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AD(H)S – Erziehen statt Behandeln
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AD(H)S – Erziehen statt Behandeln
eBook257 Seiten3 Stunden

AD(H)S – Erziehen statt Behandeln

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Über dieses E-Book

Wie helfe ich meinem Kind, damit es sich besser konzentrieren kann? Ist Impulsivität wirklich eine Krankheit oder »nur« störendes Verhalten?Unkonzentriertheit und Impulsivität lassen sich als Krankheit mit dem Namen »AD(H)S« beschreiben. Aber warum sich ein Kind so verhält, das kann man nur aus pädagogischer Sicht verstehen. Medikamente verlieren ihre Wirkung beim Absetzen – Erziehung kann eine dauerhafte und stabile Veränderung bewirken. Mithilfe dieses Buches können Erziehende ein Profil ihres Kindes erstellen und herausfinden, welche Erziehungsaufgaben in den Bereichen Wille, Können und Gefühl noch ungelöst sind und daher zur »AD(H)S«-Symptomatik führen. Sie lernen, bei ihrem Kind das Fehlende aufzubauen statt den vermeintlichen Fehler zu therapieren.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Aug. 2007
ISBN9783647995151
AD(H)S – Erziehen statt Behandeln

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    Buchvorschau

    AD(H)S – Erziehen statt Behandeln - Miriam Stiehler

    Einleitung und Anleitung

    Ich habe bei meiner Arbeit als Lehrerin und in der Elternberatung ständig mit unkonzentrierten, desorganisierten, fahrigen Kindern zu tun. Manche von ihnen werden mir bereits als »das AD(H)S-Kind« vorgestellt. Andere lerne ich kennen, weil es dauernd Streit bei den Hausaufgaben gibt. Wieder andere haben von der Lehrkraft gehört, sie hätten sicher das AD(H)S, und sind nun genauso verunsichert wie ihre Eltern. Bei all diesen Kindern hat sich vor allem eines erwiesen: Nicht zwei von ihnen sind aus denselben Gründen unkonzentriert, und in keinem Fall hat diese Etikettierung echte Lernfortschritte ermöglicht.

    Was mir am meisten hilft, Kindern zu helfen, ist das pädagogische System von Paul Moor. Ich stütze mich in weiten Teilen dieses Buches auf seine Erkenntnisse über Erziehung und die Ursachen von Unkonzentriertheit. Dieser Schweizer Vater der Heilpädagogik hatte eine wichtige Grundregel für seine Arbeit: »Erst verstehen, dann erziehen.« Das klingt trivial, ist es aber nicht. Es gehört eine Menge dazu, die Ursachen für Unkonzentriertheit, Nachlässigkeit, schlechte Schulleistungen und häusliche Konflikte zu verstehen. Mindestens so anspruchsvoll ist es, das einmal verstandene Kind dann richtig zu erziehen. Viele Eltern sind unsicher, ob sie selbst das Nötige tun können. Manchen ist das auch zu anstrengend. Ich habe aber in jahrelanger Erziehungsarbeit die Erfahrung gemacht, dass das Ergebnis diese Mühe immer wert ist. Kein einziges Kind habe ich durch eine ausgelagerte Therapie zu einer starken Persönlichkeit heranreifen sehen. Statt dessen werden mir immer häufiger Kinder vorgestellt, die schon seit Jahren von einer Behandlung zur nächsten eilen, ohne dass jemand sie verstanden hätte.

    Mit diesem Buch möchte ich Eltern und Lehrkräften helfen, ungelöste Erziehungsaufgaben zu erkennen und zu bewältigen. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen. Häufig genug spüren Eltern selbst, dass sie zur Unkonzentriertheit des Kindes beitragen, aber sie wissen schlicht nicht, was sie anders machen könnten. Ähnlich geht es Lehrkräften, die nicht wissen, wie sie mit den unaufmerksamen, impulsiven oder überaktiven Kindern umgehen sollen. Weil Eltern und Lehrer – ob sie es wollen oder nicht – Erzieher des Kindes sind, werde ich sie im Buch auch so nennen. Fast alles, was Sie tun, erzieht das Kind. Es liegt bei Ihnen, das zum Guten zu nutzen. Damit Sie das individuelle unkonzentrierte Kind besser verstehen, ist ein Fragebogen für Eltern und Lehrer in das Buch integriert. Es ist darin immer nur von »dem Kind« die Rede und nicht von einer Gruppe. Denn wie schon Karl Popper richtig festgestellt hat, kann man immer nur den Einzelnen erziehen. Wenn Sie als Lehrkraft also den Fragebogen für mehrere Kinder verwenden möchten, notieren Sie die Antworten am besten mit der entsprechenden Nummerierung auf ein gesondertes Blatt. Die Auswertung ist einfach: Sie beantworten zunächst die jeweiligen Fragen ganz frei. Unten in jedem Kästchen können Sie beim Stichwort »Handlungsbedarf« eine 0, 1 oder 2 ankreuzen. Wenn Sie der Meinung sind, die im Kästchen erwähnte Erziehungsaufgabe haben Sie schon gelöst, dann kreuzen Sie die 0 an. Wenn Sie an dieser Aufgabe noch arbeiten, sie aber nicht allzu dringlich ist, dann kreuzen Sie 1 an. Und wenn Sie finden, dieser Punkt trifft den Nagel auf den Kopf, hier muss unbedingt etwas passieren, dann wählen Sie die 2. Am Ende des Buches finden Sie eine Auswertungsseite, auf der Sie für jede der sechs vorgestellten Erziehungsaufgaben eine Gesamtsumme ausrechnen können. Sie haben damit eine grobe Orientierung, welcher Erziehungsbereich am dringlichsten Ihr Engagement erfordert. Wenn Sie sich selbst als »AD(H)S-krank« betrachten, können Sie den Fragebogen auch für sich ausfüllen.

    Ach ja, um der politischen Korrektheit willen: Als Frau erlaube ich mir, das grammatikalische Geschlecht von Wörtern wie Erzieher, Lehrer, Pädagoge zu respektieren. ErzieherInnen, LehrerInnen und PädagogInnen werden Sie daher vergeblich suchen. Schließlich sind wir alle MenschInnen.

    Erziehen oder behandeln?

    Für Eltern und Lehrer wird es immer schwieriger, sich der Gleichung »Unkonzentriertheit ist eine Krankheit« zu entziehen. In Fernsehsendungen, Zeitschriftenbeiträgen und Fachbüchern, auf Fortbildungen und über die Websites der entsprechenden Pharmakonzerne wird diese These mit Nachdruck verbreitet. (Und der Mensch neigt dazu, Aussagen mit jeder Wiederholung für ein bisschen wahrer zu halten, bis er sie irgendwann aufgrund ihrer schieren Allgegenwärtigkeit glaubt.) Es ist sogar schwer geworden, überhaupt noch einen Kinderarzt zu finden, der sagt: »Nein, das kann man nicht behandeln. Da müssen Sie als Erzieher etwas tun.« Diese Situation wird von den Beteiligten gerne als Errungenschaft dargestellt. Man habe endlich flächendeckende »Netzwerke zur Diagnose und Therapie von AD(H)S« geschaffen. Für Eltern und Lehrer machen es diese vermeintlichen Errungenschaften in erster Linie schwieriger, eine unvoreingenommene oder alternative Erklärung zu erhalten. Unkonzentrierte Kinder können dem Label »AD(H)S-krank« kaum noch entgehen. Wenn sich die Eltern auf die Krankheitserklärung einlassen, besteht die Gefahr, dass wesentliche Erziehungsaufgaben für den Rest der Kindheit ungelöst bleiben. Diese trübe Aussicht gilt vielfach für den Rest des Lebens. Das zeigt die steigende Zahl der AD(H)S-Diagnosen bei Erwachsenen. Mediziner sprechen daher gerne von einer unheilbaren, aber lebenslangen Krankheit. Was sie nicht erwähnen: Eltern haben eine Wahl. Sie können diesen Erklärungsweg einschlagen und eine solch düstere Zukunft für ihr Kind akzeptieren. Sie können aber auch verstehen lernen, welche ungelösten Erziehungsaufgaben hinter der »Krankheit« stecken, und sie können diese Aufgaben lösen. Sie sind in dieser Entscheidung völlig frei, denn die Theorie, AD(H)S-Kinder seien unheilbar krank, ist keine unumstößliche Wahrheit. Sie ist nur die eine von zwei Ansichten, die lauter und mit größerem PR-Aufwand vertreten wird. Die Prophezeiung von der Unheilbarkeit erfüllt sich allerdings selbst, wenn Eltern gar keinen anderen Weg einschlagen. Dann bleibt ungetan, was nötig wäre, und die Schwierigkeiten des Kindes verfestigen sich. Es liegt bei Ihnen, ob sich im Leben Ihres Kindes oder Ihres Schülers etwas ändert.

    Kann die Konzentration »krank« sein?

    Das Konstrukt »AD(H)S« erweckt den Eindruck, Konzentration sei eine einzelne Fähigkeit wie Sehen oder Hören, die bei manchen Kindern eben zu schwach ausgeprägt ist. Die Behandlung mit Methylphenidat (z.B. als Ritalin®, Medikinet®) suggeriert, man könnte diese Fähigkeit bei allen unkonzentrierten Kindern und für alle Situationen durch eine körperliche (medikamentöse) Veränderung erzeugen. Entsprechend wird häufig behauptet, das Methylphenidat funktioniere wie eine Brille: Es stelle quasi die Konzentration scharf. Solche marktschreierischen Vergleiche sollten hellhörig machen.

    Basiert AD(H)S auf einer Gehirnstörung?

    Schlagworte wie »Reizfilterschwäche«, »scharf stellen«, »Gehirncomputer« sind publikumswirksam, aber keineswegs angebracht oder treffend. Durch den Vergleich mit technischen Gegenständen erwecken manche Autoren den Eindruck, naturwissenschaftliche Fakten zu verkaufen. Aber wer sich gründlich mit den Erkenntnissen der Neurologie beschäftigt, muss solche platten Slogans ablehnen. Denn gerade die Neurologie zeigt: Das menschliche Gehirn ist unendlich viel komplizierter als eine Brille, eine Kamera oder auch ein Computer. Bis heute ist nicht einmal gesichert, welchen genauen Zweck jedes einzelne Hirnareal hat und welche vielfältigen Funktionen Botenstoffe im Gehirn ausüben. Einig sind sich die Neurologen vor allem in einem Punkt: Das Gehirn ist nicht immer Ursache unseres Verhaltens, sondern unser Verhalten und unser Erleben – also auch und gerade Erziehung und Schule – beeinflussen, was im Gehirn geschieht. Diese Veränderungen sind aber in enorm hohem Maß wieder umkehrbar. Das Gehirn – besonders das kindliche – ist äußerst formbar und flexibel. Und das ist auch gut so.

    Die AD(H)S-Theorie beruht auf einem klassischen, aber erfolglosen medizinischen Modell. Bestimmte Verhaltensweisen werden durch eine Störung in jenem Gehirnbereich erklärt, der während dieser Verhaltensweisen »aktiv« ist (Dönges, 51). Einmal ganz abgesehen davon, dass bis heute kein Gehirnbereich klar umrissen werden kann, der bei AD(H)S-Patienten tatsächlich gestört sei – in der Medizingeschichte hat sich dieses Modell bei allen Verhaltenssyndromen als falsch erwiesen (ebd.). Das Gehirn ist nun einmal kein Bauchredner, der den Menschen wie eine Puppe steuert. Freilich gibt es bei verschiedenen Menschen verschiedene »Muster« von Gehirnaktivitäten. Aber gerade die Neurologie hat auf vielfältige Weise gezeigt, wie Strukturen im Gehirn dadurch entstehen, dass man sich auf bestimmte Weise verhält – und nicht umgekehrt (ebd.). Lehrer und Eltern erkennen das jedesmal an, wenn sie ein Kind fördern, um bei ihm »die Synapsen zu verschalten«: Man lernt, d.h. man tut etwas ganz Bestimmtes, und bewirkt so eine neue und spezielle Struktur im Gehirn. Das gibt es im Guten wie im Schlechten. Wer sich jahreoder gar jahrzehntelang »AD(H)S-krank« verhält, entwickelt charakteristische Hirnstrukturen (Hüther /Bonney 61).

    Lassen Sie sich also nicht mit solchen verfehlten Vergleichen abwimmeln, wenn Sie von einem Arzt oder Therapeuten Genaueres über AD(H)S-Theorien wissen möchten. Häufig geben sich Eltern mit knappen Erklärungen zufrieden, weil ihnen ihr fehlendes medizinisches Wissen ein wenig peinlich ist. Und da klingt es beeindruckend, wenn von einem Botenstoff-Ungleichgewicht, Dopaminpegeln und Gehirnscans die Rede ist. Nicht selten zieht sich der befragte Fachmann oder die eifrige Selbsthilfegruppe durch diese kleinen Glaubenssätze aus der Affäre. Denn in Wirklichkeit gibt es keinen einzigen Beweis für eine körperliche Ursache des »AD(H)S«. Es gibt nur verschiedene Theorien (die ungefähr alle 10 – 15 Jahre wechseln), denen eine Mehrheit von Medizinern anhängt – in der Hoffnung, dass sich diesmal die neue Theorie schon bestätigen wird. Die häufigsten Statements seien hier ganz kurz wiedergegeben. Entgegen häufiger Behauptungen zeigt z.B. die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) keinerlei Unterschiede im Glukosestoffwechsel von Menschen mit und ohne »AD(H)S« (Raschendorfer, 23). Ein Forscher (Alan Zametkin) hatte nach ersten Versuchen 1990 angenommen, Erwachsene, die als Kinder angeblich hyperaktiv waren, hätten teilweise einen geringeren Glukosestoffwechsel im Frontalhirn. Dieses schlecht belegte Zwischenergebnis wurde und wird regelmäßig als Beweis für eine AD(H)S-Gehirnstörung zitiert. Derselbe Forscher zog jedoch 1994 seine eigene Behauptung zurück und sagte ganz klar, dass es »eine Verbindung zwischen ADS und dem gemessenen Hirnstoffwechsel nicht gab« (Dönges, 50). Ähnlich verhält es sich mit der späteren Aussage, Unregelmäßigkeiten im Gehirn von Kindern mit AD(H)S-Diagnose seien ein Beweis für die körperliche Ursache der Krankheit. Man hatte in Gehirnscans Unterschiede zwischen »hyperaktiven« und »normalen« Kindern beobachtet. Das wurde wiederum als Forschungserfolg gefeiert. Es stellte sich jedoch bereits 2001 heraus, dass die beobachteten Veränderungen mit höherer Wahrscheinlichkeit durch die Psychopharmaka verursacht waren, die alle untersuchten Kinder bereits seit längerer Zeit einnahmen (Breggin 2001, 15). Daher kam die bisher bedeutendste Fachkonferenz zum Thema AD(H)S zu folgendem Schluss: »Es gibt keine Daten, die belegen, dass AD(H)S auf einer Fehlfunktion des Gehirns beruht. Es erscheint auch in Zukunft problematisch, die Stichhaltigkeit des Krankheitsbildes durch neue Forschungsergebnisse zu beweisen.« (Breggin 2001, 15). Erst nach der Einflussnahme von AD(H)S-orientierten Ärzten wurde in einem späteren Konferenzbericht ein abgemildertes Statement veröffentlicht (Breggin 2001, 16). Diese einseitige Berichterstattung ist typisch für die Vertreter der AD(H)S-Theorie. Von anderen Wissenschaftlern und von Drogenbeauftragten auf der ganzen Welt wird dieses Vorgehen immer wieder kritisiert, bislang ohne Erfolg.

    Eigentlich sollte diese Sachlage für Eltern keine Überraschung sein. Sie wissen ja aus Erfahrung, dass es gar so simpel nicht ist mit dem »AD(H)S«: Ihr Kind kann sich ja durchaus konzentrieren – auf das Fernsehprogramm, auf den Computer, auf den Wutanfall. Nur nicht auf die Hausaufgaben, auf das Tischdecken, auf den Unterricht. Die Konzentrationsfähigkeit ist also nicht immer gleich, sondern sie wechselt mit dem Gegenstand. Und noch etwas bleibt in der AD(H)S-Welt unklar: Ist nun – wie der Name nahe legt – die Aufmerksamkeit gestört? Oder die Konzentration? Und was ist der Unterschied zwischen beiden?

    Klarheit entsteht nur, wenn man die Zusammenhänge von Aufmerksamkeit, Konzentration und Verhalten gründlich untersucht. Das kann die Medizin nicht leisten. Medizinische Begriffe beschreiben die Natur, das, was ist, und nicht das, was erst noch werden muss. Die Konzentration fällt aber nicht in diesen Bereich. Deshalb braucht man andere, nämlich pädagogische Begriffe, um Konzentration und unkonzentrierte Kinder zu verstehen. Was ist der Unterschied zwischen Konzentration und Aufmerksamkeit? Und warum ist er für die Erziehung wichtig?

    Aufmerksamkeit oder Konzentration?

    Aufmerksamkeit ist dem Menschen von Natur aus gegeben. Aufmerksamkeit bedeutet, sich einem Gegenstand zuzuwenden. Dabei handelt es sich um unwillkürliche Aufmerksamkeit, wenn der Gegenstand mein Interesse geweckt und angeregt hat; und es handelt sich um willkürliche Aufmerksamkeit, wenn ich selbst mein Interesse absichtlich dem Gegenstand zuwende. Beides tun »AD(H)S-Kinder«, es fehlt ihnen also nicht an Aufmerksamkeit. Das Problem ist, dass sie leicht ihre Aufmerksamkeit von den falschen Dingen lenken lassen und sich selbst voreilig den falschen Dingen zuwenden. Sie wechseln zu rasch ihr Interesse. Jede Aufgabe, jeder Lernfortschritt verlangt, dass man länger bei der Sache bleibt, als es der natürlichen Aufmerksamkeit recht ist. Die willkürliche oder unwillkürliche Aufmerksamkeit müsste länger bei einem bestimmten Gegenstand bleiben, als es dem natürlichen Wechsel der Interessen entspricht. Und genau das bedeutet Konzentration – bei allen Kindern.

    Diesen Schritt können Kinder nicht allein vollziehen. Das muss die Erziehung leisten. Der Schritt von der Aufmerksamkeit zur Konzentration ist ein Schritt über das natürlich Gegebene hinaus. Deshalb spielt es auch keine entscheidende Rolle, ob bei einem Kind die Interessen von Natur aus eher schnell oder langsam wechseln. Bei manchen geht das sehr rasch, andere scheint kaum je etwas anzusprechen und zu interessieren. Aber das sind nur graduelle Unterschiede, keine grundsätzlichen. Entscheidend ist, dass Konzentration nicht von Natur aus gegeben ist. Also ist sie auch nicht von Natur aus gestört. Sie entsteht erst, wenn man das Richtige aus dem macht, was einem gegeben ist. Etwas aus dem machen, was ein Kind mitbringt – das ist Erziehung. Konzentrationsaufbau ist deshalb eine Erziehungsaufgabe. Die Konzentration kann also nicht von vornherein »krank« sein. Sehr wohl aber kann sie gestört, ja sogar völlig unentwickelt sein, weil die entsprechenden Erziehungsaufgaben nicht verstanden oder nicht gelöst worden sind.

    Konzentration muss aufgebaut werden

    Es macht keinen grundsätzlichen Unterschied, ob ein Kind tatsächlich ein Erschwernis hat, das seine Aufmerksamkeit besonders unstet oder unempfänglich macht. Es gibt auch keinen medizinischen Grund dafür, das bei AD(H)S anzunehmen. Denn AD(H)S bedeutet ja nur: Das Kind konzentriert sich nicht. Woran das liegt, kann man überhaupt erst feststellen, während man es zur Konzentration erzieht. Und dann ist es schon nebensächlich geworden. Schließlich bleibt die Aufgabe die gleiche. Das Kind muss in jedem Fall lernen, bei der Sache zu bleiben. Sie als Erzieher kommen nicht um die Anstrengung herum, das beim Kind aufzubauen. Das ist Ihr Job – nicht, weil Ihr Kind anders wäre als andere. Sondern weil Sie seine Mutter, sein Vater (ja, sogar: seine Lehrerin oder sein Lehrer) sind und weil es zur Erziehung gehört, jene Dinge aufzubauen, die der Mensch nicht von Natur aus kann.

    Seien Sie nicht voreilig mit dem Glauben, bei Ihrem Kind sei das schwieriger als bei anderen. Sie laufen sonst Gefahr, selbstgerecht und vielleicht auch ein wenig wehleidig zu werden. Beides keine guten Eigenschaften für einen Erzieher. Nutzen Sie die folgenden Kapitel, um genau zu untersuchen, wie weit sie Ihre Erziehungsaufgabe bisher gelöst haben. Wenn Sie dabei feststellen: Wir haben alles richtig gemacht! – dann, und erst dann, dürfen Sie vorsichtig fragen, ob Ihr Kind eine rätselhafte »Konzentrationsstörung« hat. In diesem Fall würde ich übrigens gerne von Ihnen hören, denn das wäre eine Premiere.

    Erzieher müssen sich entscheiden

    Manche Erwachsenen glauben, sie könnten beides versuchen, behandeln und erziehen. Aber das ist eine Selbsttäuschung. Entweder man glaubt, ein unheilbar krankes Kind vor sich zu haben. Oder man glaubt, ein erziehbares Kind zu haben. Beides zugleich geht nicht, und eine konsequente Erziehung ist so nicht möglich. Die typische Folge solcher Zögerlichkeit und innerer Zerrissenheit schildert eine Mutter folgendermaßen:

    An guten Tagen, also wenn ich selbst entspannt bin und wenig Stress habe, kann ich über alles hinwegsehen, selbst die wochenalte dreckige Unterwäsche, die überall auf dem Boden liegt. Dann erinnere ich mich dran, dass mein Sohn eben krank ist, und dass ich Verständnis für ihn haben muss. Aber an schlechten Tagen platzt mir der Kragen. Schließlich ist er schon 17, und ein bisschen muss er sich doch selbst in den Griff kriegen. Ich meine, manche Dinge muss ich doch von einem fast erwachsenen Mann einfach erwarten können. Dann schrei ich ihn an und sag ihm, was er für ein Versager ist, dass er sich noch immer nicht geändert hat. Ich weiß nicht, wie das werden soll, wenn er nun tatsächlich das Medikament unbedingt absetzen will. Bald ist er 18, da kann ich ihm ja nicht reinreden, und er will das Zeug nicht mehr, sagt er.

    Vielen Lehrkräften geht es ähnlich angesichts verbummelter Hausaufgaben, frecher Antworten und unaufmerksamen Verhaltens. Sie müssen sich also entscheiden: nicht zwischen »sanfter« Homöopathie und »harten« Psychopharmaka, sondern zwischen dem Glauben an Krankheit oder Erziehbarkeit. AD(H)S mag unheilbar sein – unerziehbar sind unkonzentrierte Kinder keineswegs. Welche Perspektive wählen Sie gegenüber dem Kind, die hoffnungslose oder die anstrengendere, aber verheißungsvollere? Für die Krankheitsauffassung gibt es – entgegen aller Behauptungen – keine stichhaltigen Belege. Für den Glauben an Erziehbarkeit schon. Zumindest können Sie sich erst dann guten Gewissens gegen die Erziehbarkeit entscheiden, wenn Sie es versucht haben – richtig und ernsthaft versucht. Betrachten Sie die beiden Wege: Wohin die Krankheitsauffassung führt, zeigt Ihnen die einschlägige AD(H)S-Literatur. Kriminalität, Drogenmissbrauch, Teenagerschwangerschaften, große berufliche Schwierigkeiten, chaotische und haltlose Beziehungen werden als typische AD(H)S-Symptome im Erwachsenenalter gedeutet. Sie gehören zum Bild von AD(H)S, und die lebenslange Medikation kann sie ganz offensichtlich nicht verhindern. Wie dieser Weg aussieht, wissen Sie also – den können Sie immer noch beschreiten. Was sollte Sie daran hindern, es erzieherisch zu versuchen? Viel schlechter kann das wohl kaum enden.

    Lassen Sie sich also nicht mit dem guten Vorsatz auf Medikation ein, dass Sie im Lauf der Behandlung schon nachholen würden, was erzieherisch versäumt worden ist. Ein Sprichwort sagt: Der Weg

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