) zu verstehen, werden deren Nöte unerhört bleiben. Und es wird keine Verständigung geben zwischen sozialem System Psychiatrie und Individuen mit geistigen Störungen respektive „psychischem Syndrom oder psychischer Krankheit". Das wäre aber doch zuallererst die grundlegende Voraussetzung, dass psychiatrische Therapie als Hilfe erkannt und angenommen werden kann.²¹ In diesem Sinne verstehen wir, dass das interessanteste und brennendste Problem der Sozialpsychiatrie die – theoretische Seite! – der Soziale Psychiatrie selber ist.

    Die Studien zum inneren Zeitbewusstsein, also die phänomenologischen Studien zur Melancholie, liegen der Literatur der phänomenologischen Psychiatrie hervorragend interpretiert durchgearbeitet von Binswanger und Gebsattel²² vor. Wir wollen uns diesen Bereich also vor allem aus heutiger Sicht ansehen, und dann sehen, ob wir heute noch damit arbeiten können. Dieser Versuch hieß in schon in seiner Anfangsphase „Psychiatrie und Lebenswelt". Das sollte darauf hinweisen, dass die phänomenologischen Studien zur Lebenswelt, also die phänomenologischen Studien zum schizophrenen Formenkreis, in nicht so breit ausgearbeiteter Form vorliegen, wie die phänomenologischen Studien zum inneren Zeitbewusstsein.


    ²Kursivschrift bedeutet eine Hervorhebung durch den Verfasser

    ³Siehe zum Ende der Einleitung

    ⁴HIGW: Hamburger Institut für gestaltorientierte Weiterbildung

    ⁵ Ludwig Binswanger

    1994 Ausgewählte Werke, Der Mensch in der Psychiatrie, Alice Holzhey-Kunz, Heidelberg, Bd. 4 Des Weiteren zitiere ich daraus so: AW4. Darin sind die beiden späten Studien „Melancholie und Manie von 1960 und „Wahn von 1965 zu finden. Beide Studien sind nach der so genannten transzendental-phänomenologischen Wende Binswangers entstanden.

    ⁶Edmund Husserl

    1992a Formale und transzendentale Logik. Gesammelte Schriften 7, Elisabeth Stöcker, Hamburg Des Weiteren zitiere ich daraus so: GS7.

    ⁷ Vergleiche Binswangers Einleitung Ludwig Binswanger

    1960 Melancholie und Manie, Pfullingen

    ⁸ Wir greifen für unseren Versuch auf den Text zurück, so wie er vorliegt in: Uwe C. Steiner

    1997 Husserl, München, S. 302ff. Dieser Text enthält Auszüge aus einer Aufzeichnung, welche Husserl zwischen Anfang 1909 und Ende 1911 verfasst haben muss. Insgesamt wurde zum Thema „Zeitbewusstsein nicht auf die Textgestalt der dann 1928 in einer Bearbeitung durch Martin Heidegger und Edith Stein publizierten, berühmten „Vorlesungen zurückgegriffen. Diese haben zwar den Vorteil eines flüssigeren, linear argumentierenden Textes. Die hier ausgewählten Aufzeichnungen verdeutlichen aber an einem phänomenologischen Kernproblem schlechthin umso plastischer den tastenden, immer neu ansetzenden Duktus des Husserlschen Denkens.

    ⁹Thorsten Passie

    1995 Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie, Hürttgenwald, S. 72

    ¹⁰Andrew Crowcroft

    1978 Der Psychotiker. Zum Verständnis des Wahnsinns, Frankfurt/M., S. 5f

    ¹¹ Das gilt auch heute für neurobiologische Forschungsansätze wie Hirnforschung, oder Entschlüsselung des Genpools, aber auch bestimmte sozialpsychologische Ansätze auf der Basis radikal konstruktivistischer Psychotherapie und Psychiatrie.

    ¹²Ludwig Binswanger, W4, a. a. O., S. 14. Die Herausgeberin Alice Holzhey - Kunz kommentiert hier den Vortrag „Der Mensch in der Psychiatrie, den Binswanger 1956 u. a. im Bürghölzli in Zürich und an der Universität Freiburg i. Br. gehalten hat.

    ¹³Siehe: Deutscher Bundestag

    1975 Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch / psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung, Drucksache 7 / 4200, Deutscher Bundestag, Bonn Das wird allgemein als „Psychiatrie-Enquete von 1975 oder einfach „Psychiatrie-Enquete genannt.

    ¹⁴Wir haben uns mit Begriff und Sache „Soziale Psychiatrie mit folgenden Büchern auseinander gesetzt: Deutscher Bundestag, „Psychiatrie-Enquete, a. a. O. Die Enquete von 1975 ist nicht nur eine Analyse der psychischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Versorgung der westdeutschen Bevölkerung sondern auch eine Beschreibung dessen, was Soziale Psychiatrie überhaupt sein soll. Eugen Bleuler

    1975 Lehrbuch der Psychiatrie, Heidelberg Rene Bloch

    1988 Droht die totale Psychiatrie?, Olten/Freiburg i. Br. Andrew Crowcroft, a.a.O. Klaus Dörner

    1969 Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt/M. Klaus Dörner

    1998 Ende der Veranstaltung. Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie, Gütersloh Klaus Dörner und Ursula Plog

    1980 Irren ist menschlich, Wunstorf Klaus Dörner und Ursula Plog

    1999 Anfänge der Sozialpsychiatrie, Bonn Asmus Finzen und Ulrike Hoffmann-Richter

    1995 Was ist Sozialpsychiatrie. Eine Bestandsaufnahme nach 20 Jahren Psychiatrie-Enquete, Bonn Michel Foucault

    1978 Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. Michel Foucault

    1980 Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt/M. Michel Foucault

    1994 Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. Michel Foucault

    1999 Die Geburt der Klinik, Frankfurt/M. Roy Porter

    2005 Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich

    ¹⁵Eugen Bleuler, (1857–1939) war ab 1889 Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich. Die Züricher Universitätsklinik hatte schon unter seinem Vorgänger und Lehrer August Forel weltweites Ansehen erlangt. Das Burghölzli galt als erfolgreiches Modell der sich gerade etablierenden Universitätspsychiatrie. Bei Forel hatte Bleuler auch die sozialpsychiatrische Seite der medizinischen Psychiatrie kennengelernt: für Forel bedeutete das damals im Besonderen die Probleme des Strafrechts (forensische Psychiatrie) und des Alkoholismus (Sucht). Für unsere Systematik ist Bleulers Unterscheidung von statischer und dynamischer Psychiatrie von größerem Interesse.

    ¹⁶Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie Bleulers klassisches „Lehrbuch der Psychiatrie", das mir in der 12. Auflage von 1975 vorliegt, ist wie alle Klassiker oft zitiert, aber wird im allgemeinen nur noch von Psychiatrieforschern immer mal wieder aus den Bibliotheken geholt. Ansonsten ist es in der tagtäglichen Praxis nicht mehr in Gebrauch. Auch aus diesem Grunde zitieren wir jetzt daraus so ausführlich.

    ¹⁷Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, S. 1

    ¹⁸Hier gab Eugen Bleuler souverän eine grobe historische Skizze der Psychiatrie.

    ¹⁹Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, S. 2

    ²⁰ebd.

    ²¹Asmus Finzen

    1997 Verrückte Entwürfe, hrsg. von Matthias Angermeyer und Manfred Zumseil, Edition Das Narrenschiff, Bonn, S. 7f

    ²²Viktor Emil von Gebsattel

    1954 Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Studien zur speziellen Psychopathologie, Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie, Heidelberg, Bd. 1, S. 1–17

    2 Gestaltberatung

    2.1 Einleitung

    In dem von mir hier vorgelegten Versuch handelt es sich um einen Prüfungsaufsatz zur Erlangung des Gestalttherapieberaters des Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung, HIGW.

    Ich werde im Rahmen des Diagnostik-Modells der Integrativen Therapie (IT) beispielhaft bestimmte diagnostische Bereiche abklären: vor allem „Ursachen-Analyse mit schädigenden Stimulierungen, „Leibfunktions-Analyse, und eine Hypothese zur Dauer und Art der beabsichtigten Therapie erstellen. Ich möchte auch noch auf den Punkt: Mein Bild, das in mir von der Klientin entsteht hinweisen.

    Diese diagnostische Abklärung erfolgt nach einem mir vorliegenden Fallbericht einer Klientin die Kokain und Heroin konsumierte (nach Suchtanamnese) und u.a. wegen Diebstahldelikten in einer Hamburger JVA inhaftiert ist (nach Arbeits-u. Berufsanamnese). Ich werde im Folgenden von Bericht oder biographischem Bericht sprechen.

    In meinen einleitenden Bemerkungen werde ich diesen Bericht kurz in meiner Interpretation noch einmal zusammenfassend vorstellen. Mein Versuch einer Abklärung dieser bestimmten diagnostischen Bereiche kann also nur soweit reichen, so

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