ECHT STARK! Ein Manual für die Arbeit mit Kindern psychisch kranker und suchtkranker Eltern
Von Ulrike M.E. Schulze, Katrin Kliegl, Christine Mauser und
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Über dieses E-Book
Das vorliegende Manual dient als Leitfaden für die Durchführung eines ressourcen-orientierten Gruppenangebots für Kinder von psychisch kranken und/oder suchtkranken Eltern.
Es wendet sich an professionelle Helfer, also Mitarbeiter in psychologischen Beratungsstellen bzw. Erziehungsberatungsstellen, kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen bzw. Einrichtungen der Suchthilfe oder Selbsthilfeeinrichtungen. Die einzelnen Module können ebenso im Rahmen der Jugendhilfe oder als Grundlage in der therapeutischen Angehörigenarbeit in psychiatrischen und psychosomatischen Fach- oder Rehabilitationskliniken eingesetzt werden.
Neben wertvollen Hintergrundinformationen und Literaturhinweisen enthalten die einzelnen Module – schwerpunktmäßig und getrennt für Kinder- und Jugendlichengruppen – Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur altersgerechten Vermittlung spezifischer Inhalte zu psychischen und Suchterkrankungen, eine Formulierung der mit den einzelnen Gruppenstunden verbundenen Ziele sowie Hausaufgaben für die Kinder zur weiteren Bearbeitung einer für sie lebensbestimmenden Thematik. Ein weiteres ausführliches Kapitel ist der Elternarbeit gewidmet.
In dem vorliegenden Buch finden sich in handlungsorientierter Weise nicht nur konkrete Handlungsvogaben, ansprechende Materialien und wichtige Links, sondern auch erfahrungsgeleitete Anregungen und Tipps im Hinblick auf eine gelingende professionelle Netzwerkarbeit, sowie angemessene Gesprächsführung, einen sensiblen Umgang mit den betroffenen Familien, die Durchführung von Elternabenden, jedoch auch eine Auflistung möglicher „Stolpersteine“ in der Arbeit mit einer besonderen Zielgruppe.
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Buchvorschau
ECHT STARK! Ein Manual für die Arbeit mit Kindern psychisch kranker und suchtkranker Eltern - Ulrike M.E. Schulze
Teil 1
Theoretischer Teil
Ulrike M.E. Schulze, Katrin Kliegl, Christine Mauser, Marianne Rapp, Marc Allroggen und Jörg M. FegertECHT STARK! Ein Manual für die Arbeit mit Kindern psychisch kranker und suchtkranker Eltern201410.1007/978-3-642-44925-3_1
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
1. Grundlagen
Ulrike M. E. Schulze¹ , Katrin Kliegl² , Christine Mauser³ , Marianne Rapp⁴ , Marc Allroggen¹ und Jörg M. Fegert¹
(1)
Klinik f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland
(2)
Institut f. Psychologie u. Pädagogik Allgemeine Psychologie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland
(3)
Psychol. Beratungsstelle f. Eltern, Kinder u. Jugendl., Achern, Deutschland
(4)
Scheyern, Deutschland
Ulrike M. E. Schulze (Korrespondenzautor)
Email: Ulrike.Schulze@uniklinik-ulm.de
Katrin Kliegl
Email: katrin.kliegl@uni-ulm.de
Christine Mauser
Email: christine-mauser@web.de
Marianne Rapp
Email: Dipl.Psychologin.Marianne.Rapp@gmail.com
Marc Allroggen
Email: marc.allroggen@uniklinik-ulm.de
Jörg M. Fegert
Email: joerg.fegert@uniklinik-ulm.de
Zusammenfassung
Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern wachsen nicht nur unter besonderen Bedingungen auf. Ähnlich wie ihre Eltern vermeiden sie – aus Angst vor möglichen negativen Konsequenzen für ihre Familie – mit Dritten offen über ihr Zuhause und damit verbundene Sorgen und Nöte zu sprechen. Darüber hinaus ist ihnen meist nicht bewusst, dass sie mit ihren besonderen Lebensbedingungen eigentlich viel weniger allein sind, als sie denken. Das Risiko, selbst später zu erkranken, ist bei diesen Kindern erhöht; sie tragen eine biologisch bedingte Vulnerabilität in sich. Diese kommt jedoch häufig erst dann zum Tragen, wenn zahlreiche Risikofaktoren im Laufe einer persönlichen Entwicklung zusammenkommen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass eine Förderung von individuellen, familiären und umweltbezogenen Schutzfaktoren und Resilienz sehr wohl eine gesunde Entwicklung und Stabilität bedingen oder zumindest positiv beeinflussen kann.
1.1 Lebenssituation von Kindern psychisch kranker und suchtkranker Eltern
Es ist keinesfalls ungewöhnlich, als Kind in eine Familie mit psychischer Erkrankung und/oder Suchtbelastung hineingeboren zu werden und in dieser aufzuwachsen. Ungewöhnlich ist es vielmehr, sich diesbezüglich der Umwelt gegenüber zu öffnen und hierüber ohne Scheu auszutauschen. Die Verunsicherung ist häufig viel zu groß, die Angst vor einer Stigmatisierung nicht unbeträchtlich.
Und dabei sind weder psychische Störungen noch Suchterkrankungen selten. Häufig treten sie gemeinsam auf bzw. kommt es bei gleichzeitigem Vorhandensein zu Wechselwirkungen oder einer Verstärkung der jeweiligen Symptome.
Kinder erleben ihre Eltern in deren Anderssein oder wechselnden Stimmungen und Verhaltensweisen, die teilweise befremdlich, ängstigend und bedrückend sind oder Scham- und Verlassenheitsgefühle erzeugen. Die elterliche Erkrankung stellt einen Teil ihrer Lebensrealität dar. Hier erleben sie sich recht bald anders als ihre Altersgenossen, ohne dies genauer einordnen zu können.
Elterliche Erkrankung als Lebensrealität des Kindes
Klinikaufenthalte des erkrankten Elternteils – oder beider kranker Eltern – wollen erklärt sein. Sie unterbrechen den gewohnten Alltag und verlangen den Kindern meist ein hohes Maß an Flexibilität und Aushalten-Können ab. Unter Umständen kommt es zu einem Wechsel von Bezugspersonen auf unbestimmte Zeit, Besuche im Krankenhaus können gefühlsmäßig nicht einfach „weggesteckt" werden. Häufig ist nicht sicher und absehbar, wann Mama oder Papa wieder nach Hause kommt und wie es ihr oder ihm dann geht.
Psychische Störungen oder Suchterkrankungen führen oftmals zu psychosozialen Einschnitten das gesamte Familienleben betreffend: Beziehungen der Erwachsenen brechen auseinander, Freundschaften halten dieser besonderen Art von Belastung nicht uneingeschränkt stand, der Arbeitsplatz geht verloren, die finanziellen Verhältnisse verschlechtern sich gegebenenfalls. Diese möglichen Einschränkungen hinsichtlich basaler Lebenskomponenten ist für die Kinder mit Verunsicherung, vermutlich auf mehreren Ebenen, verbunden: Sie leben dann mit einem Zuwenig an Kontinuität, Verlässlichkeit und auch an Möglichkeiten, schwierigen Situationen zumindest vorübergehend ausweichen oder gar „entkommen" zu können, um wieder Kraft und Lebensfreude zu tanken.
Des Weiteren kommt es nicht selten zur Rollenumkehr: Kinder übernehmen Verantwortung dort, wo sie es eigentlich noch gar nicht leisten können. Mit feinen Antennen erspüren sie jegliche Änderung in der Befindlichkeit ihrer kranken Eltern und versuchen zu kompensieren, wo immer es ihnen möglich ist. Diese „Gabe" erschwert es ihnen dann möglicherweise im Laufe ihrer eigenen weiteren Entwicklung bzw. im Erwachsenenalter, Herausforderungen im Berufs- oder Beziehungsleben standzuhalten, selbstbewusst und unbekümmert durchs Leben zu gehen, was nicht betroffenen Altersgenossen eher mühelos gelingt.
Zu viel Verantwortung lastet auf den Schultern der Kinder
Manchmal schränkt die Erkrankung den kranken Elternteil dermaßen ein, dass ein gemeinsames Leben vorübergehend oder längerfristig nicht möglich ist und z. B. die Unterbringung des Kindes/der Kinder in einer Pflegefamilie notwendig wird. Dies schmerzt (auch wenn hiermit viel positive Erfahrung verbunden sein kann), nicht zuletzt aufgrund der zugrunde liegenden Notwendigkeit, auf beiden Seiten.
1.2 Epidemiologie
Statistiken und Schätzungen zu Häufigkeiten von psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen in Familien verdeutlichen, dass in einer Schulklasse von 30 Kindern oder Jugendlichen mindestens drei von ihnen „im selben Boot sitzen" – meist ohne dies zu wissen.
Wie dem Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) aus dem Jahre 2010 zu entnehmen ist, gibt es in Deutschland mindestens 2–3 Mio. Kinder mit mindestens einem kranken Elternteil. Jährlich machen 175.000 Kinder die Erfahrung, dass sich die Mutter oder der Vater in stationärer psychiatrischer Behandlung befindet. Ein Drittel der Patienten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stammt aus einer Familie mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil, während die Hälfte aller abhängigen Jugendlichen und jungen Heranwachsenden zumindest ein alkoholkrankes Elternteil hat. Dies gewinnt vor dem Hintergrund, dass immerhin 10–15 % der Kinder bis 18 Jahre von einer elterlichen Alkoholerkrankung betroffen sind und 0,1–0,5 % drogenabhängige Eltern haben, an Gewicht.
Einer repräsentativen Erhebung der Universitätsklinik in Marburg (Mattejat u. Remschmidt 2008) zufolge leiden knapp 20 % der Väter kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten an einer Suchterkrankung, während ca. 10 % der Mütter an einer affektiven Störung ( Depression/ Manie) erkrankt sind. Auch suizidale Handlungen (3,8 %) durch Mutter oder Vater spielen eine nicht unerhebliche Rolle.
Sie können in der weiteren Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu behandlungsbedürftigen emotionalen Krisen sowie in einer länger anhaltenden Summation multipler Belastungsfaktoren zur Manifestation psychischer Erkrankungen führen. So erkranken entsprechend den Angaben der AGJ (2010) zwei Drittel der Kinder schwer depressiver Eltern ebenfalls an einer depressiven Störung, während laut Mattejat und Remschmidt (2008) bei Kindern depressiver Eltern das Risiko, eine affektive Störung zu entwickeln, 1,75-mal höher liegt als bei Kindern mit gesunden Eltern.
Bei betroffenen Kinder manifestieren sich häufig eigene psychische Erkrankungen
1.3 Risiko- und Schutzfaktoren
Eine psychische Erkrankung oder Suchterkrankung von Eltern stellt einen bedeutsamen Risikofaktor für die Entstehung von psychischen Störungen sowie ungünstigen Entwicklungsverläufen bei Kindern und Jugendlichen dar. Kinder psychisch kranker Eltern haben häufig eine geringere Lebensqualität als Gleichaltrige, deren Eltern unter keiner psychischen Erkrankung leiden (Wiegand-Grefe et al. 2013). Allerdings ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht hinreichend geklärt, welche spezifischen Aspekte mit dem Risikofaktor „psychische Erkrankung eines Elternteils" verbunden sind und warum es manchen Kinder gelingt, trotz der bestehenden Belastungen keine bedeutsame Beeinträchtigung zu zeigen, sie also resilient sind (Cicchetti 2010).
Mittlerweile sind eine Vielzahl von Faktoren beschrieben worden, die mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen verbunden sind. Neben biologischen Risikofaktoren, wie einer genetischen Prädisposition und ungünstigen kindlichen Temperaments- und Charaktereigenschaften, sind zahlreiche psychosoziale Risikofaktoren identifiziert worden (Ihle et al. 2002). Dabei steigt mit der Anzahl der Risikofaktoren auch die Wahrscheinlichkeit für psychopathologische Auffälligkeiten (Ravens-Sieberer et al. 2007). Eine Zusammenfassung von Faktoren, die mit dem Auftreten psychischer Störungen assoziiert sind, findet sich in der nachfolgenden Übersicht.
Psychosoziale Risikofaktoren
Niedriger sozioökonomischer Status
Mütterliche Berufstätigkeit im 1. Lebensjahr
Schlechte Schulbildung der Eltern
Große Familien und sehr wenig Wohnraum
Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle"
Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils
Chronische Disharmonie/Beziehungspathologie in der Familie
Psychische Störungen der Mutter/des Vaters
Unerwünschtheit des Kindes
Alleinerziehende Mutter/alleinerziehender Vater
Autoritäres väterliches Verhalten
Sexueller Missbrauch und/oder Misshandlung
Verlust der Mutter/des Vaters
Häufige wechselnde frühe Beziehungspersonen
Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen
Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate
Uneheliche Geburt
Bei der näheren Betrachtung des Risikofaktors „psychische Erkrankung eines Elternteils" wird deutlich, dass dieser einen Einfluss auf zahlreichen Ebenen hat. Einerseits besteht beim Kind ein genetisch bedingtes erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung, wenn ein Elternteil erkrankt ist, andererseits sind jedoch die Zusammenhänge zwischen Genetik und Umwelt ausgesprochen komplex, sodass Umweltfaktoren, aber auch individuellen Schutzfaktoren dabei eine hohe Bedeutung zukommt (Cicchetti u. Rogosch 2012). Kinder, deren Eltern unter einer Schizophrenie oder Depression leiden, haben nicht nur ein erhöhtes spezifisches Erkrankungsrisiko für diese Erkrankungen, sondern auch für weitere Störungen, z. B. Angststörungen, Substanzmissbrauch oder externalisierende Störungen (Remschmidt u. Mattejat 1994; Weissman et al. 2006; Hirshfeld-Becker et al. 2012).
Komplexe Zusammenhänge zwischen Genetik, Umwelt und Schutzfaktoren
Unabhängig von einem erhöhten genetischen Risiko sind mit einer psychischen Erkrankung von Eltern weitere Ebenen potenzieller Risikofaktoren betroffen. Auf individueller Elternebene kann mit der Erkrankung beispielsweise eine verminderte emotionale Ansprechbarkeit des Elternteils verbunden sein, Antriebsdefizite können die konkrete Versorgung des Kindes gefährden oder es kommt zu einem vermehrten Ausdruck von Feindseligkeit gegenüber dem Kind (Mattejat u. Wüthrich 2000). Gleichzeitig sind auf psychosozialer Ebene mit einer psychischen Erkrankung der Eltern oft weitere möglicherweise beeinträchtigende Faktoren verbunden, z. B. Trennungen der Eltern, Arbeitslosigkeit, niedriger sozioökonomischer Status oder längere Abwesenheit eines Elternteils aufgrund von Behandlungen. Auch verhindert eine psychische Erkrankung oft die Installation wirksamer Hilfe – aus Ängsten vor Stigmatisierung oder vor der Herausnahme der Kinder aus der Familie, obwohl die Familien prinzipiell an Unterstützung interessiert sind (Stadelmann et al.