Tota und das geheimnis der lagune
Von Lidia Giusso
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Buchvorschau
Tota und das geheimnis der lagune - Lidia Giusso
Lidia Giusso
TOTA
UND DAS GEHEIMNIS
DER LAGUNE
Literarisches Eigentum vorbehalten
© Lidia Giusso
© Ikonos Editore (hinsichtlich des Verlagswerks) - editoria.ikonos.tv
Aus dem Italienischen von Susanne Schwab
Grafik und Illustrationen von Martin Cambriglia (www.martincambriglia.com)
Die auch nur teilweise Reproduktion des Textes und der Bilder, die in dieser Publikation enthalten sind, ist ohne vorherige Genehmigung verboten.
I Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Die Kindheit ist der Boden,
auf dem wir unser Leben lang wandern.
(Lya Luft)
1
DER SOMMER BEGINNT
Die Sonne brennt herab und große Bäume spenden einem der Gärten der Insel Schatten. Wunderschöne Bienenspechte mit knallbunten Farben, Stockenten, Purpurreiher und viele andere Zugvögel streifen das Wasser der Lagune im Flug: ein Sumpfgebiet, wo auch viele Fischarten und unzählige Blumen und Pflanzen, wie das Federgras, ihre Heimat finden: ein Ort, an dem die Zeit stillsteht. Nicht weit vom Festland entfernt, verborgen zwischen dem Schilf, liegt die Fischerinsel: Dort stehen die einstigen, vollkommen aus Schilfrohr bedeckten Hütten, eine Baukunst, die von den Fischern von Generation zu Generation überliefert wurde.
Wie jeden Sommer verbringt Carlotta hier gemeinsam mit ihren Großeltern die Ferien, an diesem für sie ganz besonderen Ort, der nur durch kleine Brücken, ähnlich einer Schwelle zwischen dem Früher und Jetzt, mit dem Festland verbunden ist.
Heute will Carlotta im Schlamm der Lagune Würmer suchen: Schon als sie noch ein kleines Kind war, hatte ihr Opa Francesco, ein im ganzen Ort bekannter Fischer, die beste Methode zum Würmersuchen beigebracht.
„Heute ist mein Glückstag!", ruft das Mädchen plötzlich aus: Sie hat fünf Würmer gefunden!
Der Schlammgeruch ist zwar nicht besonders appetitlich, doch ihre Freude ist riesengroß. Die Hütte der Großeltern von Carlotta ist die einzige auf der Insel, die ganz rund gebaut ist, mit nur wenigen und kleinen Fenstern und einer von Ziegelsteinen umgebenen Feuerstelle, um den Fisch zu grillen. Die Hütten wurden ursprünglich als Zufluchtsort in der Jagd- und Fischsaison errichtet, jedoch später zum Sommerdomizil umfunktioniert, um die Traditionen der Vergangenheit aufrechtzuerhalten. An diesem kleinen und magischen Ort kann man der Stille der Natur lauschen, dem Kreischen der Möwen, dem Rattern der Fahrräder, die über die wackeligen Holzbretter der Brücken fahren, dem Geschnatter der Enten und all den Geräuschen, die die Insel von sich gibt.
Carlotta liebt das Angeln, am liebsten auf dem Boot ihres Großvaters, das an der privaten Anlegestelle vertäut ist, die über eine der zwei Brücken erreicht werden kann, welche er einige Jahre zuvor selbst erbaut hatte. Hier kann sie sich nämlich, wenn sie sich weit nach vorne beugt, dem Schilf, wo es vor Fischen wimmelt, am besten nähern.
„Kelly, nein! Denk nicht mal daran!"
Mit einer brüsken Bewegung greift Carlotta nach dem Plastikbecher mit den Würmern, den sie auf den Steg gestellt hatte und bringt ihn auf dem Boot in Sicherheit. Kelly legt sich wieder hin: Sie ist die Hündin ihrer Großeltern, ein unbeschreiblich sanfter, etwa dreijähriger Boxer, dessen Fell an die Mähne eines Löwen erinnert. Die Hündin vertraut Tota bedingungslos und folgt ihr auf Schritt und Tritt. Sie ist die Königin der Insel, kennt jede Ecke und oft verlässt sie die Hütte an Totas Seite, um voller Neugier anderen Menschen zu begegnen, die ebenfalls ihre Sommertage an diesem besonderen Ort verbringen.
Heute steht die Sonne hoch, die Hitze macht sich bemerkbar und Totas Augen ruhen konzentriert auf der schmalen Form des Schwimmers ihrer Angelrute, der anzeigt, wenn ein Fisch angebissen hat. Seine leuchtend rote Farbe hypnotisiert sie beinahe. Plötzlich wird sie beim Angeln jedoch durch das Annähern des Touristenschiffs „Arcobaleno" in der Ferne unterbrochen, das vom kleinen Hafen des Fischerdorfs ablegt und die Möglichkeit zur Besichtigung der Lagunenlandschaft bietet. Tota springt auf und beginnt wild mit der Hand zu winken: Wie immer grüßt sie die Passagiere, die ihr freudig zurückwinken.
***
Opa Francesco ist im Schuppen. In der rechten Hand hält er einen Benzinkanister für den Motor seines Boots, als er auf dem Kies plötzlich das unverwechselbare Knirschen der treuen, grünen Stiefel seines Kindheitsfreundes, Nino, hört. Mit seinem schlanken Körper und dem olivfarbenen Teint eilt der Mann zu Großvater Francesco. „Giovanna sagte mir, dass ich dich hier finden würde", meint Nino und kreuzt den Blick des Großvaters.
„Nino, was ist los? Warum machst du so ein Gesicht?", fragt Großvater als er den verstörten Gesichtsausdruck seines Freundes bemerkt.
„Er ist wieder da!"
„Wer?"
„Er ist wieder da!, sagt Nino erneut. In seinen Augen spiegelt sich Angst. „Hast du verstanden, Francesco? Er ist wieder da!
Ohne mit der Wimper zu zucken, starren die Augen des Großvaters auf den Mund seines Freundes. Die Worte hallen in seinem Kopf wider. „Das kann nicht möglich sein, denkt er bei sich, „was quasselt er nur daher?
„Und wenn die Insel noch mal in Flammen aufgeht?", drängt Nino beunruhigt weiter.
„Sprich leiser!, flüstert der Großvater. „Rede keinen Unsinn! Wir reden später darüber.
„Nein, wir haben das Problem jetzt! „Beruhige dich, Nino! Nach dem Mittagessen komme ich zu dir
, entgegnet ihm der Großvater und gibt ihm zum Verstehen, dass jetzt nicht der richtige Moment ist, um darüber zu reden.
Noch sichtbar beunruhigt geht Nino durch das Tor und begibt sich zu seiner Hütte. Der Großvater betrachtet ihn nachdenklich. Die Worte seines Fischerfreundes erscheinen ihm vollkommen absurd. Wieder da? Was für ein Unsinn, unmöglich, und doch ...
Der Duft des Fischeintopfs nach traditionellem Rezept, der sich im ganzen Garten verbreitet, holt ihn die Gegenwart zurück: Großmutter Giovanna bereitet eine ihrer Spezialitäten zu: Sie wird broetto genannt und ist ein typisches Gericht der Gegend, das mit einer weißen Maisschnitte serviert wird. Großvater Francesco nimmt wieder den Benzinkanister in die Hand, füllt den Tank seines Boots voll und ordnet die Netze für seine nächste Ausfahrt in die Lagune. Die finsteren Gedanken können warten.
***
Nachdem das Ausflugsschiff „Arcobaleno vorbeigefahren ist, konzentriert sich Tota nun wieder auf den Schwimmer. Auf einmal hört sie das Bellen von zwei Hunden in der Ferne. Sie befestigt mit dem Bootsseil die Angelrute und läuft eilig durch das schwere Eisentor: Sogleich springen zwei großen Jagdhunde an ihr hoch und begrüßen sie übermütig. „Ihr seid es! Ich wusste es!
, ruft Tota aus.
„Hallo Carlotta, schön, dass du wieder da bist!, freut sich ein großer Mann mit einem dicken, schwarzen Schnurrbart, der gleich nach den Hunden die Brücke erreicht hat. „Wann bis du denn angekommen?
„Vor zwei Tagen."
Tota hält sich am Brückengeländer fest und streichelt amüsiert Buio und Luce, während Kelly im Garten eingesperrt ist und ihnen neidisch zusieht. Die beiden sorgen immer für jede Menge Unruhe. Meist laufen sie auf der Brücke wie verrückt auf und ab, schwimmen in der kleinen Wasserstraße und lassen überall Spuren zurück bevor sie wieder in ihre Hundehütten zurückkehren. Berto wohnt nicht auf der Insel, doch er sucht sie jeden Tag auf, um seinen Hunden das Futter zu bringen, wie auch den vielen Enten und Entenküken im großen Teich, den er vor mehreren Jahren angelegt hat.
Als der Mann Tota fragt, bis wann sie bei ihren Großeltern bliebe, wird ihre Aufmerksamkeit von der Silhouette einer Frau auf der Brücke geweckt, welche die Landschaft betrachtet, als wäre sie zum ersten Mal auf der Insel. Sie verabschiedet sich schnell von Berto und den beiden Hunden, holt Kelly und nähert sich der Frau neugierig.
„Hallo!", ruft sie, als sie nur ein paar Schritte von ihr entfernt stehen bleibt.
„Guten Tag! Heute ist ein besonders warmer Tag, findest du nicht auch?", entgegnet ihr die junge Frau.
Sie hat einen schneeweißen Teint und einen melancholischen Blick. In der Hand hält sie einen kleinen Holzkoffer. Mit einem alten Fächer in der anderen Hand wedelt sie sich Luft zu.
„Bist du zum ersten Mal auf der Insel?", fragt Tota, denn sie hat sie hier noch nie gesehen.
„Nicht ganz... Die junge Frau lächelt ihr zu. „Wie heißt du?
„Carlotta, doch alle nennen mich Tota, erklärt das Mädchen. „Und das ist Kelly! Und du?
, fragt sie dann und betrachtet das lange weiße Kleid, das hier und da mit bunten Farbflecken beschmutzt ist.
„Ich heiße Aria."
„Aria? Wie die Luft, die wir atmen?" Tota hatte diesen Namen noch nie gehört.
„Ja. Genau."
„Wow!"
Der große Strohhut mit dem schwarzen Band schützt die Augen der Frau vor der Sonne, aber auf ihrem Gesicht erscheint ein breites Lächeln. Tota würde gerne noch länger mit ihr plaudern, doch auf einmal hört sie ihre Großmutter, die nach ihr ruft.
„Carlotta, wo bist du?"
„Ich bin hier auf dem Steg, Oma!, antwortet Tota mit lauter Stimme. „Komm, das Mittagessen ist fertig
, erwidert die Großmutter.
„Wir kommen!" Tota dreht sich dann zu ihrer