Systemisch unterrichten: Fachunterricht prozessorientiert gestalten
Von Johannes Schwehm
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Buchvorschau
Systemisch unterrichten - Johannes Schwehm
Deutschland.
1 Systemisches Denken und Handeln – was bedeutet das?
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kommen mittlerweile systemische Theorien, Methoden und Techniken in einer ganzen Reihe von beruflichen Feldern zur Anwendung. Im Folgenden wird nicht der Anspruch erhoben, einen detaillierten Überblick über diese zahlreichen Felder – u. a. Psychotherapie, Beratung, Organisationsentwicklung und Pädagogik – zu geben. Es werden dagegen die Ursprünge systemischen Denkens beschrieben (1.1) sowie die zentralen Konzepte, die in den unterschiedlichen Anwendungsfeldern als Hintergrundannahmen systemischen Denkens fungieren, erläutert (1.2).
Ein solch abstrakter und theoretisch anspruchsvoller Zugriff führt beinahe zwangsläufig dazu, dass gewisse Verallgemeinerungen in der Darstellung nicht ausbleiben; haben sich doch innerhalb des systemischen Feldes unterschiedliche Schulen und Traditionen herausgebildet, die an dieser Stelle nicht in allen Details ausdifferenziert dargestellt werden können. Von einem theorieorientierten Vergleich unterschiedlicher pädagogischer und didaktischer Ansätze innerhalb des systemischen Paradigmas wird bewusst abgesehen, da das Erkenntnisinteresse letztlich auf einen praktischen Mehrwert gerichtet ist – was ist systemisches Denken, und wie kann es für Unterrichtsentwicklung nutzbar gemacht werden? – und weniger auf die Aufbereitung (primär) akademischer Kontroversen. Insofern wird die Bandbreite systemischen Denkens im weberschen Sinne eines Idealtyps entwickelt und nicht als ein logisch möglichst widerspruchfreies Gesamtkonstrukt systematisch aufeinander bezogener Einzelaussagen.
1.1 Ursprünge und wissenschaftliche Bezugspunkte
Systemisch-konstruktivistisches Denken wurde von einer Vielzahl von Forschern im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (u. a. Ethnologie, Soziologie, [Neuro-]Biologie, Computerlinguistik, Physik, Psychologie, Philosophie), zum Teil parallel und unabhängig voneinander, zum Teil aber auch stark aufeinander Bezug nehmend und damit in transdisziplinären Kontexten, entwickelt. Ein besonders bekanntes Beispiel im deutschen Sprachraum für den zuletzt genannten Bereich ist das Aufgreifen und die Nutzbarmachung der Theorie autopoietischer Systeme für die Gesellschaftswissenschaften durch Niklas Luhmann (vgl. 1984). Diese Theorie war zunächst in den 1970er- und 1980er-Jahren von den beiden Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela entwickelt. Ihr gemeinsames Werk El árbol del conocimiento (1984) (dt. 1990: Der Baum der Erkenntnis) gilt bis heute als eines der grundlegenden Werke systemischen Denkens.
Als Pioniere des systemischen Ansatzes werden vielfach eine Reihe von Kybernetikforschern genannt, die zwischen 1946 und 1953 im Rahmen der sogenannten Macy-Konferenzen in den USA zusammenfanden.⁴ Als für den deutschsprachigen Raum wirkmächtigste Teilnehmer dieser Konferenzen gelten heute Gregory Bateson, Heinz von Foerster, Kurt Lewin, Paul Lazarsfeld, Margaret Mead sowie Norbert Wiener.
Interessanterweise lässt sich weder eine einzelne Disziplin im Sinne einer Leitwissenschaft in besonderer Weise mit dem systemischen Denken identifizieren, noch lässt sich dieses Denken auf einen bestimmten Wissenschaftsbereich einschränken. So stellt systemischkonstruktivistisches Denken eine erkenntnistheoretische Strömung dar, die sowohl von Natur-, von Geistes- als auch von Sozialwissenschaftlern getragen und fortentwickelt wird.
Horst Siebert (2008, S. 39) veranschaulicht die multidisziplinäre Herkunft des systemischen Ansatzes grafisch, indem er die verschiedenen Strömungen rautenförmig anordnet, wobei die einzelnen Felder keine bestimmte Reihen- oder Rangfolge abbilden, sondern beliebig angeordnet sind (s. Abb. 1).
Systemisches Denken lässt sich als eine erkenntniskritische Metatheorie begreifen, die gezielt wissenschaftstheoretische Grundlagen reflektiert und versucht, Alternativen zu insbesondere in den Naturwissenschaften verbreiteten Realitätskonstruktionen und Wirklichkeitsvorstellungen bereitstellen. Anstelle tradierter Forschungsbemühungen im Rahmen disziplinspezifischer Paradigmen (Kuhn 1976) und des Aufspürens kausaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge interessiert sich systemisches Denken für »Muster, die verbinden« (Bateson 1987, S. 15), um den vielfältigen Bezügen, Vernetzungen und Feedbackprozessen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Phänomenen auf den Grund gehen zu können. Lutterer (2011, S. 108) stellt zudem heraus, dass im Gegensatz zum empirisch-analytischen Ansatz insbesondere die Gründerväter systemischen Denkens (u. a. Bateson, von Foerster und von Glasersfeld) den Anspruch vertreten, soziale Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern auch zu verändern.
Abb. 1: Multidisziplinäre Herkunft systemisch-konstruktivistischen Denkens (Siebert 2008, S. 39)
Die disziplinäre Vielfalt erfüllt für systemisch-konstruktivistisches Denken insofern eine spezifische Funktion, da sie den Ansatz offenhält für neue Impulse aus einer Vielzahl von Richtungen und Professionen. Im Effekt entzieht sich systemisches Denken damit einer forschungsorganisatorischen »Einhegung« durch wissenschaftsdisziplinenspezifische Paradigmen und Forschungsprogramme im Sinne Kuhns (1976):
»Ein Wesensmerkmal der wissenschaftlichen Grundlegung des systemischen Ansatzes liegt jedoch darin, dass Wissen nicht als einheitlicher, widerspruchsfreier Kanon theoretischer und praxeologischer Konzepte, sondern als sich selbst ständig infrage stellende soziale und kommunikative Praxis verstanden wird, die sich in einer Vielzahl von unterschiedlichen Facetten, Bezugnahmen und Entwicklungsrichtungen entfaltet« (Levold u. Wirsching 2014, S. 11).
Für ein vertiefendes Verständnis des systemischen Ansatzes sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Verweis auf eine »soziale und kommunikative Praxis« sich auch reflexiv auf die Gestalt des vorliegenden Textes beziehen ließe; sind diesem doch Grenzen durch seine spezifische Form gesetzt, systemisches Denken tatsächlich erfahrbar – in einem mehr als kognitiven Sinne – werden zu lassen. Zwar können unbestreitbar bestimmte Aspekte theoretisch erläutert und möglicherweise auch plausibel begründet werden. Während des Verfassens des vorliegenden Manuskripts stellte sich jedoch auch der Eindruck ein, dass sich einem ohne ein tatsächliches Erleben systemischer Praxis die eigentlichen Potenziale dieses Ansatzes nur bedingt erschließen.
1.2 Begriffsklärung und Schlüsselkonzepte
»Systemisches Denken« oder auch »Systemik« ist trotz der Popularität, die dieser Ansatz gegenwärtig genießt, nicht im Sinne naturwissenschaftlicher Präzision definierbar. So kann mit dem Begriff »systemisch« gleichermaßen rekurriert werden auf erkenntnistheoretische Vorannahmen, die Charakteristika einer professionellen Haltung, bestimmte methodische Aspekte sowie auf spezifische Kommunikationstechniken.
In einer ersten Annäherung lässt sich festhalten, dass der Begriff »systemisch« der Terminologie der Autopoise und der Kybernetik entlehnt ist. Mit dem Adjektiv »systemisch« kann grundsätzlich nach den Beziehungen zwischen den Elementen eines geschlossenen Systems bzw. nach dem Verhältnis einzelner Elemente zum Systemganzen gefragt werden. Als »System« lässt sich dann jede Gruppe von Elementen bezeichnen, die gemeinsam von einer Umwelt abgegrenzt werden kann und durch Interaktionen miteinander verbunden ist (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 31).
Grundsätzlich lassen sich lebende von unbelebten Systemen von einander unterscheiden. Lebende Systeme werden nicht als statisch, sondern als permanent in Bewegung, d. h. als kontinuierlich sich im Prozess befindend, begriffen. Hervorzuheben ist hier die Bedeutung der Vernetzung und der Kommunikation. Denn streng genommen ist es nicht nur so, dass sowohl Systemelemente untereinander als auch verschiedene Systeme miteinander kommunizieren können, sondern dass sich weder die Elemente eines Systems noch die Systeme selbst Kommunikationsprozessen entziehen können. Da auch der Abbruch bzw. der bewusste Verzicht auf die Fortsetzung von Interaktionsprozessen als besondere Form von Kommunikation gedeutet werden kann, verbleibt den Systemelementen keine Wahl: Sie können »nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick, Beavin und Jackson 1969, S. 53).
Innerhalb der Gruppe der lebenden Systeme, für die sich die Systemik in besonderer Weise interessiert, ist es in dreifacher Hinsicht sinnvoll zu differenzieren, nämlich zwischen »lebenden Systemen im Allgemeinen« (allen Organismen), »psychischen Systemen« (Organismen mit Bewusstsein) sowie »sozialen Systemen« (psychischen Systemen im Austausch miteinander) (vgl. Renoldner, Scala u. Rabenstein 2007, S. 55). Demzufolge lassen sich Schüler, Eltern und Lehrkräfte – sofern sie als Einzelpersonen auf der individuellen Ebene betrachtet werden – als psychische Systeme beschreiben; Lerngruppen, Kollegien oder Familien entsprechend als soziale Systeme.
Häufig stößt man in der systemischen Literatur – und dies mag auf den ersten Blick verwirren – allerdings auch auf Beschreibungen, die Individuen als »biopsychosoziale« Systeme charakterisieren (s. zum Beispiel Schiepek, Eckert u. Kravanja 2013, S. 10). Dies meint man dann nicht in Abgrenzung gegenüber unbelebten oder sozialen Systemen (Gruppen psychischer Systeme), sondern man tut es, um unterschiedliche Ebenen menschlichen Erlebens – Kognition, Emotion und Körperwahrnehmung – voneinander abzugrenzen bzw. um zu verdeutlichen, dass Individuen immer auch in sozialen Austauschbeziehungen mit anderen stehen und ihr Verhalten daher jeweils kontextspezifisch gesehen und gedeutet werden muss.
Im Fortgang des Kapitels soll der inhaltliche Kern systemischen Denkens mithilfe von sechs Schlüsselkonzepten näher bestimmt werden, dies sind: »Konstruktivistische Erkenntnistheorie« (1.2.1), »Autopoietische Systeme« (1.2.2), »Zirkuläre Kausalität« (1.2.3), »Umwelt und Kontext« (1.2.4), »Lösungsorientierung und Salutogenese« (1.2.5) sowie »Hypnosystemische Erlebenszustände und evokative Kommunikation« (1.2.6).
Es sei erwähnt, dass sich in der Literatur verschiedene Alternativen finden, den Besonderheiten des systemischen Denkens auf die Spur zu kommen. So unterscheidet beispielsweise Siebert (2008, S. 17–38) zwischen fünf Schlüsselbegriffen: »Beobachtung«, »Selbstorganisation«, »Systemik«, »Viabilität« und »Struktureller Koppelung«. Arnold (2007, S. 80ff.) dagegen erschließt die systemischen Grundlagen mithilfe einer Reihe einprägsamer Zitate: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners!« (Heinz von Foerster), »Wir leben nicht allein zusammen!« (Haja Molter u. Thomas Billerbeck), »Ich sehe, was ich sehe!« (ohne Angabe), »Probleme sind Lösungen!« (Klaus Mücke), »Man kann nicht nicht kommunizieren!« (Paul Watzlawick), »Die Welt ist nicht so, wie wir sie fühlen!« (Rolf Arnold).
Gleich, für welche Art des Zugriffs man sich entscheidet: in jedem Fall muss mit einer gewissen gedanklichen Unschärfe gerechnet werden, weil die Arbeiten unterschiedlicher Autoren pauschal dem Label »systemisch« zugewiesen werden, obwohl sie sich bei differenzierter Analyse natürlich auch in bestimmten Punkten unterscheiden. Insofern sind die in den Abschnitten 1.2.1 bis 1.2.6 zusammengeführten Ansätze und erkenntnistheoretischen Positionen nicht als Teile eines monolithischen Blockes zu deuten, sondern eher als »familienähnliche« Strömungen, die untereinander einen recht hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen bzw. untereinander anschlussfähig sind (vgl. Levold u. Wirsching 2014, S. 46). Das Herausarbeiten der Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Ansätzen tritt dagegen beinahe vollständig in den Hintergrund, vor allem deswegen, da es mit Blick auf den zweiten – unterrichtspraktischen – Teil des Buches wenig zielführend erscheint.
1.2.1 Konstruktivistische Erkenntnistheorie
Als ein erstes wesentliches Merkmal systemischen Denkens kann die konstruktivistische Annahme begriffen werden, dass sich die reale Welt dem menschlichen Subjekt nicht in einer objektiven Art und Weise erschließt, sondern dass jede menschliche Einsicht und Erkenntnis ebenso wie jede Erfahrung subjekt- und damit beobachterabhängig ist. Insofern gilt, dass jede Theorie menschlicher Erkenntnis abhängig ist von einer Theorie über den Beobachtenden:
»Der Beobachter beobachtet, er sieht etwas und behauptet oder negiert seine Existenz und tut, was er eben tut. Ohne ihn gibt es nichts. Er ist das Fundament des Erkennens, er ist die Basis jeder Aussage über sich selbst, die Welt und den Kosmos« (Maturana 2002a, S. 74).
Um die Subjektabhängigkeit menschlicher Realitätsbeschreibungen herauszustellen, wird in der Systemik daher auch von Wahr»gebung« im Sinne eines aktiv zuschreibenden »Ich gebe wahr« anstelle von Wahr»nehmung« im Sinne eines eher hinnehmend-passiven »Ich nehme wahr (wie es nun einmal ist)« gesprochen (s. Schmidt 2004, S. 179 ff.).
Folglich lebt jedes denkende und fühlende Wesen in seiner eigenen, in sich abgeschlossenen Vorstellungswelt, welche es sich permanent selbst konstruiert. Die Wahrnehmung respektive Wahrgebung von Dingen, Lebewesen, Personen oder Gruppen ist nicht im Sinne eines wirklichkeitsgetreuen Abbildes zu begreifen, sondern als individuelle Konstruktionsleistung emotionaler und kognitiver Repräsentation und damit – und dies ist entscheidend für sämtliche Anwendungsfelder des systemischen Denkens – prinzipiell veränderbar.
Der vonseiten der empirisch-analytischen Wissenschaft erhobene Anspruch, vermittels ausgefeilter qualitativer und quantitativer Methoden intersubjektiv gültige respektive nomothetische Aussagen über Phänomene der sozialen Wirklichkeit treffen zu können, wird aus systemischer Sicht zurückgewiesen. Dabei wird argumentiert, dass der Anwendung spezifischer methodischer Verfahren stets eine Auswahl vorausgeht, in der individuelle – d. h. beobachterabhängige – Entscheidungen festlegen, wie z. B. ein Forschungsdesign gestaltet wird bzw. welche Methoden und Messinstrumente für die Erforschung eines bestimmten Gegenstandes für besonders geeignet gehalten werden und welche nicht. Zudem gilt, dass sowohl die Formulierung des Erkenntnisinteresses als auch die der forschungsleitenden Fragestellung bzw. die Verbalisierung der hierauf rekurrierenden Hypothesen sowie die Interpretation der erhobenen Daten stets abhängig bleiben von individuellen Sichtweisen und Bewertungen der Forschenden. Die Möglichkeit einer exakten Abbildung der Wirklichkeit im Sinne klassischer korrespondenztheoretischer Wahrheitstheorien⁵ bzw. eines naiven Wissenschaftspositivismus wird von daher für die Erkundung der sozialen Welt ausgeschlossen (vgl. von Glasersfeld 2002a, S. 52).
Winfried Palmowski (1996, S. 222) fasst die Differenz der beiden grundsätzlich verschiedenen wissenschaftstheoretischen Standpunkte wie folgt zusammen: Für die Vertreter des Positivismus sei »unsere Wirklichkeit die Grundlage unserer Erfahrung«, dementsprechend existiere all das, was wir dank unserer Sinne wahrnehmen, tatsächlich auch in der Realität, deren objektive Erkenntnis grundsätzlich möglich sei. Für die Vertreter des Konstruktivismus kehrt sich dagegen das Verhältnis zwischen individuellen Sinneseindrücken und sozialer Realität um; sie vertreten die Position, dass »unsere Erfahrung die Grundlage unserer Wirklichkeit ist« (ebd.). Demnach ist für das Resultat des Wahrnehmungsprozesses nach konstruktivistischer Lesart der oder die Wahrnehmende entscheidend, nicht jedoch das, was wahrgenommen wird. Heinz von Foerster (2002a, S. 29f.) führt für die Markierung dieses essenziellen Unterschieds die Differenz zwischen »entdecken« und »erfinden« ein. Demnach gehen Anhänger des Positivismus davon aus, dass in der Realität gegebene Phänomene und Zusammenhänge vermöge unserer geistigen Fähigkeiten entdeckt werden könnten. Die Vertreter des Konstruktivismus sprechen dagegen davon, dass wir die Umwelt, die wir wahrnehmen, permanent erfinden. Denn wir konstruieren uns permanent unsere eigene Welt.
Helm Stierlin weist im Anschluss an George Spencer-Brown (1969) darauf hin, dass die konstruktivistische Annahme, dass Wirklichkeitsbeschreibungen stets beobachterabhängig seien, zu einer gewissen Demut hinsichtlich der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis führt, da es stets ein individueller Beobachter ist, der unterschiedsbildend Wirklichkeit beschreibt und dem sich daher eine »objektive« Erkenntnis »des Ganzen« zwangsläufig entzieht:
»Als Beschreiber bleibe ich selbst Betroffener wie auch Gestalter des beschriebenen Geschehens, bleibe ich jemand, der, während er etwas beschreibt, etwas von etwas unterschiedet, etwas auswählt und damit etwas anderes ausblendet« (Stierlin 1994, S. 17).
Zum besseren Verständnis sei in diesem Kontext noch auf eine weitere zentrale Unterscheidung Heinz von Foersters (2002a, S. 29) verwiesen, diejenige zwischen »entscheidbaren« und »unentscheidbaren« Fragen. Entgegen der Begriffsbezeichnung können wir paradoxerweise nur »unentscheidbare« Fragen tatsächlich entscheiden, da alle »entscheidbaren« Fragen aufgrund logisch-axiomatischer Vorausannahmen auf eine notwendig richtige Lösung festgelegt sind. Lediglich solche Fragen sind eindeutig als »richtig« oder »falsch« beantwortbar. So lässt sich die Frage, ob 24 durch 4 teilbar ist, zweifelsfrei und nur mit Ja beantworten.
Ganz anders sieht es dagegen mit Fragen aus, die nicht durch ein System von Axiomen auf eine bestimmte Antwort hin determiniert sind. Von Foerster nennt als ein Beispiel die Frage nach der Entstehung der Welt. In Abhängigkeit davon, wen man mit dieser prinzipiell unentscheidbaren Frage konfrontiert, einen Physiker, einen gläubigen Katholiken oder einen Hindu, wird man vollkommen unterschiedliche Antworten erhalten; die gleichwohl jeweils mit großer persönlicher Überzeugung vertreten werden dürften. Alle diese unterschiedlichen Antwortversuche bezeichnet von Foerster als »Erfindungen«, da niemand je wird beweisen können, wie es wirklich war. Die mit diesen Bekenntnissen zum Ausdruck kommenden individuell verschiedenen geistigen Konstruktionsleistungen spitzt von Foerster (2002a, S. 29) im folgenden Bonmot zu: »[S]ag uns, wie das Universum entstand, und wir sagen dir, wer du bist.«
Der Glaube an die Möglichkeiten einer rationalen, eindeutig verobjektivierbaren Wirklichkeitserkenntnis wird noch von einer anderen Seite her relativiert. Insbesondere im Anschluss an Luc Ciompi (1997) und Gerhard Roth (2003) wurde vonseiten der Gehirnforschung wiederholt auf den hohen Einfluss unserer Emotionen auf unsere vernunftgeleitete Urteilsfähigkeit hingewiesen:
»Das limbische System hat gegenüber dem rationalen kortikalen System das erste und das letzte Wort […]. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der die eigentliche Handlungsentscheidung trifft, emotional akzeptabel sein muss. […] Am Ende eines noch so langen Prozesses des Abwägens steht immer ein emotionales Für und Wider« (Roth 2003, S. 162).
Emotionen und Denken lassen sich demnach nicht einfach trennen, sondern laufen innerhalb des menschlichen Gehirns zeitgleich ab. Ciompi (2002, S. 62) versucht, dies begrifflich zu fassen, indem er von »Affektlogiken« bzw. von »Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen« spricht, die tief verankerten – unserer bewussten Rationalität nicht ohne Weiteres zugänglichen – neuronalen Mustern entsprechen. Diese Muster seien letztlich ausschlaggebend für unser Denken und Fühlen und damit für das, was wir gemeinhin als »Persönlichkeit« bezeichnen. Wobei es wichtig ist, diese Muster zwar gegebenenfalls als beharrlich, nicht aber als prinzipiell starr zu begreifen. Sie gelten insofern als dynamisch, da das psychische System in Form von kontinuierlich ablaufenden Selbstorganisationsprozessen Einfluss sowohl auf den Erhalt als auch den Um- und Ausbau dieser Erlebensnetzwerke nimmt. Dies gilt auch dann, wenn es dem Einzelnen nicht gelingen mag, trotz großer willentlicher Anstrengung den Ablauf bestimmter Verhaltensprogramme zu unterbrechen bzw. zu verändern. Arnold spricht in diesem Zusammenhang von der Beharrlichkeit emotionaler Einspurungen, die häufig im frühen Kindesalter erworben werden und die Weltsicht bzw. das »Sich-in-der-Welt-Fühlen« Erwachsener maßgeblich prägen:
»Unsere Wahrnehmung ist – sowohl stammesgeschichtlich als auch individualgeschichtlich – zunächst eine emotionale, bei der sich grundlegende Formen des ›Sich-in-der-Welt-Fühlens‹ einspuren und synaptisch so verschalten, wie es die frühen Erlebnisse mit Geborgenheit, Spiegelung, Macht etc. angebahnt haben. Man sieht dann auch nur noch das, was