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Über Leben
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eBook291 Seiten3 Stunden

Über Leben

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Über dieses E-Book

In diesem Buch möchte ich ungeschönt und so offen wie möglich darüber berichten, wie ich an meine lange verdrängten Erinnerungen von Vernachlässigung, Zwangsprostitution, Folter sowie psychischem, körperlichem und sexuellem Missbrauch meiner Kindheit und Jugend herangekommen bin - und welche Folgen das für alle Bereiche meines Lebens hatte und auch heute noch hat.

Möge es allen Menschen, die ebenfalls von sexuellem Missbrauch betroffen sind, ein Anker sein, um ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu leben, das jeder von uns verdient hat.

Mein Anliegen ist es, Menschen, die nicht direkt betroffen sind, für dieses Thema zu sensibilisieren und darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Verständnis für Betroffene ist, was die komplexen Auswirkungen von sexuellem Missbrauch betrifft.

Mit der Unterstützung meines Freundes und psychologischen Psychotherapeuten habe ich mein persönliches Schicksal auf Papier gebracht. Er hat mir mit seinem psychologischen Wissen zur Seite gestanden, um wichtige Fachbegriffe zu erklären.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum7. Feb. 2024
ISBN9783758353284
Über Leben
Autor

Markus Klaaßen

Ich bin in eine Familie hineingeboren worden, die so asozial war, dass selbst die gesellschaftlich unterlegenen Asozialen nichts mit uns zu tun haben wollten. Meine Eltern interessierten sich nur dafür, wie sie an Geld für Alkohol, Zigaretten und andere Drogen herankamen. Die Menschen, mit denen sie sich dafür einließen, waren entweder selbst drogenabhängig oder nutzten diese Situation rücksichtslos aus, um mich als Sex- und Lustobjekt, Prügelknabe oder Arbeitstier zu benutzen - und auf allen Ebenen zu missbrauchen. Dieses Buch ist für mich eine Verneigung an mich und das Leben selbst. Ich kann heute mit Stolz sagen, dass die Liebe, die wir Menschen uns gegenseitig schenken können, der wahre Grund dafür ist, warum ich das alles überlebt habe.

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    Buchvorschau

    Über Leben - Markus Klaaßen

    „Du wirst weder an deinen inneren Bildern noch an deinen Gefühlen zerbrechen.

    Denn wenn du hättest zerbrechen sollen, dann wäre das bereits geschehen."

    (Markus Klaaßen)

    Achtung:

    Trigger-Warnung!

    In diesem Buch wirst du Dinge lesen, die explizite Schilderungen vieler Formen von Gewalt enthalten. Vielleicht vermagst du dir diese nicht einmal in deinen schlimmsten Albträumen vorzustellen. Bis vor einiger Zeit konnte ich es selbst nicht. Doch heute weiß ich: Ich habe all das überlebt.

    Ich erinnerte mich lange nicht an meine Kindheit, auch nicht in Träumen. Der einzige Erinnerungsfetzen war folgender: Ich sehe mich, wie ich im Alter von etwa vier Jahren nachts in der Küche vor der Spüle stehe. Ich sehe die grelle Leuchte, die unter den Hängeschränken montiert ist. Mit einem langen Messer mit braunem Griff wollte ich mir ein Bein abschneiden. Mein Gedanke dazu war: „Wenn die Leute nun sehen, wie schlecht es mir geht, hat dieser Albtraum bestimmt bald ein Ende."

    Schon als kleiner Junge wollte ich den Schmerz in mir sichtbar machen. In diese Realität entführe ich dich mit meinem Buch mit dem Ziel, das Undenkbare auszusprechen.

    Unter Umständen hast du Gleiches oder Ähnliches selbst überlebt. Achte also bitte gut auf dich! Die folgenden Inhalte können belastend oder verstörend für dich sein. Du bist nicht allein damit. Sprich mit einer Person deines Vertrauens oder deinen Ärzt:innen, wenn du das Bedürfnis hast. Wenn es dir nicht gut geht, wirf einen Blick auf die letzten Seiten dieses Buches. Dort liste ich dir Anlaufstellen und Kontakte auf, wo du Hilfe bekommen kannst.

    Über den Autor

    Ich bin Markus Klaaßen, 48 Jahre, lebe in Nordrhein-Westfalen und erzähle in meinem Buch ungeschönt davon, wie ich an meine lange verdrängten Erinnerungen von Vernachlässigung, Zwangsprostitution, Folter sowie psychischem, körperlichem und sexuellem Missbrauch meiner Kindheit und Jugend herangekommen bin – und welche Folgen das für alle Bereiche meines Lebens hatte und auch heute noch hat.

    Mit der Unterstützung von Martin Braun, meinem Freund und Psychologen, habe ich mein persönliches Schicksal auf Papier gebracht. Er ist mir mit seinem psychologischen Wissen zur Seite gestanden, um wichtige Fachbegriffe zu erklären.

    Die Namen aller Personen, ausgenommen Martin Braun und mein eigener, sind im Buch frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind somit rein zufällig.

    Einleitung

    Wir Menschen haben von Natur aus einen angeborenen Überlebensinstinkt und tun alles dafür, um am Leben zu bleiben.

    Häufig ist der Lebensraum, in den wir hineingeboren werden, geprägt von Liebe, Wärme, Schutz, Rückhalt und Güte.

    Manchmal sieht die Realität jedoch anders aus – und dies kommt bedauerlicherweise häufiger vor, als wir denken. Viele Menschen wachsen in einem Umfeld auf, das von Hass, Kälte, Bedrohung, Rücksichtslosigkeit und Gewalt geprägt ist.

    Auch ich wurde von klein auf von meiner Familie gequält, misshandelt und missbraucht.

    Mein Buch handelt von einer Hölle abgrundtiefer Quälerei, Aggressionen, Lieblosigkeit, gefühlskalten Eltern und einem sozialen Umfeld sogenannter „Vertrauten", die gnadenlos narzisstisch ihre eigenen Bedürfnisse auslebten und ihre Rollen in der Gesellschaft benutzten, um ihre eigene sexuelle Gier zu befriedigen.

    Meine Geschichte endet jedoch nicht in Verzweiflung oder der Möglichkeit, im Tal der bitteren Tränen zu ertrinken, sondern sie handelt vom puren Überlebenswillen sowie von den menschlichen Fähigkeiten, ein Trauma zu überwinden und die Folgen von Misshandlung und sexuellem Missbrauch zu bewältigen.

    Mein Freund Martin Braun meinte, dass ihn kein Lebenslauf in seiner 35-jährigen psychotherapeutischen Arbeit zum Thema Bewältigung mehr erstaunt, beeindruckt und zuversichtlicher gestimmt hätte als meine Geschichte. Denn ich habe es geschafft, meine sexuellen Missbrauchserfahrungen sowohl mit therapeutischer Unterstützung als auch selbstständig zu bearbeiten, meinen Weg neu auszurichten und heute das Leben und mich selbst zu lieben, was mich mit Stolz und Dankbarkeit erfüllt.

    Was dich erwartet …

    Warum?

    Mein Leben ohne Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend

    Der Zusammenbruch

    Erste Woche in der ersten Klinik

    Zweite Woche: Warum bin ich eigentlich in der Klinik?

    Dritte Woche: Sortieren und Luftholen

    Vierte Woche: Neue, teils furchtbare Erkenntnisse

    Fünfte Woche: Erste Gefühle fühlen

    Sechste Woche: Warum kann ich nicht schlafen?

    Siebte Woche: Es wird ein Bild

    Achte Woche: Nach „Wo und „Wer fehlt mir nun noch das „Was"

    Kurzes Gastspiel zu Hause

    Ankunft in der zweiten Klinik

    Erste Woche: Erstmal „langsam" ankommen?

    Zweite Woche: Angst, Liebe, Trauer und die Zahl 3

    Aus dem Hier und Jetzt

    Dritte Woche: Was mir Kraft gibt

    Vierte Woche: Ist alles da? Was füllt meine Leere?

    Fünfte Woche: Was soll jetzt noch passieren?!

    Sechste Woche: Wer leitet eigentlich die Geburt ein – das Kind oder die Mutter?

    Siebte Woche: Es wird ein vollständiges Bild oder der Kreis schließt sich

    Achte Woche: Noch neun Tage, dann gehe ich nach Hause

    War es das?

    Ich wollte immer leben

    Danksagung

    Wie ich meinen Prozess der Bearbeitung erlebe

    Bücher, die ich gelesen habe:

    Kliniken, in denen ich mich aufgehalten habe:

    Was ich gesehen und gehört habe:

    Adressen, die außerdem helfen können:

    Warum?

    Ich will LEBEN! Daher ist es für mich unausweichlich geworden, das, was ich überleben musste, Stück für Stück zu verstehen, so gut wie möglich zu bearbeiten, bewusst zu fühlen und in mein Leben zu integrieren.

    Wenn du dieses Buch liest, wirst du vielleicht erkennen, dass ich Dinge, Gefühle und Situationen beschreibe, die auch du kennst. Ich bin kein Einzelfall. Es gibt viele Menschen wie mich. Und doch konnte und musste ich durch die individuellen Umstände in meinem Leben viele – wenn nicht sogar alle – Möglichkeiten ausschöpfen, die uns Menschen zur Verfügung stehen, um selbst in den schwierigsten und lebensfeindlichsten Umgebungen überleben zu können.

    Heute würde ich sagen, dass ich gerade durch die frühen Misshandlungen und Missbräuche und den daraus intuitiv aktivierten Überlebensmechanismen in der Lage war, fast 16 Jahre anhaltende traumatisierende Situationen zu überstehen, ohne verrückt zu werden.

    Ich denke, du hast nun einen ersten Eindruck davon bekommen, was mich antreibt: Ich wollte immer leben!

    Nun bin ich in der Lage, Stück für Stück zu erkennen, wie ich es geschafft habe, psychisch und physisch zu überleben. Durch die Traumatisierungen an meinem Körper und meiner Seele blieb vieles lange Zeit unentdeckt. Unter vielen Schichten war ICH versteckt. Zum Glück verlor ich intuitiv nie diese tiefe Verbindung zu mir selbst – und zu meiner mir innewohnenden Kraft.

    Mein Leben ohne Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend

    Wenn mich jemand nach meiner Kindheit und Jugend fragte, war meine Geschichte schnell erzählt: Ich hatte keine Ahnung.

    Meine Erinnerungen fingen damit an, dass ich mit 16 Jahren freiwillig in ein Kinderheim ging. Der Grund war, dass ich meinen Vater blutig geschlagen hatte. Erst später sollte sich herausstellen, dass dieser (Un-)Mensch nicht mein leiblicher Vater war. Er wollte wieder einmal, ohne ersichtlichen Grund, meine Mutter verprügeln, die in der Küche war. Warum er besoffen in einer von Urin durchnässten Unterhose aus dem Schlafzimmer kam, kann ich nicht mehr sagen. Er war so oft betrunken, dass er den Weg zur Toilette nicht mehr schaffte. Ich weiß nur, dass er sie angeschrien hatte und gerade zum ersten Schlag ausholen wollte, als ich dazwischen ging und ihm mit der Faust mehrfach ins Gesicht schlug. Mit Platzwunden am Auge und Lippe verkroch er sich fluchend ins Schlafzimmer.

    Damit hatten weder er noch ich gerechnet. Für mich stand damit fest, dass ich gehen musste. Ich musste dieses Umfeld verlassen. Sonst wäre wohl noch Schlimmeres passiert. Mir war klar, dass er mich sonst umgebracht hätte.

    Da ich schon mein ganzes Leben mit dem Jugendamt zu tun hatte, rief ich meine Betreuerin an, die zum Glück noch am gleichen Tag einen Platz im Kinderheim organisieren konnte. Ich packte meine wenigen Sachen und ging freiwillig ins Kinderheim.

    Für mich und meine persönliche Entwicklung war das ein Befreiungsschlag. Im Kinderheim waren die Erzieher:innen und Mitbewohner:innen nett zu mir. Ich hatte ein sauberes Zimmer, regelmäßig zu essen, bekam Kleider- und Taschengeld, was ich auch behalten durfte, und das Wichtigste: Ich konnte mich frei bewegen und tatsächlich leben. Diese Freiheit nutzte ich. Ich kaufte mir Klamotten, verreiste das erste Mal, fand Freund:innen, machte meinen Führerschein, ging in Discos, rauchte Marihuana, ging auf Konzerte und hatte Sex mit Mädchen.

    Um mein Leben finanzieren zu können, arbeitete ich an den Wochenenden, was ich schon seit meinem neunten Lebensjahr machte, auch mehrfach unter der Woche nach der Schule. Nach dem Hauptschulabschluss arbeitete ich dann einige Jahre lang sieben Tage die Woche.

    Das Geld für meinen stetig steigenden Lebensstandard erwirtschaftete ich durch mehrere Jobs. Dazu gehörten anfangs einfache Arbeiten wie das Einsammeln von Müll, das Putzen von Toiletten, Kellnern und Arbeiten auf Festen, Veranstaltungen oder an Imbissständen. Schon früh besaß ich die Fähigkeit, unternehmerisch zu denken. Ich entwickelte eigene, oft erfolgreiche Geschäftsideen. Mir fielen Dinge ein, auf die andere Menschen gar nicht erst kamen – oder keine Lust hatten, sich die Arbeit anzutun. Als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war, bemerkte ich bei Veranstaltungen, bei denen ich Papier aufsammelte, dass es zwei Dixi-Klos gab, die weder gereinigt noch mit neuem Klopapier ausgestattet wurden. Irgendwann stellte ich mich vor diese Toiletten und überprüfte jedes Mal, wenn sie benutzt wurden, ob die Toilettensitze noch sauber waren und ob noch genügend Klopapier vorhanden war. Dafür verlangte ich 20 Pfennig pro Benutzung. Anfangs nahm ich das Putzmittel und das Toilettenpapier einfach von zu Hause mit. Sobald alles aufgebraucht war, hörte ich für diesen Tag auf.

    Ich tat zudem noch etwas – ich klaute Geld. Das war nicht schwer, da ich lange in Kreisen arbeitete, in denen ohne Quittung und somit ohne Nachweis gearbeitet wurde. Ich stahl zeitweise sehr viel Geld. Niemandem fiel auf, wenn bei den Abrechnungen einige Hundert D-Mark fehlten. Das dachte ich zumindest.

    In manchen Monaten hatte ich gut 3.000 D-Mark, was heute rund 1.500 Euro entspricht, zur Verfügung. Das war damals viel Geld für einen jungen Mann. Heute weiß ich, dass meine Diebstähle natürlich aufgefallen waren. Ich trug angesagte Markensachen, hatte mit 18 Jahren teilweise drei Autos auf einmal, auch wenn es nicht die luxuriösesten waren, und in Windeseile hatte ich mir eine Wohnung finanziert. Ich gab das Geld mit vollen Händen aus. Aber wie sollte das alles nur mit Nebenjobs und ohne Unterstützung, wie zum Beispiel durch das Elternhaus, gehen? Jeder wusste, dass ich aus ärmlichsten Verhältnissen stammte.

    Meine Diebstähle wurden lange Zeit toleriert, wie so vieles andere auch. Bei allen ehemaligen Arbeitsstellen durfte ich mir mehr herausnehmen als alle anderen, die durch solche Handlungen schon längst ihren Job verloren hätten. Wie kam es dazu? Warum durfte ich meine Arbeit behalten? Die schreckliche Antwort darauf sollte mir erst Jahrzehnte später bewusst werden.

    Nachdem ich einige Jahre gut gelebt hatte, merkte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich war mit diesen einfachen Aufgaben vollkommen unterfordert, und die zum Teil sehr einfachen Menschen in meinem gesamten Umfeld waren für mich nicht mehr länger zu ertragen. Ich spürte, dass mir diese Menschen nicht mehr guttaten, hatte aber keine logische Erklärung dafür. Lange fragte ich mich, was ich mit meinem Hauptschulabschluss anfangen sollte. Ich konnte nicht einmal richtig lesen und schreiben. Auf den Bau oder in die Fleischindustrie wollte ich auf keinen Fall, auch wenn ich damals entsprechende Angebote erhielt.

    Ich hatte schon immer einen guten Geschäftssinn, daher war klar, dass ich etwas Kaufmännisches machen wollte. Aufgrund meines geringen Bildungsstands war das anfangs allerdings nicht einfach. Völlig unerwartet bekam ich jedoch einen Ausbildungsplatz zum Bürokaufmann angeboten. Die Entscheidung, eine Ausbildung zu beginnen, hatte zur Folge, dass mein monatliches Einkommen um gut 50 Prozent schrumpfte. Das lag daran, dass ich ab Beginn der Ausbildung vom Ausbildungsgehalt und von ein paar Aushilfsjobs leben musste. Ich war also in der realen Arbeitswelt angekommen. Ich nahm die damit verbundenen Einschränkungen – keine Reisen, zeitweise kein Auto, Lernen statt Partys – trotzdem gerne in Kauf. Nach drei Jahren bestand ich die Abschlussprüfung mit einem Notendurchschnitt von 2,0.

    In dieser Zeit lernte ich auch Sonja, meine spätere Frau, kennen. Ich absolvierte meinen verpflichtenden Zivildienst und machte mir Gedanken über meine Zukunft. Ich traute mir nichts, aber auch gar nichts zu. Mein Selbstwertgefühl war im Keller. Doch während meiner Zeit im Zivildienst lernte ich dank dem tollen Gemeindepfarrer, enger Freund und Mentor, einen Geschäftsmann, dessen bester Freund der Geschäftsführer eines Unternehmens, das europaweit tätig war, kennen. Dieser Geschäftsführer stellte mich kurzerhand ein. Es war verrückt: Von einem Tag auf den anderen erhielt ich einen Dienstwagen und ein Einstiegsgehalt von 3.500 D-Mark.

    Fast 20 Jahre arbeitete ich für dieses Unternehmen. In dieser Zeit übernahm ich immer verantwortungsvollere Aufgaben, sodass ich auch ein hohes Einkommen hatte. Privat lief auch alles „normal". Sonja und ich heirateten, unser Sohn Leon wurde geboren und irgendwann konnten wir uns sogar Eigentum leisten. Nicht schlecht für jemanden, der aus einer Familie kam, die sogar unter Asozialen einen Rekord für widrigste Umstände aufstellte.

    Rückblickend gesehen ist das alles verrückt. Anfangs konnte niemand in der Firma etwas mit mir anfangen. Ich war ein Sonderling, der aus dem Nichts kam und einfach vom Geschäftsführer eingestellt wurde. Aber für mich gab es überhaupt keine Stelle! Ich war ein Macher, und so fing ich aufgrund dieser Charaktereigenschaft an, mir selbst Arbeit zu suchen. Ich hatte damals schon einige PC-Kenntnisse, die viele Menschen zu dieser Zeit noch nicht hatten. Meine Aktivitäten und kleinen Erfolge blieben nicht lange unbemerkt, und so wurde mein Chef auf mich aufmerksam. Später erzählte er mir, dass er mich anfangs testen wollte. Er stellte mein Engagement und meine Flexibilität mit meinen 25 Jahren auf die Probe. Ich punktete mit meinem Können – und das Vertrauen in meine Fähigkeiten als Mitarbeiter wuchs.

    In den fast 20 Jahren, in denen ich dort arbeitete, zogen wir für das Unternehmen innerhalb Deutschlands mehrfach um. Ich arbeitete von morgens bis abends nahezu sieben Tage die Woche – und war sogar fast zwei Jahre räumlich getrennt von meiner damals jungen Familie. Bis mein Gehalt ausreichte, um nicht nur die Ausgaben decken zu können, dauerte es viele Jahre. Ein Wunder, dass Sonja das alles mitmachte.

    Niemand, selbst ich nicht, wäre je auf die Idee gekommen, dass ich aus der Gosse kam – und eine unvorstellbar grausame Kindheit hatte. Ich wusste mich auszudrücken, war gut gekleidet, freundlich, fröhlich, hilfsbereit, aufmerksam und gepflegt. Ich konnte zahlreiche private und berufliche Erfolge erzielen. Dass ich bis zu 14 Stunden am Tag arbeitete, mindestens 40 Zigaretten am Tag rauchte, Entscheidungen zwischen Tür und Angel traf, am liebsten dreimal am Tag Sex haben wollte, auf jeder Party der Letzte war, jeden Abend Sport trieb, oft auf dem Sofa vor Erschöpfung einschlief und selbst im Urlaub nie ruhig sitzen konnte – all das war für mich und mein Umfeld ganz „normal". So war ich eben. Mensch, ich hatte so verdammt gut funktioniert!

    Der Zusammenbruch

    Würde man eine außenstehende Person fragen, warum ich vor einigen Jahren komplett zusammengebrochen bin, hätte sie wohl vermutet, dass die viele Arbeit und mein Chef dafür verantwortlich gewesen seien. Das stimmte jedoch nur teilweise. Der Schein trog.

    Meine Arbeit und ein neuer Chef hatten auf jeden Fall dazu beigetragen. Mein alter Chef ging leider in den Ruhestand. Mein neuer Chef und ich verstanden uns weniger gut. Dass ich meine Arbeit fristgerecht, korrekt und erfolgreich erledigte – und dabei auch noch beliebt bei meinen Kund:innen war –, führte nicht dazu, dass meine Leistung anerkannt wurde. Mir gefiel es hingegen überhaupt nicht, wie mein Chef mit beruflichen Problemen und seinen Mitarbeiter:innen umging. Dies verursachte natürlich Spannungen und Ärger, aber dass ich deshalb zusammenbrach und ins Krankenhaus musste? Nein, so einfach war es leider nicht.

    Aber nicht alles auf einmal. Ich kam schlecht erholt aus dem Sommerurlaub zurück. Wie üblich hatte ich ein Meeting nach dem anderen, und zudem gab es pausenlos nur Probleme zu lösen. Zum Glück hatte ich mir angewöhnt, meine Mittagspause als fixen Termin zu planen. Hätte ich das nicht getan, hätte ich fast durchgehend Meetings gehabt. Das letzte Meeting vor der Pause, es war inzwischen 13 Uhr und ich hatte um 7 Uhr morgens angefangen, war mit einer meiner Mitarbeiterinnen und dem Marketingchef. Die von ihnen geschilderten Schwierigkeiten waren völlig unverständlich für mich, hatten beide doch ausreichend Kompetenzen, um die – meiner Ansicht nach – lächerlichen Probleme eigenständig zu lösen. Ich kam mir vor wie im Kindergarten.

    Abbildung 1

    Abbildung 1

    Während des Meetings merkte ich auf einmal, dass meine Oberlippe anschwoll. Zum Glück endete es schnell. Ich ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und kühlte meine Lippe. Die Schwellung ging zurück. 30 Minuten später ging ich als einer der Letzten in die schon fast leere Kantine. Etwas später setzte sich eine Kollegin zu mir an den Tisch. Wie üblich sprachen wir über die Arbeit, als mein Chef sowie der Geschäftsführer mich begrüßten und sich an den Tisch nebenan setzten, um etwas zu besprechen.

    Sekunden später schwoll meine Oberlippe dermaßen an (siehe Abbildung 1), als sei sie aufgespritzt worden. Meine Kollegin schaute mich fragend an. Ich zögerte einen Moment, stand auf und ging zum Tisch meines Chefs, um ihm zu sagen, dass ich ins Krankenhaus fahren würde. Ich vermutete eine allergische Reaktion auf das Essen. Der Geschäftsführer und mein Chef schauten mich mit großen Augen an und wünschten mir alles Gute.

    Ich ging zurück in mein Büro, holte meinen Autoschlüssel und ging zu meinem Wagen. Im Auto gab ich die Adresse des nächsten Krankenhauses ins Navi ein. Wie ferngesteuert fuhr ich los. Dort angekommen, ging ich in die Notaufnahme. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam eine Krankenschwester und führte mich in ein Zimmer. Der behandelnde Arzt kam, untersuchte mich, fragte nach Allergien und erkundigte sich, was ich beruflich mache. Nachdem ich meine Situation geschildert hatte, klärte er mich auf, dass er mir über einen Venenzugang Kortison spritzen wolle.

    Danach wollte der Arzt abwarten, ob innerhalb von 30 Minuten eine Besserung eintreten würde. Ich willigte ein. Was sollte ich auch machen? Meine Lippe wurde immer dicker. Nachdem das Kortison gespritzt war, setzte ich mich ins Wartezimmer und machte ein Foto von meiner dicken Lippe und der Nadel im Arm. Ich schickte es meiner Frau und war im Glauben, dass gleich wieder alles gut sei und ich weiterarbeiten könne.

    Durch das Kortison wurde es zwar nicht schlimmer, jedoch verbesserte sich meine Lage auch nicht. Nach gut zwei Stunden verließ ich die Klinik wieder. Der Arzt sagte mir, dass er nicht mehr für mich tun könne. Die übrigen Untersuchungsergebnisse waren ohne Befund. Ich solle mich ausruhen und in den nächsten Tagen zu meinem Hausarzt gehen.

    Ich fühlte mich wie nach einem Schleudergang in der Waschmaschine. Gegen den Rat des Arztes fuhr ich zurück ins Büro, machte den PC aus und ging kurz zu meinen Mitarbeiter:innen, um mich zu verabschieden. Danach fuhr ich nach Hause. Hier sollte ich auch erstmal für zehn Wochen bleiben.

    Der Ausschlag wurde die ersten beiden Tage noch viel schlimmer. Mein ganzer Körper schwoll an. Die von meinem Hausarzt verschriebenen Medikamente – Kortison und ein Antihistaminikum, ein Wirkstoff, der bei Allergien den Juckreiz mildert – halfen nicht. Ich war der festen Überzeugung, verrückt zu werden. War ich etwa reif für die Psychiatrie?! Ich war irritiert und voller Zweifel. Am zweiten Tag rief

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