Selbstregulation spielerisch fördern: Ein Manual zur Unterstützung von Eltern
Von Gitta Reuner, Kim Angeles Erdmann, Verena Vetter und
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Selbstregulation spielerisch fördern - Gitta Reuner
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
G. Reuner et al.Selbstregulation spielerisch fördernhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-29918-7_1
1. Einleitung
Gitta Reuner¹ , Kim Erdmann¹ , Verena Vetter¹ , Michaela Schäferling¹ und Silke Hertel¹
(1)
Institut für Bildungswissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg, Deutschland
Gitta Reuner (Korrespondenzautor)
Email: reuner@ibw.uni-heidelberg.de
Kim Erdmann
Email: erdmann@ibw.uni-heidelberg.de
Verena Vetter
Email: verenaclara.vetter@med.uni-heidelberg.de
Michaela Schäferling
Email: michaela.schaeferling@med.uni-heidelberg.de
Silke Hertel
Email: hertel@ibw.uni-heidelberg.de
Gemeinsam spielen, abwarten, zuhören, alleine einschlafen, sich nach Aufregung wieder beruhigen – die Situationen, in denen junge Kinder sich selbstständig regulieren müssen sind vielfältig. Alle, die mit Kindern dieser Altersgruppe in Kontakt kommen, merken schnell, welche Herausforderungen sich dabei stellen können, und zwar für die Kinder ebenso wie für die beteiligten Erwachsenen. Exzessives Schreien, Einschlafprobleme, Angst vor dem Alleinsein oder auch eine sehr eingeschränkte Spielausdauer aufseiten der Kinder und Erschöpfung, Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle bis hin zu depressiven Verstimmungen aufseiten der Eltern können die Folge sein. Mit ihren Sorgen wenden sich die Familien an Fachleute aus dem medizinischen, psychotherapeutischen oder pädagogischen System. Dementsprechend sind Erziehungsberatungsstellen, Kindertagesstätten, Tagespflegestellen oder therapeutische Praxen mit Spezialisierung auf junge Kinder ebenso wie kinderärztliche bzw. kinderpsychotherapeutische Ambulanzen oder Praxen häufig mit Fragen zur Selbstregulationsentwicklung bei Kleinkindern konfrontiert.
Selbstregulation meint die komplexe Fähigkeit sich selbst zu regulieren, also Handlungen flexibel auf ein Ziel hin auszurichten und Impulse zu kontrollieren. In der neurowissenschaftlichen Literatur wird diese Fähigkeit mit dem Überbegriff der „Exekutiven Funktionen" belegt (Diamond 2013; Garon et al. 2008; Hartung et al. 2020; Kubesch 2016; Miyake et al. 2000; Röthlisberger et al. 2010; Zelazo und Müller 2007). Vorläuferfähigkeiten sind bereits im ersten Lebensjahr zu beobachten, z. B. in der Art wie Kinder Spielzeuge fixieren und untersuchen (Focused Attention) oder auch daran, wie schnell sie sich an einen Reiz gewöhnen und von neuen Reizen unterscheiden können (Habituations-Dishabituations-Paradigmen) (Geeraerts et al. 2019; Kavšek 2004; Kavsek und Bornstein 2010; Lawson und Ruff 2004; Petrie Thomas et al. 2012). In einem engen Wechselspiel zwischen biologischen Grundvoraussetzungen, neuronalen Reifungsprozessen (insbesondere von präfrontalen Netzwerken) und Umweltfaktoren entwickeln und spezialisieren sich diese Fähigkeiten bis hin ins Erwachsenenalter. Selbst unter typischen Bedingungen ist die Entwicklung der Selbstregulation bzw. der exekutiven Funktionen ein hoch komplexer Vorgang, der für vorübergehende oder langfristige Probleme anfällig ist. Wenn jedoch – wie nach einer Frühgeburt – eine besondere biologische Ausgangsbedingung vorliegt, ist das Risiko für eine problematische Entwicklung der Selbstregulation umso höher (Montagna und Nosarti 2016). Dieser wissenschaftlich vielfach belegte Umstand begegnete uns auch in der langjährigen klinischen Arbeit mit Risikokindern. Spätestens seitdem in Deutschland regelhaft für sehr unreif geborene Kinder im Alter von korrigiert 24 Monaten eine entwicklungsneurologische Nachsorge vorgesehen ist (AWMF 2019), sind Fachpersonen mit den Fragen von Familien konfrontiert, wie sie ihre gerade zweijährigen frühgeborenen Kinder in diesem Bereich gut unterstützen können. Falls bereits deutliche Störungen erkennbar sind, können psychotherapeutische Angebote wie Eltern-Kind-Sprechstunden oder Spezialsprechstunden für Regulationsstörungen empfohlen werden. Eine präventive Intervention, die zudem nicht nur für die einzelne Familie, sondern für eine Gruppe konzipiert ist, lag jedoch für diese Altersgruppe bisher nicht vor. Gleichzeitig sind aus anderen Kontexten der hohe Nutzen und die Wirksamkeit von präventiven Gruppenansätzen bestens bekannt.
Das vorliegende Manual trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen. Es ist das Ergebnis eines mehrjährigen intensiven Prozesses, an dem viele Personen mitgewirkt haben. Als Ausgangspunkt konnten wir an Vorarbeiten der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Silke Hertel zu einem Elterntraining für Kleinkinder (FILU – Feinfühlige Interaktionsgestaltung und Gestaltung von Lernumgebungen im Elternhaus) anknüpfen (Hertel et al. 2014). Die Entwicklung des Programms für Eltern von zwei- bis dreijährigen Kindern mit dem Schwerpunkt Frühgeburt nahm seinen Ursprung in einer gemeinsamen Idee von Prof. Dr. Silke Hertel (Institut für Bildungswissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) und Prof. Dr. Gitta Reuner (damals Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinik Heidelberg). Die Arbeitsgruppe, die sich daraus entwickelte, arbeitete mehrere Jahre kooperativ an beiden Standorten intensiv an der Entwicklung und Evaluation des Programms. Von den intensiven Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachdisziplinen (Pädagogik, Psychologie, Ergotherapie, Medizin und einige mehr) haben wir sehr profitiert.
Allen Familien, die an den Kursen während der Evaluations-Studie teilnahmen, danken wir herzlich für ihre Unterstützung, Zeit und die vielen Vorschläge und Rückmeldungen. Sie haben ganz wesentlich zur Gestalt des Elternprogrammes beigetragen.
Für die ansprechende Gestaltung der Illustrationen bedanken wir uns herzlich bei Katharina Staar.
Unser besonderer Dank gilt der Dietmar Hopp Stiftung für ihre langjährige, äußerst großzügige Förderung und Unterstützung in allen Phasen des Projektes.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und der Tatsache, dass in den Bereichen Psychologie, Therapie und Pädagogik sowie verwandten Arbeitsfeldern überwiegend Frauen praktizieren, wird im vorliegenden Manual die feminine Form verwendet und auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung verzichtet. Die verwendeten Personenbezeichnungen sind jedoch geschlechtsneutral zu betrachten.
Heidelberg, September 2020
Gitta Reuner, Kim Erdmann, Verena Vetter, Michaela Schäferling und Silke Hertel (das Autorinnen-Team).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
G. Reuner et al.Selbstregulation spielerisch fördernhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-29918-7_2
2. Selbstregulation
Gitta Reuner¹ , Kim Erdmann¹ , Verena Vetter¹ , Michaela Schäferling¹ und Silke Hertel¹
(1)
Institut für Bildungswissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg, Deutschland
Gitta Reuner (Korrespondenzautor)
Email: reuner@ibw.uni-heidelberg.de
Kim Erdmann
Email: erdmann@ibw.uni-heidelberg.de
Verena Vetter
Email: verenaclara.vetter@med.uni-heidelberg.de
Michaela Schäferling
Email: michaela.schaeferling@med.uni-heidelberg.de
Silke Hertel
Email: hertel@ibw.uni-heidelberg.de
2.1 Entwicklung der Selbstregulation
2.2 Rolle der Selbstregulation für Entwicklungsprozesse
2.1 Entwicklung der Selbstregulation
Im Alltag sind wir häufig gefordert, unsere Gefühle zu regulieren, unsere Gedanken zu steuern und unser Handeln zu kontrollieren. So müssen wir in der Lage sein, eigene Ängste oder Aggressionen zu beherrschen, Probleme gründlich zu durchdenken, unsere Bedürfnisse aufzuschieben oder uns zu motivieren, unleidige Aufgaben anzugehen. Vorläuferfähigkeiten dieser komplexen sogenannten Exekutiven Funktionen sind bereits im ersten Lebensjahr zu beobachten und entwickeln sich über die Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter in engem Wechselspiel mit der neuronalen Reifung, insbesondere von präfrontalen kortikalen Netzwerken (Anderson et al. 2010; Gao et al. 2017; Gogtay et al. 2004). Zur Regulation von kognitiven und emotionalen Prozessen lassen sich im Verlauf Spezialisierungen von kortikalen Netzwerken ausmachen, je nachdem ob eher kognitive (kalte) oder eher emotionale (heiße) Regulation erforderlich ist. Dementsprechend unterscheiden einige Autoren zwischen „heißer Selbstregulation, die vorwiegend mit der Aktivierung ventraler präfrontaler Areale verbunden ist, während bei der „kalten Selbstregulation
von Denkprozessen eher dorso-laterale Areale aktiviert sind (Kubesch 2016; Montroy et al. 2019; O’Toole et al. 2019; Peterson und Welsh 2014; Zelazo und Carlson 2012; Zelazo und Cunningham 2007).
Die Fähigkeit zur Selbstregulation hat somit ihre Ursprünge in der frühen Kindheit und entwickelt sich bis in die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter hinein weiter. Die enorme Entwicklung der Selbstregulation in der frühen Kindheit vollzieht sich dabei in engem Wechselspiel mit biologischen Reifungsprozessen neuronaler Strukturen, insbesondere im präfrontalen Kortex, als auch mit Umweltfaktoren, wie dem elterlichen Unterstützungsverhalten (Fay-Stammbach et al. 2014; Langner et al. 2018; Valcan et al. 2017). Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass Eltern eine co-regulative Funktion einnehmen und das Kind im Übergang von externaler Regulation durch die Bezugsperson hin zu einer vermehrt internalen Selbstregulation durch das Kind unterstützen. Co-Regulation findet dabei sowohl im emotionalen (z. B. Umgang mit Frustration, Ärger) als auch kognitiven Bereich (z. B. Lenkung der Aufmerksamkeit, Problemlösen) statt. Eine Vielzahl an Forschungsbefunden deuten auf den positiven Einfluss eines feinfühligen Verhaltens der Eltern für die Entwicklung der Selbstregulation in der frühen Kindheit hin. Neuere Studien heben zudem das elterliche Scaffolding-Verhalten (aus dem Englischen = Gerüstbau), d. h. die angemessene Unterstützung bei der Bewältigung herausfordernder Aufgaben, als positiven Prädiktor für Selbstregulationsfähigkeiten in der frühen Kindheit hervor (Bernier et al. 2012; Bernier et al. 2010; Blair et al. 2011; Bridgett et al. 2018; Demetriou 2000; Eisenberg et al. 2011; Hammond et al. 2012; Hughes und Devine 2019; Kopp 1982; Valcan et al. 2017).
2.2 Rolle der Selbstregulation für Entwicklungsprozesse
Aktuelle Studien widmen sich vor allem der Bedeutung von selbstregulatorischen Fähigkeiten für unterschiedliche Lebensbereiche und Lernprozesse.
So finden sich im akademischen Bereich Zusammenhänge zwischen Selbstregulationsfähigkeiten und Lernleistungen in Mathematik, im Lesen und Schreiben sowie in den Naturwissenschaften und in Sozialkunde (Blair und Razza 2007; Blair et al. 2015; Bull et al. 2008, 2011; Cantin et al. 2016; Clark Caron et al. 2012; Latzman et al. 2010; Neuenschwander et al. 2012; van der Sluis et al. 2007).
Selbstregulatorische Fähigkeiten beeinflussen auch die sozial-emotionale Entwicklung. So finden sich enge Zusammenhänge mit dem sozialen Verständnis von Kindern, ihren sozial-emotionalen Kompetenzen und der Beziehungsqualität zu Gleichaltrigen (Brandstätter et al. 2018; Carlson et al. 2004; Carlson und Moses 2001; Eisenberg et al. 2007; Eisenberg et al. 2011; Holmes et al. 2016; Hughes und Ensor 2007; Mähler et al. 2017; Rhoades et al. 2009; Zorza et al. 2019).
Bezogen auf die psychische Gesundheit werden geringe Selbstregulationsfähigkeiten in Zusammenhang mit dem Auftreten einer Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung gesehen sowie mit pathologischem externalisierendem und internalisierendem Verhalten (Espy et al. 2011; Johnson et al. 2015; Morgan et al. 2019; Wirth et al. 2015).
Eine bemerkenswerte Studie – die „Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study" – zeigt auf, dass selbstregulatorische Fähigkeiten für viele Entwicklungsbereiche von höchster Relevanz sind. Im Rahmen dieser Studie wurden über einen Zeitraum von 32 Jahren ca. 1000 Kinder, die 1972 und 1973 in der Stadt Dunedin in Neuseeland geboren wurden, in ihrer Entwicklung begleitet. Anhand der umfangreichen längsschnittlichen Daten konnte demonstriert werden, dass diejenigen Kinder, die im Alter zwischen drei und elf Jahren besser abwarten konnten, sich nicht so leicht ablenken ließen, ausdauernder bei der Bearbeitung von Aufgaben waren und seltener impulsiv handelten, die Herausforderungen des Erwachsenwerdens besser zu meistern schienen. Sie gingen als Teenager mit größerer Wahrscheinlichkeit noch in die Schule, trafen weniger riskante Entscheidungen und griffen seltener zu