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Wendeschleife
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eBook206 Seiten2 Stunden

Wendeschleife

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Über dieses E-Book

Anna arbeitet in einem Altenpflegeheim, reist gern und stellt anderen Reisenden regelmäßig ihr Sofa als Übernachtungsgelegenheit zur Verfügung. Einer ihrer Gäste ist Oliver, ein junger US-Amerikaner, der mit einem Interrailticket in Europa unterwegs ist. Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut, er besucht sie an ihrem Arbeitsplatz und lernt auch ihren Freundeskreis kennen. Für ein paar Tage taucht er in ihre Welt ein. Doch dann kehrt er von einem Ausflug nach Zermatt nicht mehr zurück. Die Tage verstreichen ohne eine erlösende Nachricht, und Annas Sorge um ihn wächst. Was ist geschehen? Anna entschließt sich dazu, Oliver bei der Polizei als vermisst zu melden. Doch die quälenden Gedanken an ihn lassen sie und die anderen Menschen, die ihn vermissen, nicht mehr los. Eine Suche beginnt, die existentielle Fragen aufwirft, denen Anna auch bei ihrer Arbeit immer wieder begegnet. Worauf steuern wir alle zu? Was macht ein erfülltes Leben und würdevolles Sterben aus? Findet das Leben hauptsächlich in den Geschichten statt, die wir uns darüber erzählen? Antworten findet Anna in den Gesprächen mit der blinden Frau Steinbach und den anderen Bewohnenden, deren Lebenserfahrung sie als große Bereicherung erlebt. Im Austausch mit Caroline, Olivers Mutter, und Samuel, einem gemeinsamen Bekannten, kommt Anna Oliver immer näher und setzt nach und nach das Bild eines Menschen zusammen, den sie vor allem aus Erzählungen kennt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Feb. 2024
ISBN9783906907925
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    Buchvorschau

    Wendeschleife - Regula Portillo

    I

    DER BESUCH

    Als ich die Wohnungstür öffnete, um im Treppenhaus nach Oliver Ausschau zu halten, stand er schon vor mir. Quer über seiner Schulter baumelte eine rote, unförmige Sporttasche, am Bauch hing ein prall gefüllter Rucksack und zwischen den Beinen klemmte eine Papiertüte.

    »Am Anfang hatte ich nur den Rucksack«, sagte er grinsend auf Englisch.

    Ich schmunzelte, leicht verlegen, dass ihm mein prüfender Blick sofort aufgefallen war. »Hallo, ich bin Anna«, stellte ich mich vor und bat ihn herein. Ich hatte mich beeilen müssen, um rechtzeitig von der Arbeit nach Hause zu kommen, und war in Gedanken noch irgendwo dazwischen.

    Oliver hatte mich über die Sofavermittlung kontaktiert. Er war knapp zwanzig, US-Amerikaner, lebte in der Nähe von Boston und reiste mit einem Interrailticket durch Europa. Das war alles, was ich zu diesem Zeitpunkt über ihn wusste. Meinem Profil konnte er entnommen haben, dass ich ebenfalls gern reiste, ein Jahr in Australien und Neuseeland unterwegs gewesen war, dass ich als Pflegefachfrau in einem Altenpflegeheim arbeitete und Reisenden, die in Bern übernachten wollten, mein ausklappbares Sofa zur Verfügung stellte.

    Über seinen Rucksackbauch schielend, schlüpfte Oliver umständlich aus seinen halbhohen Sneakers und betrat meine Zweieinhalbzimmerwohnung mit dem kleinen, gegen Osten gerichteten Balkon. Er setzte die Sporttasche ab und hob die Papiertüte in die Luft. »Ich habe für ein Gemüse-Curry eingekauft«, verkündete er, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als dass er heute für mich kochte.

    »Oh, wie schön«, sagte ich überrascht. Ich hatte nie Pech und meistens Glück gehabt mit meinen Übernachtungsgästen, doch bekocht worden war ich noch nie.

    Ich zeigte ihm die Wohnung: Das Wohnzimmer, hier würde er schlafen, daneben mein Zimmer mit der Verbindungstür, gegenüber das Bad, die Küche mit dem schachbrettgemusterten Fliesenboden und dem Balkon, wo eben erst noch die Sonnenblumen geblüht hatten und inzwischen die vertrockneten Stängel mit den herabhängenden Blütenköpfen einen traurigen Anblick boten. Ich hätte die Töpfe längst nach unten bringen und in die Tonne mit den Gartenabfällen kippen sollen.

    Oliver lobte mein Englisch, glaubte sogar einen australischen Akzent herauszuhören, was mir schmeichelte. Tatsächlich war Englisch für mich wie eine zweite Muttersprache, und ich genoss es, mich auf Englisch zu unterhalten. Ich fragte ihn, wie es umgekehrt um seine Deutschkenntnisse stehe.

    »Sehr schlecht«, antwortete er auf Deutsch. »Vielen Dank. Bitte. Nein, ja. Butterbrot. Ich heiße Oliver, guten Tag«, gab er lachend sein Deutschvokabular zum Besten, um dann wieder ins Englische zu wechseln. »Mein Großvater ist zwar Deutscher, doch leider ist die Sprache nicht bis zu mir durchgedrungen. Meine Mutter spricht ein bisschen Deutsch. Sie hat auch einen deutschen Nachnamen.«

    »Welchen denn?«

    »Lehmann. Caroline Lehmann.«

    »Dein Nachname ist Evans, stimmt’s?«

    Er nickte.

    »Hast du sonst noch einen Bezug zu Deutschland?«

    Oliver hob grinsend die Schultern. »Nur die Weißwürste, die mein Großvater manchmal zubereitet.«

    Ich lachte laut auf. »Weißwürste, immerhin. Dann warst du auch in München?«

    »München? Nein. Dafür aber in Amsterdam, Rotterdam, Brüssel, Paris, Strasbourg und zuletzt Basel.« Oliver strahlte. »Interrail ist großartig.«

    Ich hatte noch nie eine Interrailreise gemacht, entweder hatte ich möglichst weit weggewollt oder war nur an einen Ort gereist und dortgeblieben. Ich war niemand, der schnell ankam – bis ich dann nicht mehr fortwollte.

    »Wie lange bist du schon unterwegs?«

    »Seit bald fünf Wochen.«

    »Und wohin geht’s danach?« fragte ich, obwohl ich gerne gewusst hätte, warum er die Gelegenheit, nach Deutschland zu reisen, nicht genutzt hatte. Ich an seiner Stelle hätte das Land meiner Vorfahren kennenlernen wollen. Doch die Frage schien mir für den Anfang unserer Begegnung zu persönlich. Bestimmt hatte er seine Gründe.

    »Bern ist schon die zweitletzte Station. Von hier fahre ich nach Rom. Und dann geht’s nach Hause.« Er seufzte. »Am liebsten wäre ich noch viel länger unterwegs.«

    Das konnte ich ihm nachfühlen. Nie verging die Zeit schneller als beim Reisen.

    Oliver breitete auf dem Küchentisch aus, was er eingekauft hatte: Reis, einen tiefroten Granatapfel, Pistazien, Brokkoli, Kartoffeln, Rosinen und eine Wurzel, deren Namen ich nicht kannte.

    Ich füllte zwei Gläser mit Leitungswasser, legte Schneidebretter und Messer auf den Tisch, zeigte Oliver die Schublade mit den Töpfen und Pfannen und fragte, wie ich helfen könne. Zuerst lehnte er meine Hilfe ab, willigte dann aber ein und bat mich, die Kartoffeln zu schälen und in kleine Stücke zu schneiden.

    »Ist es in Ordnung, wenn ich Musik anmache?«, bat er um meine Erlaubnis, nachdem er den Brokkoli gewaschen und seine Hände an den Hosen abgetrocknet hatte.

    »Ja, klar«, gab ich lachend zur Antwort, zeigte auf das Geschirrtuch, als schon erste Gitarrenakkorde aus seinem Handy ertönten, und eine tiefe, warme Stimme einsetzte. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es war lange her, dass ich mit jemandem gekocht und dazu Musik gehört hatte. Zuletzt mit Tom.

    »Kennst du ›The National‹?«

    Ich schüttelte den Kopf.

    »Meine und Obamas Lieblingsband«, erklärte er, setzte das Wasser auf und griff nach dem Schneidebrett und dem Messer. Prüfend ließ er seine Fingerkuppen über die Klinge gleiten. Während ich mit Kartoffelschälen beschäftigt war, beobachtete ich fasziniert, wie Oliver die Pistazien hackte. Mit geübten Bewegungen schaukelte er das Messer auf und ab. »Man sieht, dass du gerne kochst.«

    Oliver blickte kurz auf, lächelte. »Ich jobbe neben dem Studium in einem Restaurant, da schaue ich mir das eine oder andere ab.«

    »Was studierst du?«

    »Psychologie.«

    »Schon lange?«

    Oliver schüttelte den Kopf. »Im zweiten Jahr.«

    Er schob das Schneidebrett mit dem Pistazienhäufchen beiseite, griff nach dem Granatapfel, halbierte ihn und löste die Kerne sorgfältig aus der Schale. Zwischendurch gab er den Reis ins siedende Wasser, rieb mit einer feinen Raspel, die er unmöglich in meiner Küche gefunden haben konnte, die Wurzel dazu.

    »Was ist das?«

    »Kurkuma. Davon bekommt der Reis eine gelbe Farbe.«

    Olivers natürliches und selbstsicheres Auftreten beeindruckte mich. Als ich so alt gewesen war wie er, war ich weit davon entfernt gewesen. Ich hatte mitten in der Ausbildung zur Pflegefachfrau gesteckt, mich aber nie richtig wohlgefühlt in meinem Ausbildungsbetrieb, einem großen Altenheim, wo »Pflegeeffizienz« und »maximale Bettenauslastung« die beiden am häufigsten genannten Begriffe waren. So hatte ich mir meinen angehenden Beruf nicht vorgestellt. Langzeitpflege war für mich viel mehr als ein Handwerk. Nach zwei Jahren hatte ich gekündigt, ohne jemanden davor in meine Pläne einzuweihen. Meine Mutter war nicht besonders erfreut gewesen. Sie glaubte, ich hätte vorschnell und kampflos aufgegeben, was beides nicht stimmte. Zum Glück hatte ich mir das nötige Geld zusammengespart, um auf Reisen zu gehen und mit etwas Distanz herauszufinden, dass meine Berufswahl trotz allem richtig gewesen war. Einzig mein Arbeitsort und die dort herrschenden Bedingungen hatten nicht gepasst.

    »Bis wann arbeitest du morgen?«, riss mich Oliver aus meinen Gedanken.

    »Bis vier. Warum?«

    »Nur so.«

    »Wenn du magst, können wir uns danach in der Stadt treffen«, schlug ich vor.

    »Cool, gerne.«

    »Hast du eigentlich sonst noch Pläne für deine Zeit in der Schweiz?«

    »Bern und Zermatt.«

    »Zermatt?«

    »Ich kann nicht nach Boston zurückkehren, ohne das Matterhorn gesehen zu haben.« Oliver grinste. »Findest du das blöd?«

    Ich lachte. »Überhaupt nicht.«

    Nach einer halben Stunde war das Essen fertig. Es duftete herrlich. Nach Ingwer und süßlich nach Zimt. Bevor mir Oliver meinen Teller reichte, streute er je einen Löffel rote Granatapfelkerne und Rosinen über den gelben Reis. Das Curry-Gericht sah nicht nur aus wie ein kleines Kunstwerk, sondern schmeckte auch ausgezeichnet, und ich versprach, mich in den nächsten Tagen mal fürs Abendessen zu revanchieren, obwohl meine Kochkünste nicht an die von Oliver heranreichten. Ich war eine pragmatische Köchin, meistens kochte ich nur für mich selbst und dann musste es schnell gehen.

    »Bist du das?«, wollte Oliver wissen. Nach dem Essen waren wir am Küchentisch sitzen geblieben. Ich folgte seinem Blick zur Magnetschnur mit den Fotos oberhalb des Fensters, nickte. Mein erster Schultag, posierend im Garten meiner Eltern: Auf dem Rücken der Fellranzen, den mir Oma Ann damals auszureden versucht und dann trotzdem geschenkt hatte; daneben das Foto von Tom und mir in Barcelona. Unser erster gemeinsamer Urlaub. Irgendwann würde ich das Foto entfernen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es noch da hing, sich festkrallte zwischen den anderen Bildern, die wie kleine, farbige Punkte Stationen auf meinem Lebensweg markierten. Ich schob den Stuhl zurück, stand auf und zeigte auf die Mitte der Schnur. »Der hier ist mein Bruder Florian mit seiner Tochter Lara. Kurz nachdem sie geboren wurde.«

    Lara hatte auf einer Armeslänge Platz gefunden, ihr kleines Köpfchen in Flos Hand gepasst. Flo und Saskia waren noch nicht lange ein Paar gewesen, als sie ungeplant schwanger wurde. Obwohl Saskia mitten in den Vorbereitungen zum Master in Medizin steckte, hatten sie nie daran gezweifelt, das Kind bekommen zu wollen. Ihr junges Glück fiel in eine Zeit, in der meine jahrelange Beziehung mit Tom langsam zu bröckeln begann. Trotzdem hatte ich damals kurz mit dem verrückten Gedanken gespielt, ebenfalls schwanger zu werden. Dabei war ich mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt einmal eigene Kinder haben wollte. Doch die Tatsache, dass mein jüngerer Bruder eine Familie gegründet hatte, während eine Trennung bei mir immer wahrscheinlicher wurde, hatte mich bedrückt. Erst mit der Zeit hatte ich begriffen, dass ich Flo und Saskia nicht um das Kind beneidete, sondern um die Gewissheit, bedingungslos an einem Strick zu ziehen. Diese hatte ich mit Tom schon lange verloren. Irgendwann zwischen seinem Einzug in meine Wohnung und dem Beginn seiner Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio war sie uns abhandengekommen. Obwohl ich weit häufiger das Gespräch über uns gesucht und insgeheim wohl auch öfter über ein Beziehungsende nachgedacht hatte, war es schließlich Tom gewesen, der sich vor etwas mehr als einem Jahr von mir getrennt hatte. Daran hatte ich zu beißen gehabt. Auch weil auf einmal alles so schnell gegangen war. Nach acht Jahren zu zweit hatte er mir an einem Sonntagabend angekündigt, dass er mich verlassen und am Ende der Woche ausziehen würde. Ausgezogen war er dann schon am Mittwoch. Inzwischen ging es mir wieder gut, und doch erschauerte ich immer noch, wenn ich an diese Zeit zurückdachte.

    »Wie alt ist sie?«, hörte ich Oliver fragen.

    Ich zuckte zusammen. »Wie bitte?«

    »Deine Nichte. Wie alt ist sie denn?«

    »Lara? Sie wird bald drei.«

    Ich zeigte auf das nächste Foto. »Hier bin ich in einem Nationalpark. Während meiner Australien-Reise.«

    »Du siehst glücklich aus«, bemerkte Oliver.

    Ich nickte lächelnd. »Ja, das stimmt.«

    Dass ich auf dem Foto wahrscheinlich etwa so alt war wie er heute, nämlich gut zehn Jahre jünger, behielt ich für mich. Seit ich im Altenpflegeheim Linde arbeitete, war es mit dem Reisen schwieriger geworden. Auch deshalb mochte ich es, Menschen aus anderen Ländern in meiner Wohnung zu beherbergen. Bei der Arbeit war ich diejenige, die etwas von der Außenwelt in den nahezu geschlossenen Kosmos der Bewohnenden hineinbrachte, während es sich mit meinen Gästen gerade andersherum verhielt. Sie brachten ein Stück große weite Welt zu mir nach Hause.

    Oliver lächelte, murmelte etwas.

    »Wie bitte?«

    Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Magnetschnur. »Wie Perlen an einer Schnur.«

    Jetzt verstand ich erst. Ich erwiderte sein Lächeln, ließ den Blick über die anderen Fotos schweifen und spürte auf einmal einen leichten Druck auf der Brust, ohne genau zu wissen, warum. Der Kaffee begann zu blubbern, zuerst nur leise, dann immer lauter. Der würzige Duft verteilte sich in der Küche. Ich stand auf, ließ zwei-, dreimal die Schultern kreisen und war froh, dass das Engegefühl wieder verschwand. Ich stellte Milch und Zucker auf den Tisch, schenkte ein.

    Oliver tippte auf seinem Handy herum, zeigte mir ein Foto von sich und einem anderen. Der andere überragte Oliver um einen Kopf und hatte verstrubelte, dunkle Haare. »Das ist Samuel. Bei ihm habe ich in Basel gewohnt. Ein toller Typ, ihr solltet euch mal kennenlernen.«

    Ich blickte auf die Uhr, morgen hatte ich Frühdienst. Falls ich gleich einschlafen konnte, blieben mir noch knapp sechs Stunden, bis der Wecker klingeln würde. Ich erhob mich vom Tisch und ließ Wasser ins Spülbecken laufen. Oliver griff nach dem Geschirrtuch, erzählte von Samuel. Die beiden schienen sich gut verstanden zu haben. Basketball, eine Wohnung, Altbau, mitten in Basel, ein kleiner Sohn – ich hörte nur mit einem Ohr zu. Ich war auf einmal sehr müde.

    Nach dem Abwasch betraten wir nacheinander das Bad, wünschten uns eine gute Nacht. Wenig später lag ich im Bett und bekam mit, wie sich Oliver im Zimmer nebenan ebenfalls zum Schlafen hinlegte. Meine Fotos und Erinnerungen wie zur Perlenschnur aufgefädelt, ein schönes Bild. Wie schnell doch die Jahre vorbeizogen. Ich wollte versuchen, mir den Glanz zu bewahren, auch jener Perlen, die bereits aus meinem Leben verschwunden waren. Der Lichtspalt unter der zugezogenen Schiebetür, die unsere Zimmer trennte, erlosch und kurz darauf schlief ich ein.

    *

    Das hell erleuchtete Stationszimmer stand wie eine Laterne mitten im Flur. Alles war ruhig. Normalerweise wurde ich frühmorgens auf dem Weg vom Foyer ins Stationszimmer bereits mehrfach zur Seite genommen von Arbeitskolleginnen, die Hilfe brauchten, meistens auch von Herrn Sieber, der nicht mehr schlafen konnte und das Eintreffen der Zeitung erwartete. Nach der kurzen Nacht war ich froh, langsam in den Tag starten zu können. Ich schob die Glastür auf und begrüßte Sara, die über die Ablage gebeugt Tabletten in kleine Plastikbehälter abzählte. Das feine, regelmäßige Klacken klang wie das Ticken der Uhren in Herrn Rothenbergs Zimmer. Sara hob den Kopf. »Anna, meine Liebe. Früh dran?«

    Ich zog mein Handy aus der Tasche, prüfte die Uhrzeit. Mein Dienst begann in zehn Minuten. »Geht so«, murmelte ich und schob mich zum Umziehen an Sara vorbei in den hinteren Teil des Raums, der durch hohe Garderobenschränke abgetrennt war. Die Arbeitskleidung bestand aus einer weißen Hose und einem fliederfarbenen Oberteil mit einer asymmetrisch verlaufenden Reihe von Druckknöpfen. Noch immer mit dem Zuknöpfen beschäftigt, ging ich wieder nach vorn, nahm zwei Tassen vom Abtropfgestell, schob sie unter den Kolben der Kaffeemaschine, und schaute zu, wie der Kaffee langsam herabfloss. Ich kippte zwei Löffel Zucker in meine Tasse. Ohne Zucker im Kaffee wurde ich morgens nicht wach.

    »Hattest du viel zu tun?«, fragte ich Sara. Vor sieben Jahren, als ich in der Linde angefangen hatte, waren wir nachts noch zu dritt gewesen und die Nachtschichten hatten eindeutig mehr Spaß gemacht.

    Sara verstaute die Plastikboxen mit den Medikamenten im Schrank, ließ sich neben mir auf einen

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