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DIE HOFFNUNG EINES KINDES
DIE HOFFNUNG EINES KINDES
DIE HOFFNUNG EINES KINDES
eBook740 Seiten9 Stunden

DIE HOFFNUNG EINES KINDES

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Über dieses E-Book

Der fünfzehnjährige Max kämpft gegen ein entsetzliches Schicksal. Was ihm angetan wurde, hätte jeden anderen zerbrochen. Doch nicht Max: Mit unbändiger Kraft kämpft er um seine Freiheit und klammert sich an die Hoffnung, seinen leiblichen Vater zu finden, den er vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hat.

Max’ Reise beginnt in jener Nacht, in der sich die Ereignisse zu einem realen Albtraum zuspitzen. Er rennt los - seinem Leben entgegen -, lässt seine Peiniger und den jahrelangen Horror hinter sich. Allerdings wird er nicht nur in seinen Träumen vom Wahnsinn seiner Kindheit eingeholt...

DIE HOFFNUNG EINES KINDES – ein kompromissloser und Tabus brechender Thriller von Inka Mareila, erschütternd aktuell und ganz sicher nichts für schwache Nerven.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum22. März 2020
ISBN9783748732655
DIE HOFFNUNG EINES KINDES

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    Buchvorschau

    DIE HOFFNUNG EINES KINDES - Inka Mareila

    Das Buch

    Der fünfzehnjährige Max kämpft gegen ein entsetzliches Schicksal. Was ihm angetan wurde, hätte jeden anderen zerbrochen. Doch nicht Max: Mit unbändiger Kraft kämpft er um seine Freiheit und klammert sich an die Hoffnung, seinen leiblichen Vater zu finden, den er vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hat.

    Max’ Reise beginnt in jener Nacht, in der sich die Ereignisse zu einem realen Albtraum zuspitzen. Er rennt los - seinem Leben entgegen -, lässt seine Peiniger und den jahrelangen Horror hinter sich. Allerdings wird er nicht nur in seinen Träumen vom Wahnsinn seiner Kindheit eingeholt...

    DIE HOFFNUNG EINES KINDES – ein kompromissloser und Tabus brechender Thriller von Inka Mareila, erschütternd aktuell und ganz sicher nichts für schwache Nerven.

    Die Autorin

    Inka Mareila, Jahrgang 1981.

    Inka Mareila ist eine deutsche Schriftstellerin, die ihre Karriere im Jahr 2013 mit Science-Fiction- und Horror-Romanen begann.

    Ihr Debüt – neben fünf Bänden für die Zombie-Serie Violent Earth - war die dystopische SF-Trilogie Fynomenon.

    Mehrfach wurde sie in den Folgejahren für den Vincent Preis nominiert: 2013 für die Kurzgeschichte Gramla, 2014 für Mordsucht GmbH und Co. KG (vier Horror-Märchen) und schließlich 2015 für den Mystery-Thriller Fleischfang – Parademonium.

    2015 folgten die Romane Gladium - Schattenlicht und Gladium - Die Cyborg-Dämonin sowie das Drama Lila Floh in Lavendel - Das Rätsel des stummen Kindes. Für Phillip Schmidts SF-Serie Schattengewächse schrieb sie 2016 den Roman Tod und Spiele.

    Außergewöhnliche Wege beschritt sie anschließend mit dem Kinderbuch/Spendenprojekt Die Superalma gibt es wirklich - ein Buch, gemeinsam verfasst mit neun Kindern und deren alleinerziehenden Müttern.

    Nach der Veröffentlichung des modernen Märchens Milans bunte Flügel (2016) entschied sie sich für eine neue thematische Richtung; insbesondere mit ihren frühen Horror-Geschichten konnte sie sich nicht länger identifizieren. Sie trennte sich von ihrem bisherigen Verlag, um schriftstellerisch mehr Freiheiten zu haben und wagte einen Neustart.

    Seither widmet sie sich vorrangig gesellschaftskritischen Texten, verfasst unerschrocken Texte zu Tabu-Themen - beispielhaft umgesetzt in ihrem aktuellen Thriller Der Feind, der im Apex-Verlag erscheint.

    DIE HOFFNUNG EINES KINDES

    ERSTER TEIL

    22.44 UHR

    Ich lausche. Habe den Beginn des Streitgesprächs nicht mitbekommen, bin gerade erst aus dem Schlaf gerissen worden, weiß also noch nicht, was genau Eddas Problem ist. Meinen Handywecker hatte ich auf zwei Uhr gestellt, aber seinen Alarm werde ich nicht mehr brauchen. Bin erschöpft und übermüdet, trotzdem hellwach. Bleibe hellwach.

    Durch die dünnen Wände höre ich jedes Wort meiner Mutter und die wütenden Befehle meines rumänischen Stiefvaters. Sie soll ihre Klappe halten und sich nicht wie eine »Bekloppte« benehmen, wiederholt er immer und immer wieder. Sie soll gefälligst machen, was er sagt, und ihren Dienst in seinen »Geschäften« weiterführen. Aber Edda will nicht mehr. Ich weiß nicht warum, schließlich verdiente sie bisher ordentlich mit, was sie auch immer ganz klasse fand; jedenfalls vermittelte sie bis dato den Eindruck. Sie könnte sich mit ihrem Anteil auch in Zukunft ihre Süchte finanzieren, sich Unmengen von Champagner kaufen und ihre Brüste vergrößern lassen, auch ein drittes und viertes Mal. Sie könnte sich ein Anal-Bleaching leisten, was sie sich ja schon so lange wünscht, und ihre Schamlippen verkleinern lassen und so weiter...

    Diese Frau ist so tief gesunken. Nach der Trennung von meinem leiblichen Vater, über den sie grundsätzlich nie spricht und von dem ich mir meine wenigen verschwommenen Erinnerungen nur mit Mühe ins Gedächtnis rufen kann, ging es bergab, und wie! Sie war ein aufgehender Stern am Modehimmel, der es sicherlich weit gebracht hätte, wenn sie nicht so schwach gewesen wäre, wenn sie sich nicht sämtlichen Lastern ergeben hätte, ohne auch nur eine Sekunde über ihren Zerfall nachzudenken. Sie führt sich auf, als hätte sie die Worte Gesundheit und Würde noch nie gehört. Inzwischen ist sie kaum mehr von einem Transvestiten zu unterscheiden, der sich hauptsächlich von Junkfood ernährt und mit Koks antreibt.

    Ich stehe auf meinen von Motten zerfressenen Decken und drücke mein Ohr gegen die Wand. Ich höre, wie er sie anbrüllt, dann, wie er sie schlägt. Damit habe ich nicht gerechnet. Für gewöhnlich bin ich derjenige, der die Prügel einstecken muss. Sie hat er bisher noch nie geschlagen, hat sie immer vergöttert. Sie war sein Sahnestück, seine geile Schnecke...

    Mich nennt er Schwanzlutscher oder Arschkriecher, häufig auch kleiner Pisser. So klein bin ich gar nicht. Auf 1,68 Meter hab ich es inzwischen gebracht, und das, obwohl ich zu wenig esse, weil ich mir meine Nahrungsmittel seit Jahren selbst kaufen muss und eh kaum Appetit habe. Im Kühlschrank stehen bloß Sekt- und Bierflaschen, außerdem etliche Hormon-Ampullen.

    Edda schreit schrill und bettelt: »Bitte, hör auf!« Und ich bekomme Angst. Heute ist etwas anders als sonst. Irgendwie fühlt sich die Luft um mich herum fremd an. Es ist, als könnte ich den Gestank wieder wahrnehmen, an den sich meine Nase doch schon längst gewöhnt hatte.

    Vor einigen Wochen hab ich beschlossen abzuhauen, aber erst seit heute weiß ich, dass ich es in dieser Nacht durchziehen werde. Ich dachte, der 1. Juni wäre ein gutes Datum. Inzwischen bezweifle ich meine Entscheidung, weil im Wohnzimmer gerade Grenzen plattgetrampelt werden. Weil Yegors cholerische Anfälle selbst vor Edda keinen Halt mehr machen, womit er eine neue Stufe der Gefährlichkeit erreicht hat. Es ist, als würde mir in diesen Sekunden eine höhere Macht einen Strich durch meinen fragwürdigen Plan ziehen, weil dieser ohnehin nicht gelingen könnte: Zu viele Lücken und Fragezeichen, ein bedrohliches Nichtwissen, wie ich die Positionen meines Fluchtplans umsetzen soll.

    Ich habe eine Scheißangst diesen Schritt zu tun, denn wenn mein Vorhaben misslingt, wird mich Yegor killen. Das weiß ich. Ich bin ihm nämlich relativ egal, bin nur ein Gegenstand, mit dem er Geld verdienen kann, wie ein Tier, das gehorchen muss, um ihm auf irgendeine perverse Weise wichtig zu sein. Ich bin sein kleiner Pisser, für den er jedes Mal dreihundertfünfzig Euro kassiert, wenn fremde Männer mit mir in der sogenannten Fickhöhle verschwinden, einem muffigen, winzigen Zimmer, in dem bloß ein breites Bett und zwei Nachttischchen stehen. Der Rollladen ist immer unten, und an der Wand prangt der Spruch: »Love makes you healthy and happy.« Das Wort Love ist durchgestrichen. Darüber hat Yegor im Suff »Sex, porn and pain« geschrieben – mit einem vollgesaugten Tampon von Edda. Den hat er an einen kleinen Nagel gehängt, wie ein Stück rostrote Kreide neben eine Schiefertafel.

    Dreihundertfünfzig Euro... Ich weiß nicht, ob ich mich geehrt fühlen soll, dass er auf diese Art wöchentlich tausendvierhundert Euro einnimmt. Yegor scheint sich jedenfalls sehr darüber zu freuen, denn er ist nur selten sauer, wenn ich anschließend Sperma auf den Boden kotze. Manchmal drückt er mich dann da rein, kickt mir in die Seite oder in meinen nackten Hintern und brüllt mich an. Schreit dann, wie widerlich ich bin, wie ekelhaft, ein Stück Hundescheiße. Meistens tröste ich mich damit, dass andere Menschen noch Schlimmeres erleben müssen, dass in Indien Kinder zu Krüppeln gemacht werden, damit sie mehr Geld erbetteln können. Ich gehöre eben auch zu den Menschen, die nichts zu lachen haben.

    Ich kann immer weniger verstehen und spüren, aber wenigstens habe ich kapiert, dass ich schnellstmöglich von hier verschwinden muss, auch wenn ich keine zweite Chance bekommen werde. Fakt ist: wenn ich es nicht tue, bin ich bald ein heillos seelischer Krüppel. Noch glaube ich an meine Heilung und noch stärkt mich die echte Hoffnung, meinen Vater zu finden, den Mann, der mich sechs Jahre bei sich hatte, damals, als Edda und er sich noch liebten beziehungsweise so taten als ob.

    Ich habe zwei oder drei Halbbrüder. Leider erinnere ich mich nicht mehr genau an alles, nur noch schemenhaft. Aber ich erinnere mich ganz klar an das Lebensgefühl, daran, wie glücklich ich war. Und diese Erinnerung ist meine Sonne, das einzige Licht in meinem Düsterwald und für mich der beste Grund, endlich meine einzige Chance zu nutzen, bevor meine Hoffnung so leise wird, dass ich sie nicht mehr hören kann.

    Nebenan ist es ruhiger geworden. Ich höre bloß noch Eddas jämmerliches Weinen.

    Mitleid? Nein. Ich verachte sie.

    Wenn ich in ihre Augen sehe, um zu erkennen, wie weit wir uns inzwischen voneinander entfernt haben, weicht sie mir aus. Kein Wunder. Sie hat mich verraten. Seit meinem siebten Lebensjahr schaut sie gleichgültig zu, wenn Yegor mit meinem Körper Geschäfte macht. Hass? Nein, sie ist mir egal. Jedenfalls dachte ich das bis heute. Gerade eben, als sie so schrie, habe ich doch eine leise Angst gespürt. Um sie oder um mich? Ich kann es nicht genau sagen.

    Ich weiß nur, dass ich lieber in Gedanken versinke, als endlich den ersten Schritt durch meine Tür zu wagen...

    Wenn Yegor so sauer ist, dass er sogar sie, sein einstiges Objekt der Begierde und die Frau, mit der er überall angeben konnte, schlägt, dann rechne ich fest damit, dass er nachher auch noch zu mir kommt.

    Ich habe Angst. Angst um mich. Nicht vor den Schmerzen. Es betrifft eher die Furcht vor seinem Gesicht, vor seinen bösen Augen und den Fäusten, die auf mich einhämmern. Wenn ich Yegor sehe, passiert nie etwas Gutes. Er ist zu meiner personifizierten Panik geworden. Diese gnadenlose Bestie lebt mit mir in meinem Gefängnis, einem baufälligen Mehrfamilienhaus, in dem die meisten Wohnungen leer stehen. Meine Angst misst 2,10 Meter, besitzt monströse Muskeln, ist herzlos und empfindet freudige Erregung, wenn sie Schwächere quälen kann.

    Yegor hat richtig viel Kraft. Er pumpt sich mit Steroiden und Enantaten voll. Die Hormon-Ampullen im Kühlschrank sind seine. Wenn er das Zeug weglässt, fangen seine Brustwarzen an zu jucken, dann benimmt er sich noch ungeduldiger als sonst.

    Ich starre auf meinen zerschlissenen Rucksack, der vollgepackt in der Ecke liegt. Ich gehe noch einmal alles durch: Yegors Schlüsselbund liegt auf der Kommode im Flur. Mein klappriges Fahrrad habe ich heute nicht in den Keller gestellt. Es steht im Hinterhof, direkt neben der kaputten Haustür, vorausgesetzt, es steht da immer noch. Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich bloß die Mauer vom Nachbargebäude. Falls mein Rad inzwischen geklaut wurde, was in meinem Viertel leider häufiger vorkommt, bin ich schon so gut wie tot.

    Ich habe meine Blechbüchse mit meinem angesparten Geld in den Rucksack gepackt. 2856 Euro, dank meiner Minijobs und dem Sex mit Paul, der mich manchmal in den Ferien zu sich genommen hat. Ein 37-jähriger, hochrangiger IT-Manager. Yegor weiß nicht, dass mir Paul regelmäßig Geld zugesteckt hat, weil er dreihundertfünfzig Euro pro Tag beziehungsweise den Pauschalbetrag für eine ganze Woche – zweitausend Euro –, für den Verkehr mit mir als »zu wenig« erachtet. Danke Paul, du irres Scheusal! Dank dir kann ich mir den Zug nach Nirgendwo leisten. Ich hab nämlich dummerweise keine Ahnung, wo mein Vater steckt. Ich weiß nur noch, dass er Ben heißt. Ben Klein oder so. Sein Nachname war kurz.

    Edda und ich heißen Bellani mit Nachnamen. Edda ist bloß die Kurzform von ihrem richtigen Namen, den ich nicht kenne. So viel zur Beziehung zu meiner vollgedröhnten Mutter. Sie kommt aus São José. Ich bin also halb Brasilianer und halb Norweger, schätze ich, weil ich mich zu den blassen Typen zählen muss: aschblonde Haare, weißgraue Augen und so käsig, dass ich im Sonnenschein strahle, als wäre ich ein Abgesandter Gottes. Nun gut, das wäre sicher anders, wenn ich mich mehr an der frischen Luft aufhielte, aber ich werde kontrolliert, muss immer sagen, wohin ich gehe. Für jeden Termin muss ich einen Beweis vorlegen, und selbst für meinen Gehorsam werde ich bestraft, bekomme meist eine Faust in die Rippen oder eine Ohrfeige. Das Einzige, was an mir farbig ist, sind meine Blutergüsse.

    Kein Internet, keinen sinnvoll gefüllten Kühlschrank, kein Bett im eigentlichen Sinne, nichts dergleichen, aber ich bin stolzer Besitzer eines ›Knüppels‹ mit Telefonfunktion, eines steinalten Handys, das ich mal unter einem erfrorenen Obdachlosen gefunden habe. Er lag auf einer Parkbank, sein Handy war durch die Latten gefallen und ich hab es mir geschnappt, als ich morgens zur Schule ging. Ich hab mir eine Prepaid-Karte, ein Netzteil und Kopfhörer dafür besorgt. Mit dem Ding kann ich wenigstens Radio hören. Yegor hätte mir jedes moderne Handy weggenommen, aber über meinen nur mäßig funktionierenden ›Knochen‹ macht er sich gerne lustig. Natürlich hab ich schon häufig mit dem Gedanken gespielt, mir ein besseres Handy zu kaufen, aber mal ehrlich: Wie groß wären meine Chancen, dass mein Regelverstoß unbemerkt bliebe?

    Ich kenne Yegor, das wichtigste Glied im Berliner Pädophilenring... Die Typen sind durchorganisiert wie die Camorra und genauso kaltblütig. Ich habe eine Scheißangst vor Yegor, auch wenn ich mir Mühe gebe, das zu verbergen. Ich gönne ihm meine Angst nicht. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass ich eine perfekt geplante Aktion nicht lange vor ihm verheimlichen könnte. Er merkt mir alles an. Deswegen glaube ich, meine Flucht könnte tatsächlich gelingen, weil ich die Entscheidung dazu spontan getroffen habe, nachdem ich den Schlüssel auf der Kommode entdeckte. Diese Nachlässigkeit Yegors ist einmalig! Der Mistkerl hat bestimmt keine Ahnung.

    Nebenan ist es still geworden. Ich hoffe, die beiden gehen endlich besoffen und zugefixt ins Bett, so wie sie es jede Nacht machen. Sie pfeifen sich immer Heroin rein. Hero ist ihr Sandmännchen.

    Geht endlich ins Bett, verdammt!

    Ich sehne mich so sehr danach, meinem Vater zu begegnen, möchte wissen, ob ich all das spüren kann, was meine Mitschüler empfinden, wenn sie von ihren Eltern sprechen. Geborgenheit, Liebe, Nähe ohne Hintergedanken, Wärme, Lachen, Frieden, Sicherheit. Keine Angst. Ein Leben ohne Panik. Ich würde mir auf der Stelle meine Hände abhacken lassen, wenn er dafür sofort vor mir stehen und mich hier rausholen würde.

    In den letzten Monaten hat sich mein Verlangen hier rauszuwollen dermaßen gesteigert, dass ich kaum noch schlafen, geschweige denn essen kann. Noch weniger als sonst. Seit vierzehn Tagen hab ich Ausschlag. Ich weiß nicht, was das ist, vermute aber, dass es mit meiner Psyche zu tun hat. Es wird immer schlimmer. In den Leisten, in meinen Arm- und Kniebeugen, auf meiner Brust und seit heute Morgen auch an einer kleinen Stelle hinter dem rechten Ohr, juckt es wie bescheuert. Es ist fast so, als wollten mich die scharlachroten Punkte daran erinnern, so schnell wie möglich abzuhauen. Aber wohin? Wenn ich meinen Vater nicht finde, was dann?

    Klar, es gibt das Jugendamt und andere staatliche Einrichtungen, aber sicher wäre ich dort nicht. Ich würde in der ständigen Angst leben, dass Yegor und seine versauten Gorillas mich aufspüren. Er würde alles tun, um zu verhindern, dass ich seine perverse Organisation auffliegen lasse. Alles! Dabei würde ich niemals wagen, ihn anzuzeigen, schließlich kann mich niemand vor ihm schützen. Falls ich Ben nicht finde, werde ich untertauchen. Irgendwo. Im Berliner Raum bleibe ich auf keinen Fall! Vielleicht kann ich mich ins Ausland schmuggeln?

    Edda jammert wieder – viel lauter als vorhin. Yegor äfft sie nach: »Buhuuu, huhuuuu, heul doch, du zugeschissene Hure!«

    Tja, Edda, du bist nicht mehr hübsch genug, hast dich gehen lassen, hast mit Yegors Anbetung gespielt und sie verloren. Du hast mit allem gespielt, auch mit meiner Zuneigung und deiner Gesundheit, deinem Glück und mit Bens Liebe, mit allem.

    Bis heute hab ich brav meine Klappe gehalten. Niemand weiß, was in diesen vier Wänden abgeht. Niemand weiß, dass mein spartanisch eingerichtetes Zimmer mit den herunterhängenden Tapetenstücken nur das kleinste Übel und außerdem das mit Abstand hässlichste Zimmer von Yegors Bude ist. Yegor braucht die unscheinbare Wohnung bloß, um seine dubiosen Machenschaften zu verdecken. Wenn er genug Kohle gescheffelt hat, wird er sich ins Ausland absetzen.

    Freunde habe ich übrigens keine. Kein Wunder. Ich bin täglich mies drauf, will sogar unausstehlich sein. Nicht nur, weil mir alles andere zu viel Mühe bereiten würde, sondern auch, weil gute Freunde mich früher oder später unablässig darauf ansprechen würden, warum ich auch im Sommer langärmlige Shirts trage und immer so verhärmt Löcher in die Luft starre. Dafür habe ich keine Nerven übrig. Ich will keine Freunde, ich werde mich selbst aus meiner Lage befreien.

    Vielleicht habe ich zu lange vor mich hin geträumt und mich in meiner Einsamkeit in Vorstellungen verloren, die wahrscheinlich niemals wahr werden, aber meine Gedankeninseln sind das Einzige, woran ich mich festhalten kann. Ich verbiete mir einzureden, dass mich Ben nie bei sich haben wollte oder mich vergessen hat. Ich glaube an mein Glück, irgendwo in der Zukunft, und das Gute daran ist, dieser Glaube braucht keinen langen Atem mehr, denn wenn ich es heute vermassle, werde ich sowieso ganz schnell von der Bildfläche verschwinden... in einer Prügelorgie zu Brei geschlagen und irgendwo verbuddelt werden. Verrotten wie Sven, der gedroht hat, den Bullen zu erzählen, was er mal im Hinterhof beobachten konnte, sollte Yegor ihm kein Schweigegeld zahlen. Das war ’ne ziemlich dumme Erpressung. Ich hätte mich das nicht getraut, Sven!

    Verrückterweise habe ich davor keine Angst, also vor den letzten Schlägen, die mich in den Tod befördern. Ich habe nur Panik vor der Spannung, die dann entsteht, wenn ich meinen Fuß in den Flur setze und weiß: Jetzt tue ich es! Jetzt haue ich ab! Wenn ich so leise wie möglich den Schlüssel von der Kommode klaue, um die verfluchte Haustür aufzuschließen. Dann werde ich Angst haben.

    Ab heute ist Schluss. Mein absoluter Gehorsam und die Erniedrigungen, die Schmerzen und alles andere finden in dieser Nacht ihr Ende; auf die eine oder andere Art. Ich bin jetzt ein Flüchtling, der sich am Ufer eines tobenden Meeres in eine Nussschale setzt, um über den Ozean zu treiben. Ohne Schwimmweste. Und wenn ich dabei sterben sollte, ist es okay. Im Tod habe ich wenigstens meine Ruhe, dann soll es eben so sein. Die friedliche Ewigkeit macht mir keine Angst.

    Edda redet eindringlich, Yegor verhält sich leise, scheint zuzuhören. Vielleicht beruhigt sich die Situation ja wieder? Hoffentlich!

    Ich wundere mich, was andere immer über missbrauchte Kinder sagen. Das Thema hatten wir heute in Gemeinschaftskunde. Offenbar gehöre ich nicht zu den gebrochenen Seelen. Ich habe meinen Stolz noch nicht verloren, halte mich für clever, auch wenn ich nirgends dazugehöre. Keiner in meiner Schule legt sich freiwillig mit mir an. Die wissen nämlich, dass mir Schmerzen nicht das Geringste ausmachen und meine Angstschwelle sehr weit oben liegt. Klar, war ich deshalb schon oft beim Rektor, aber weil ich mich lediglich in Streitereien eingemischt habe, um Schwächeren zu helfen, konnte ich mich stets aus der Affäre ziehen. In Robin-Hood-Schlägereien kann ich meinen Frust ablassen, ganz nebenbei habe ich mir dadurch sogar den Heldenstatus eingeheimst.

    Jeder, der mich kennt, weiß: ›Max hat keine Angst. Max ist stark. Max hilft Schwächeren.‹ Das ist mir wichtig und das soll auch so bleiben. Vor allem stelle ich auf diese Art keine auffällig schüchterne, missbrauchte Seele dar, sondern bloß einen unerschrockenen und aggressiven Rebellen, der Veilchen mit sich herumträgt, als wären sie coole Accessoires.

    Ich bin extrem nachdenklich und bewerte alles, was um mich herum passiert. Es ist, als würde ich in einem Gedankenuniversum leben, als wäre mein Körper nur ein praktisches Anhängsel. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich ihn brauche, also nicht wirklich. Ich lebe in meinem Kopf und da kann mir niemand etwas anhaben, da kann ich alles schaffen und aushalten. Ich weiß genau, wer ich bin, und das sage ich meiner Angst immer wieder, jede Nacht und jeden Morgen und dazwischen auch: Hey Angst, ich bin Max! Ich bin stärker als du, ich werde dich besiegen, also verpiss dich!

    Außerdem habe ich gedacht, es wäre kein Fehler, mich meiner Angst vorzustellen, schließlich begleitet sie mich ununterbrochen und zeigt mir täglich ihre Zähne. Mir einzureden, meine Angst – und nicht Yegor und seine Freier – wäre mein größter Feind, hilft mir, nicht durchzudrehen und jeden einzelnen Tag als einen Mount Everest zu betrachten, den ich heute, hier und jetzt, besteigen muss. Und morgen wieder. Und übermorgen auch.

    Ich habe mir etwas versprochen, nämlich, dass ich jeden Sadisten mit Gleichgültigkeit strafe. Nicht, dass es für denjenigen eine Strafe wäre, darum geht es mir nicht, sondern ich ignoriere alles, was meinem Gehirn Futter gibt, die Erinnerungen an perverse Spielchen lebendig werden zu lassen. Wenn ich in die Fickhöhle muss, stelle ich meinen Körper ab, drücke Knöpfe, die mich Gerüche, raue Hände, Gestöhne, Gesichter und Finger auf und in mir, wie durch eine Watteschicht erleben lassen. Mittlerweile betrachte ich die Prozeduren wie Kostenvoranschläge oder Rechnungen mit mehreren Variablen, weiß meistens, was ungefähr passieren wird, wie es abläuft und dass es nach wenigen Minuten schon wieder vorbei ist. Darauf konzentriere ich mich, auf das, was unterm Strich rauskommt, auf das »Fertig« und »War geil, Kleiner«. Auf das Geraschel von Küchenkrepp, wenn die Männer sich abwischen, und das Geräusch von Reißverschlüssen, die wieder zugehen. Auf den Geruch von Sperma. Dann ist es vorbei. Wieder überstanden, wieder überlebt. Wieder dreihundertfünfzig Euro und einen zufriedenen Yegor, der mich einfach in mein Zimmer gehen lässt und nichts mehr von mir will, weil er von seinen Kunden gehört hat, wie brav ich wieder war. Und wie geil. Und »Danke, Yegor, bis die Tage«, bis zum nächsten Mal, wenn die Herren wieder genug gespart und genug Druck haben.

    Manchmal male ich mir aus, wie ich Yegor erschlage oder ersteche oder wie ich ihm Gift in seinen heißgeliebten Birnenschnaps mische. Oder wie ich mich in ein Monster verwandle, ihn mit meinen riesigen, behaarten Pranken gegen eine Wand schleudere und ihm anschließend knurrend näher komme. Ihm, dem wimmernden Yegor, dem der Rotz aus der Nase hängt und die Sabberfäden aus dem Mund baumeln. Dann blecke ich meine Zähne. Er macht sich vor Angst in die Hose. Danach beiße ich ihm den Schwanz und den Kopf ab, kaue darauf herum und zermalme alles mit meinen Zähnen. Diesen Blutbrei spucke ich auf ihn. Erst dann fühle ich mich besänftigt.

    Rache. Ich würde es tun, wenn ich könnte. Wenn ich nur gleich stark wäre wie er, würde ich es tun, deswegen mache ich in meinem Zimmer Liegestütze und andere Übungen. Ich will kein Schwächling sein.

    Noch bin ich fünfzehn Jahre jung, zwei Köpfe kleiner als Yegor und im Vergleich zu ihm nur eine halbe Portion. Allerdings befinde ich mich auf dem besten Weg, ein starker Kerl zu werden, einer, der Yegor Paroli bieten kann, irgendwann, in ein paar Jahren. Dann komme ich zurück und bringe ihn um. Das hab ich mir fest vorgenommen. Das muss ich meiner Seele zuliebe tun, die nicht damit klarkommt, dass Bestien wie er frei herumlaufen. Es gibt zu viele, die so sind wie er. Ich kenne dreiundvierzig Gesichter pädophiler Widerlinge. Dreiundvierzig!

    Ich kenne ihre Namen, ihre Berufe, ihre familiären Situationen und jede ihrer Vorlieben und Fantasien. Das ist zu viel für den Verstand eines Heranwachsenden, das schädigt die eigene Sexualität für den Rest des Lebens, da brauche ich mir nichts vormachen. Ich werde nie normal werden, aber diese Erkenntnis macht mich nicht krank. Sterbenskrank macht mich das Wissen, weitere Tage, Wochen und Monate die Gier Wahnsinniger ertragen zu müssen. Die Nähe zu Yegor und seinen Bestien lässt mich innerlich verfaulen. Deshalb muss ich mein Leben riskieren, um eine bessere Zukunft zu finden. Rumänisches Roulette.

    Edda fängt wieder zu schreien an. Ich höre, wie er sie schlägt. Es klatscht, als würde jemand applaudieren. Gemächlicher Beifall in Zeitlupe... Batsch – batsch, batsch – batsch. Unregelmäßige Schläge. Schreie. Batsch. Ein Rufen um Hilfe. Rumbetteln. »Bitte! Bitte!«

    Batsch!

    Mein Betteln hat sie auch immer ignoriert. Jetzt weiß sie mal, wie das ist.

    Mir ist mulmig. Yegor macht weiter. Er sagt nichts mehr, aber ich kann ihn atmen hören... oder keucht er? Ich bin mir nicht sicher. Edda ist zu laut, selbst wenn sie nicht kreischt, ist sie zu laut. Sie jammert und bettelt wieder. Ich höre ein verschlucktes »Orgh«. Wahrscheinlich hat er ihr gerade in den Bauch getreten. Ich weiß, wie sich das anfühlt, ich hab früher auch immer »Orgh« gemacht. Inzwischen hab ich herausgefunden, wie ich meinen Bauch schützen kann, sodass mir nicht mehr die Luft wegbleibt.

    Sie weint. Ich lausche.

    Woher die Tränen in meinen Augen kommen...? Weiß nicht, bin mir nicht sicher. Ich glaube, dass meine Anspannung der Grund dafür ist, die Furcht davor, gleich sein Trampeln zu hören... wie sich dieser 110-Kilo-Mann meinem Zimmer nähert und die Tür aufreißt. Wie er mich ansieht. Sein wütender Blick, seine Augen, die mir sagen, wie dumm, klein, schwach und ekelhaft ich bin, obwohl ich ihm nie etwas getan habe. Seine Reibeisen-Hände...

    Ich habe eine Scheißangst.

    Ja, Angst, heute hast du mich erwischt, heute bin ich kleiner als du!

    Ich spüre meinen Schweiß. Er kitzelt meine Schläfen. Ich kratze mich hastig, wische ihn weg, bemerke mein unregelmäßiges Atmen. Viel zu flach. Ich atme wieder viel zu kurz. Mir ist schwindelig.

    Mir wird klar, jetzt ist es so weit: Ich muss gehen!

    Verdammt, ich habe nicht mal mehr den Atem zu fluchen.

    Es muss jetzt geschehen, jede Sekunde zählt. Ich spüre es so deutlich, als würde ein allwissender Geist über mir schweben und mir zurufen: »JETZT ODER NIE!«

    Wo bist du Gott?! Warum kannst du mir kein Wunder schicken?

    So eine Scheiße! Ich habe noch nie an Gott geglaubt, also warum sollte er jetzt für mich da sein?!

    Ich greife nach meinem Rucksack, höre Schreie. Eddas Körper ist gegen die Wand gefallen, gegen jene Mauer, an die ich mich eben noch anlehnte. Sie stöhnt. Jetzt brüllt Yegor. Ich kann ihn zwar hören, aber nicht verstehen. Seine Worte sind in diesem Moment nur Kauderwelsch. Sein Lärmen lässt meine Blase schrumpfen. Ich glaube, ich mache mir gleich in die Hose. Ich muss pinkeln, mindestens vier Liter!

    Edda wimmert. Laut schluchzen tut sie nicht mehr, nicht mehr so wie vorhin. Anders. Es hört sich eher so an, als würde sie sich an ihrer eigenen Spucke verschlucken. Oder daran ersticken?

    Plötzlich höre ich ein Trampeln im Flur. Yegors Trampeln!

    Kommt er jetzt zu mir?!

    Nein... Ich höre ihn in der Küche rumbrüllen: »Na warte, du Stück Scheiße, ich mach dich fertig!«

    Töpfe klappern laut, fallen scheppernd zu Boden. Schon trampelt Yegor wieder durch den Flur zurück und schlägt eine Tür zu. Er ist wieder im Wohnzimmer. Ich glaube, Edda läuft vor ihm davon. Sie ringen! Möbel und irgendwelche kleineren Gegenstände fallen zu Boden, bestimmt der Aschenbecher und die Bierflaschen... und die Fernbedienung und das Zeug aus den Regalen. Im Wohnzimmer ist doch nur so wenig Platz. Zu wenig... Sie werden gleich in den Flur... Ich muss hier raus!

    Edda brüllt panisch.

    Zitternd nähere ich mich der Tür. Ich glaube, so habe ich noch nie geschlottert. Ich wusste gar nicht, dass ich so zittern kann, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen.

    Verdammt, ich glaube... Nein, ich sterbe heute nicht!

    Heute werde ich nicht sterben, aber abhauen!

    Wie ferngesteuert lege ich meine Hand auf die Klinke. Alles in mir schreit: »RÜCKZUG! RÜCKZUG!«

    Atmen. Ruhig atmen. Ich schaffe das!

    Mein Rucksack hängt über meiner linken Schulter, meine rechte Hand drückt die Klinke. Ein Spalt. Ein Luftzug. Ich starre in den Flur. Hier ist das Licht an. Ein lautes Rumpeln lässt mich zusammenzucken. Eddas Körper ist gegen die Wohnzimmertür geprallt. Hilferufe.

    Hört das wirklich niemand?!

    Hier im Haus wohnen nur beschränkte Idioten! Mich hat auch niemand gehört. Nie!

    Kein Wunder, dass ich schon mit sieben Jahren wusste, wie unsinnig es ist, um Hilfe zu schreien oder so laut und herzzerreißend wie nur irgend möglich zu weinen.

    Dich wird auch niemand hören, Edda. Nur ich. Und ich kann dir nicht helfen. Ich muss jetzt an mich selbst denken. Tut mir echt leid, Mutter.

    Ich wage es nicht, auch nur einen Fuß in den Flur zu setzen. Ich kämpfe mit einer Angst, die wie ein Schreckgespenst vor mir schwebt und jede Bewegung mit einem Stromschlag bestraft. Plötzlich springt die Wohnzimmertür auf! Ich sehe zwei Schatten. Mein Herz bleibt stehen. Edda poltert in den Flur, prallt mit dem Kopf gegen die Badtür.

    Urin rennt meinen Schenkel hinunter. Ist es das rechte Bein oder das linke – oder beide? Keine Ahnung!

    Yegors Körper steht vor ihr wie ein Schrank. Auf seinem Rücken, dem dunkelblauen Achselshirt, zeichnen sich Schweißflecken ab. Mein Blick fällt an ihm vorbei, in das verzerrte Gesicht meiner Mutter...

    Die Badtür... und auf ihr ein Signal, ein Alarmzeichen, eine Farbe: Knallrot... Blut. Sehr viel davon. Ein wacklig gezogener Streifen, der auf weißem Holzlack deutlich macht, wie groß das Loch in ihrem Schädel sein muss. Ich glaube, sie stirbt gleich, trotzdem kann sie noch wimmern und sich ihre Hände vors Gesicht halten. Ich stehe da wie gelähmt. Er hat mich noch nicht gesehen, aber das wird sich gleich ändern, er wird sich umdrehen und den letzten Rest Wut in meinen Körper prügeln.

    Mir wird gerade etwas klar: Ich habe meine Chance verpasst, hätte zwei Minuten früher mein Ding durchziehen müssen. Jetzt ist es eine Minute nach zwölf. Jetzt ist es zu spät. Viel zu lange stand ich in meinem Zimmer, hab gelauscht und gewartet.

    Der Tod ist da, meine Stunde hat geschlagen. Der Tod stinkt wie ein Schwein. Yegors Wut stinkt. Ich kann den Dampf riechen, die Schwüle, die sprichwörtlich dicke Luft. Eine Luftfeuchtigkeit, in der Angst, Pisse und Männerschweiß liegen, in der die Aussagen »Du Hure, du Drecksau!« und »Verreck endlich, du Stück Scheiße!« wie Schatten den Flur runterkriechen und von meinen Ohren und meinem Hirn aufgesaugt werden. Meine Angst wird noch größer. Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt noch geht.

    Das ist Deutschland im 21. Jahrhundert! Und ich bin hier. Noch. Ich erlebe es. Ich habe echte, nackte Panik, und doch werde ich nur eine Nummer unter tausenden von Mordopfern sein.

    Mein rechtes Auge beobachtet Yegor. Allein dieses Auge darf durch den Spalt sehen.

    Ich habe das Licht in meinem Zimmer ausgeknipst, kann mich aber gar nicht daran erinnern, wann und wie ich es getan habe. Es muss mir vor wenigen Sekunden passiert sein, da, als Eddas Körper aus dem Wohnzimmer fiel. Meine Hand zittert über dem Schalter. Das Licht muss ausbleiben. Meine Hand kriecht weg, nicht dass ich aus Versehen wieder auf den Schalter drücke...

    Yegor hält etwas fest. Es ist silberfarben, hat einen langen Griff... Ein Milchtopf aus Edelstahl. Kurz nach unserem Einzug in diese Wohnung, hat mir Edda einmal Kakao darin aufgewärmt, seither stand das Ding nie wieder auf dem Herd.

    Yegor schlägt auf sie ein. Sie keift, als bestünde ihre Kehle aus rostigem Eisen. Ich weiß jetzt schon, dass ich diese Szene nie wieder vergessen kann, dass sich Schreie und Geräusche – Edelstahl auf Schädel, Edelstahl auf Knochen, Edelstahl auf Hirnmasse, Edelstahl auf Hirnmatsch – in mein Gedächtnis einbrennen werden. Für immer. Wieder etwas, womit ich nicht klarkommen werde.

    Vielleicht wäre es gut, wenn es auch für mich heute zu Ende ginge...

    Nein, ich will nicht sterben!

    Meine Blase ist halbleer. Es kommt nichts mehr raus, da muss ein Korken drin stecken. Yegor haut weiter drauf, wieder und wieder und wieder. Das Plong ist zu einem Dtsch geworden. Ich will nicht hinsehen, aber kann nicht wegsehen. Warum, verdammt?! Ich will nicht! Aber ich muss, irgendetwas in mir muss zusehen. Es ist so irreal, so wahnsinnig...

    Da macht sich mein Körper plötzlich selbstständig. Danke Körper, danke Überlebensinstinkte! Ich lass euch machen. Ihr tut bestimmt das Richtige. Auf jeden Fall tut ihr mehr als ich. Ich kann nichts mehr tun. Max, der kleine Pisser, hat sich in sein Gedankenuniversum zurückgezogen und den Notsystemen die Kontrolle überlassen. Unbewusst. Mein Unterbewusstsein ist mein Held! Vielleicht das Wertvollste, was ich habe.

    Mein Körper schleicht wie ferngesteuert einen Schritt nach draußen.

    Bin jetzt im Flur.

    Zwei Schritte rückwärts... drei...

    Ich sehe Yegors Rücken und seine angestrengten Bewegungen, wie er den Milchtopf nach oben reißt, um ihn zurück auf Edda zu schleudern. Edda ist leise geworden. Sie bleibt leise. Ich schaue zur Kommode. Da liegt der Schlüssel, direkt neben mir. Ich muss die Haustür aufschließen. Das kann nicht gutgehen! Der Flur ist endlos lang, die Tür befindet sich ganz hinten. Neun Meter etwa. Der Schlüssel wird klimpern. Mein Tod nähert sich mit jedem meiner Schritte.

    Yegor drischt weiter auf den regungslosen Frauenkörper ein, zelebriert seine Ekstase, den Blutrausch.

    Dtsch, dtsch, dtsch...

    In meinem Kopf tanzen die Worte ›Blut‹, ›Matsch‹, ›Brei‹. Blutmatschbrei. Blutbreimatsch. Matschbreiblut.

    Dtsch, dtsch, dtsch... Das Dtsch hört sich zunehmend weicher an. Wahrscheinlich geht ihm langsam die Kraft aus. Ist bestimmt anstrengend, jemanden totzuschlagen.

    Manchmal höre ich ein Plong. Edelstahl auf Knochen.

    Der Schlüssel. Meine Hand greift danach. Bitte mach keine Geräusche, Max! Pass auf, rechte Hand! Gib dein Bestes! Keine Geräusche, bitte, bitte, bitte!

    Gott, wenn du da bist...

    Dtsch... HURE!... VERFICKTE HURE!... Dtsch, Dtsch...

    Warum so oft? Sie ist doch schon tot. Hört er denn nie auf?!

    Doch!

    Jetzt!

    Der Schlüssel klimpert, ist zu laut!

    Yegor dreht sich um.

    Er taxiert mich, meinen zitternden Körper, meinen Rucksack, meinen panischen Blick. Er begreift meine Absicht sofort.

    Flucht...

    Hilfe, Hilfe, Hilfe! Ich will nicht sterben... Nicht heute. Nicht so wie Edda!

    Ich schreie nicht, ich renne. Höre ihn hinter mir... sein Trampeln.

    Schlüssel ins Schloss – verfehlt! Der Schlüssel fällt auf den Boden, Yegors Pranke krallt sich in meine Schulter, er drückt mich zu Boden, brüllt mich an – auf Rumänisch. Ich verstehe kein Wort.

    Ich schreie auch. Da kommt eine ungekannte Stimme aus mir, die all meine Angst aus mir herausschleudert, ihm entgegen, als würden selbst unsere Stimmen gegeneinander kämpfen.

    Ich sterbe gleich! Mein Tod glänzt silbern. Über mir schwebt ein Edelstahlboden. Es wird nur die ersten paar Male wehtun, dann wird es schwarz werden.

    Plötzlich sehe ich meinen Fuß in Yegors Visage!

    Danke Füße, danke harte Sohle, danke Beinmuskeln!

    Ich strample wie ein Irrer. Schuhe in die Fresse! Immer drauf, drauf, drauf! Voll drauf mit aller Kraft, die ich habe. Immer wieder hacke ich meine Fersen in seine Fresse.

    Blut. Sein Blut!

    Ja, ja, ja, drauf, drauf, drauf! Ich gewinne Zeit!

    Meine rechte Hand packt den Jackenständer, ein wackliges Holzding auf vier Beinen. Ich reiße das Teil um – eine irrwitzige Barriere, aber andere Möglichkeiten hab ich nicht. Yegor hält sich seine blutende Nase und stöhnt: »Ich bring dich um, Pisser! Ich mach dich kalt!«

    Ich greife nach dem Schlüssel.

    Wehe Max, wenn du jetzt versagst! Drück den Schlüssel ins Schloss und hau ab! Keine Fehler! Mach alles richtig! Du allein gegen den Tod!

    Das klimpernde Metall klopft gegen Holz, der Schlüssel steckt. Yegors Hand greift nach meinem Knöchel, hat ihn. Die Tür ist offen. Ein Ruck reißt mich zu Boden.

    PLONG!

    Edelstahl schlägt auf meinen Rücken ein. Ein stechender Schmerz, Adrenalin betäubt ihn zuverlässig. Ich drehe mich um, liege auf dem Rücken, die Bestie kniet vor mir.

    DTSCH! Wieder werde ich getroffen, hab nicht registriert, was Yegor erwischt hat, spüre nichts mehr, trete ihn überall hin, drehe mich auf den Bauch, mache die Tür weiter auf. DTSCH! Autsch, das tat jetzt weh!

    Ich sehe den Hausflur und die Treppe in die Freiheit. Yegor hält mich fest. Ich liege auf der Seite, trete wieder. Er schlägt zu. PLONG! Ein roter Vorhang legt sich über mein rechtes Auge.

    Irgendwas in Yegors Gesicht knackst, als ich ihm einen weiteren Tritt verpasse. Er heult auf, fasst sich an die Stirn. Ich reiße mein Bein aus seiner Hand, stehe auf, greife nach meinem Rucksack. Ich renne in den Hausflur, die Treppen nach unten. Ein Absatz, ein Sprung, nehme immer sieben Stufen auf einmal. Yegor ist schnell, ich höre seine Sohlen quietschen. Er wird mich bestimmt einholen!

    Noch zwei Absätze. Sprung, Rechtskurve, rutschende Schuhe, glitschige Blutsohlen. Eine letzte enge Kurve, ein allerletzter Sprung. Bin unten. Die Haustür steht offen. Ich höre Drohungen durchs Treppenhaus donnern, höre sein Keuchen und sein widerliches Geschrei. Ich verstehe ihn nicht, verstehe kein anderes Wort als nur meinen Namen.

    Es regnet. Mein Fahrrad wartet auf mich. Ich liebe dich, Fahrrad!

    Ich springe auf, trete in die Pedale, Yegor hetzt mir nach. Ich beiße die Zähne zusammen. Die Bestie in meinem Windschatten ist so verdammt schnell!

    Gott... Wenn du da bist...

    Meine Schenkel schmerzen, als ich mit aller Kraft immer schneller trete. Yegor... er bleibt hinter mir. Ich kann seine eiligen Schritte hören und seine Stimme, die ich so hasse. Aber: Ich bin schneller. Meter um Meter vergrößert sich der Abstand. Regen peitscht mir ins Gesicht.

    Tränen und Regen. Kalte Luft. Ich weine. Ich fahre immer weiter über den Asphalt, in dem sich das Laternenlicht spiegelt.

    Ich rieche den Regen, sein prasselndes Wasser.

    Diese Nacht duftet nach Leben.

      KAPITEL 1: Der Weg nach Hause

    REGEN UND FREIHEIT... UND YEGOR

    Hier in Marzahn-Hellersdorf sind trotz der garstigen Witterung noch einige unterwegs. Ich sehe die Lichter der Stadt, fühle mich irgendwie euphorisch. Habe ich es geschafft? Wird sich ab heute endlich alles ändern? Daran zu glauben, gibt mir Kraft.

    Ich fahre durch Pfützen, hetze durch den Regen, der wie Bindfäden zu Boden fällt und im spiegelnden Asphalt einschlägt. Um mich herum höre ich nur Rauschen und Motoren. Und Reifen, die sich durch tiefe Pfützen schneiden.

    Erneut überfällt mich Panik. In jedem Auto, das hinter oder vor mir auftaucht, könnte Yegor sitzen. Minutenlang irre ich durch die Straßen, schlage Haken, ändere kurzerhand die Richtung, weiß nicht mehr, wo ich bin. Bin irgendwo, heulend wie ein kleines Kind, das keine Ahnung hat, wie solch eine Situation zu meistern ist. Keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Keinen Schimmer.

    Mein Rucksack wird schwerer, er saugt sich voll. Hoffentlich überlebt das mein Mp3-Player, den ich in eine löchrige Tüte eingewickelt habe, und mein uraltes Handy. ›Ein Knüppel‹ haben auch immer meine Mitschüler dazu gesagt; wenigstens wollte es mir nie jemand klauen, genau wie mein klappriges Fahrrad.

    Wieder eine rote Ampel. Diesmal werde ich nicht über den Gehweg ausweichen. Drei Autolängen vor mir steht ein Polizeiwagen. Retter in Uniform. Und da dämmert es mir...

    Ich weiß jetzt genau, wohin ich muss! Es gibt keine andere gute Lösung, ist mir gerade völlig klar geworden. Mit dem Abstand, der zwischen mir und Yegor entstanden ist, ist auch mein Mut gewachsen. Vor allem deshalb, weil ich mir sicher bin, dass mir die Polizei helfen könnte, meinen Vater zu finden. Denen stehen sämtliche Daten zur Verfügung, und heute sehe ich bestimmt hilfebedürftig aus – schön voller Blut. Die werden kapieren, dass Yegor kein netter Stiefvater ist, außerdem liegt eine Leiche in seinem Flur. Ich kann ihn bestimmt dingfest machen! Ich muss es wenigstens versuchen!

    Die Leiche... Edda kann mir helfen, kann wenigstens in ihrem Tod ein bisschen was wiedergutmachen. Falls ich an der Hilfe der Polizisten zweifeln müsste, könnte ich immer noch irgendwo untertauchen.

    Ich muss es versuchen!

    Ich drängle mich zwischen Bordstein und Autos weiter voran, will den Polizeiwagen erreichen. – Grün! – Die Autos rauschen los. Scheiße! Hab keine Idee, wo sich die nächstgelegene Polizeistation befindet. Der Streifenwagen fährt mir davon, aber ich radle so lange hinterher, wie ich kann. Ist nicht lange, sind nur Sekunden. Immerhin habe ich jetzt eine Richtung, vorausgesetzt, deren Ziel ist das gleiche. Ich strample. Mir tut allmählich jede Sehne weh, alles schmerzt. Ich habe das Gefühl, meine Kraft würde aus mir herausfließen, als hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Hab in den letzten vier Tagen höchstens zehn Stunden geschlafen. Insgesamt. Hab kaum was gegessen...

    Ein Kebab-Laden – ich fahre daran vorbei. Ein Handyshop – geschlossen. Ich radle weiter und entdecke eine Kneipe. Ich steuere darauf zu, stelle mein Fahrrad ab und betrete bibbernd die muffige Bar.

    Kein unbekanntes Bild: angetrunkene Leute sitzen tratschend auf ihren Plätzen, lautes Gelächter schallt aus einer Ecke... ein Stammtisch, dunkles Holz überall und Mief. Ich fühle mich wie ein unsichtbarer Schatten, bewege mich im schummrigen Licht auf die Theke zu. Ein Mann verlässt soeben seinen Barhocker und läuft zur Toilette, während er sich seinen Geldbeutel in die Gesäßtasche schiebt. Ich entdecke seine Zigarettenschachtel neben einem Sturmfeuerzeug. Beides hat er vor einem halbvollen Bierglas liegen gelassen. Ich komme näher. An der Theke steckt der grauhaarige Barkeeper seine geschirrtuchüberzogene Hand in ein Weizenbierglas, reibt es trocken und grinst mich an. Er wird mich sicher gleich auf mein Alter ansprechen. Und wenn schon...

    »Hast dich jeprügelt, Kleena, wa?«

    Ich nicke.

    »Wo ist die nächste Polizeistation?«, will ich wissen. Meine Stimme klingt so schwach wie ich mich fühle. Ich trete ins Licht der Bar.

    »Bist ausjeraubt worden?«, fragt er mich und guckt mit einem Mal sehr besorgt.

    Ich nicke erneut, huste Schleim nach oben und schlucke den zähen Klumpen aus Blut, Tränen und Rotz herunter. Mein Hals und meine Lunge tun weh. Und während mir der Barkeeper freundlich den Weg zu meinem Ziel beschreibt, lege ich meine Hand über die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug, ignoriere seine Nettigkeit, die mir ohnehin fremd ist, schiebe das Diebesgut vom Tresen und stecke es in meine Hosentasche. Nebenbei präge ich mir jedes seiner Worte ein. Ich weiß jetzt, wohin ich muss. Ist gar nicht mehr so weit. Erleichterung. Trotzdem bleibe ich komplett verkrampft. Aber egal, entspannen kann ich mich hoffentlich bald, muss nur noch ein bisschen durchhalten.

    Ich bedanke mich, drehe mich zur schweren Eingangstür um, die nach nasser Mooreiche riecht, und stehe wieder im Regen. Ich muss mich beeilen, denn gleich wird man merken, dass ich etwas geklaut habe.

    Heute werde ich mit dem Rauchen anfangen.

    Ich fahre wieder los, meinen Rettern entgegen. Wenige Minuten später sehe ich den Glaspalast der Polizei, gleichzeitig bedrängt mich Skepsis. Ist es wirklich das Beste, wenn ich jetzt da reingehe?

    Klar! Die Leiche... Muttermatsch im Flur... Wenn das kein guter Grund ist, zur Polizei zu gehen, was dann?! Ich kann Yegor hinter Gitter bringen! Diese Chance ist einmalig!

    Ich parke mein Fahrrad und starre nach oben. Das Ding ist riesig, eine gläserne Ritterburg, die ihr Licht über mir ausgießt. Es ist, als stünde ich vor einem Himmelstor.

    Meine Rettung, mein Wendepunkt?

    Mit einem flauen Gefühl steige ich die beleuchteten Stufen nach oben. Mit jedem Schritt werde ich kleiner, fühle mich wie eine mickrige Petze und ahne, dass man mir nicht glauben wird. Der Pförtner hat mich schon gesehen und beobachtet mich misstrauisch, als frage er sich, was denn jemand wie ich hier wolle. Wahrscheinlich kann er meine Wunden nicht sehen, sieht mich hinter den nassen Scheiben nur undeutlich.

    Meine Hand liegt auf der Tür. Ich drücke sie zögerlich auf und schaue mich um. Es riecht nach Pappe und ein wenig nach Kaffee. Ununterbrochen suchen meine Augen nach einem Held mit liebem Gesicht. Nach Vertrauen. Ich sehne mich danach... nach Geborgenheit, nach Ben.

    Ich würde gerne das Wort ›Papa‹ sagen, dann, wenn ich es auch genau so empfinde. Wenn ich es fühle und sagen darf, bin ich glücklich. Das habe ich mir immer eingeredet und mich daran festgehalten, wenn ich wieder von lähmenden Empfindungen und schwitzenden Körpern überrollt wurde, sodass ich glaubte, mich würde die Matratze verschlucken.

    Manchmal lagen die Männer so schwer auf mir, dass sie mir meinen Mageninhalt rhythmisch nach oben massierten. Ich habe mich dann damit abgelenkt, den Brei wieder runterzuschlucken, und war mehr darauf konzentriert als auf alles andere. Wenn ich währenddessen auf das Laken gekotzt hätte, hätte ich übel eine abgekriegt. Ob ich mit Ben über so was reden kann? Irgendwann?

    Ich stehe im imposanten Foyer der Polizeizentrale, sehe ein Schild mit der Aufschrift »Direktion 6« und ein Foto des Polizeidirektors. Sieht nett aus... wie ein freundlicher, junggebliebener Opa. Und ich kann es nicht begreifen: Ich verharre an Ort und Stelle und niemand kommt auf mich zu. Vielleicht, weil ich keinen gefährlichen Eindruck mache, weil ich wie ein Verirrter aussehe, von dem jeder denkt, ein anderer wird sich meiner sicher gleich annehmen. Oder vielleicht, weil die hier zu wenig Personal haben oder gerade keiner Bock darauf hat, sich um mich zu kümmern. Weil sie momentan kaffeeschlürfend verhandeln, wer den letzten Donut bekommt.

    Ich stehe einfach blöd rum. Triefend. Hab keine Ahnung, wie ich aussehe. Weiß nicht, ob ich noch blute oder wo ich Schrammen habe. Hab mich noch nie so seltsam gefühlt – als würde sich mein Fleisch von meinen Knochen lösen. Bin ein klappriges Gerüst. Mager, kalt und uninteressant.

    Wieso kommt niemand? Kann man hier einfach so reinspazieren?

    Ich spähe zurück. Der Pförtner behält mich im Auge, während er seine Schreibtischunterlagen sortiert. Ich sehe schon, er hat es nicht eilig, will zuerst das Zeug zusammenlegen, ehe er seine Neugier stillt, was ich denn hier will, jetzt um diese Zeit. Ich, ein Fünfzehnjähriger, der viel älter aussieht. Und verbraucht.

    Ich bin kein Junkie, alter Mann! Musst mich gar nicht so anglotzen!

    Ich warte, lese unterdessen ein Schild: »788000 Menschen leben in unserem Direktionsgebiet, das 282,46 km² umfasst. Sie finden hier Großstadttreiben sowie dörflichen Charme vor, außerdem haben sich Hightechindustrie und altertümliche Handwerksbetriebe etabliert. Plattenbauten und Parkanlagen prägen ebenfalls das Bild unserer Direktion. Die polizeiliche Arbeit wird von über 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in zehn Zonen geleistet, bestehend aus den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung sowie dem Leitungsstab.«

    Manchmal spähe ich aus meinen Augenwinkeln zum Pförtner rüber, um festzustellen, ob sich der gnädige Herr endlich zu mir bequemt. Ich bin ruhig. In mir ist gerade etwas gestorben, was sich bis zuletzt aufgebäumt hat. Mein Motor ist aus, die Batterien sind leer.

    Endlich stapft der Mann aus seinem Glaskasten, verschwindet kurz in einem Büroraum mit großen Fenstern ringsum, öffnet eine Tür und kommt mir dann behäbig entgegen. Er schaut mich an, als wolle er feststellen, in welchem Zustand ich mich befinde; ob ich zu den Irren, den Süchtigen oder den Opfern gehöre.

    Bin plötzlich wieder angespannt.

    Wird er mich ernst nehmen? Wird mich endlich irgendjemand ernst nehmen?! Oder werden sie hier auch auf meine Seele einhacken, mich belächeln und wieder wegschicken?

    Ich fühle Enttäuschung, obwohl noch kein einziger Satz gefallen ist. Erwachsene sehe ich in einem sehr schlechten Licht. Sie haben Macht und nutzen sie aus. So kenne ich sie.

    Eddas lebloser Körper... Meine blutüberströmte Mutter erscheint vor meinem inneren Auge, wie die Ikone einer Himmelsgestalt, das Bild meiner Hoffnung.

    »Alles klar, Junge? Wie kann ich dir helfen?«

    Sieht man das nicht?

    »Ich...«

    Ich verschlucke das folgende Wort, versuche es erneut. Bin zu doof zum Sprechen. Der Mann kommt näher. Ich weiche einen Schritt zurück, mein Zittern fängt wieder an. Als mir der Pförtner seine Hand auf die Schulter legt, ist es plötzlich vorbei. Meine Hände legen sich über meine Augen. Ich will nicht weinen, aber es passiert einfach. Ich schluchze irgendwas aus mir heraus. Keinen einzigen vernünftigen Satz bringe ich zustande.

    »Hey, hey«, spricht er leise und führt mich an meinem Oberarm in einen Raum, in so ein Aufnahmezimmer; sieht aus wie eine Anmeldung beim Arzt. Er stellt mir Herrn Weinberg vor, der mich hinter seinem Schreibtisch interessiert mustert.

    Der Pförtner bleibt neben mir stehen, als Herr Weinberg meint: »Was ist passiert? Es ist doch was passiert, nicht wahr?«

    Ich nicke.

    »Möchtest du dich setzen?«

    Nein. Ich bleibe stehen und schüttle hastig den Kopf, dann stammle und stocke ich, reihe Wörter aneinander und hoffe, dass er mich trotz meiner weinerlichen Stimme verstehen kann: »Mein Stiefvater hat gerade, hat vorhin, zu Hause... meine Mutter... e-erschlagen. Töpferweg 25/3. Auf dem Klingelschild steht Kiriac. Vierter Stock. Können Sie b-bitte... bitte meinen Vater anrufen? Er heißt Ben.«

    Ich bin so bescheuert! Wie könnte irgendjemand einfach meinen Vater anrufen?! Ich habe Herrn Weinberg diese Bitte so selbstverständlich gestellt, als wäre er allwissend.

    Beide Männer schauen drein, als würden sie denken: ›Oh je, der Ärmste weiß nicht mehr, was er sagt‹, oder: ›Was muss dem Typen bloß passiert sein?!‹

    Herr Weinberg zückt das Telefon. Ich trete nervös von einem Bein aufs andere, wische mir hektisch Tränen weg. Ich stehe neben mir, höre irgendwie gar nicht mehr, was gesagt wird, verstehe nur Gemurmel. Irre! Ich verstehe kein Deutsch mehr! Der Pförtner fragt mich irgendwas. Ich glaube, die richtige Antwort ist Ja, also sage ich »Ja«, aber was hat er gefragt?!

    Eine Frau kommt dazu. Mehrere Hände drücken mich auf einen Stuhl. Ich sitze, kann das Glas nicht halten, das sie mir reichen, verschütte die Hälfte auf meine ohnehin schon triefnasse Jeans. Sie wollen, dass ich mich hinlege, weil gleich das Beruhigungsmittel wirkt, aber ich hab doch noch gar nichts getrunken!

    Ich würde nicht einschlafen, nur müde werden, höre ich von der Seite. Wer hat das gesagt? Ist egal, denn da ist plötzlich etwas, was mich ablenkt: Die Frau in Uniform streicht mir über die Haare. Sofort schießt mir alles Mögliche durch den Kopf. Bilder und Ängste, verwirrende Gefühle...

    Sie tröstet mich, und nichts daran scheint unangenehm zu werden. Sie fängt nicht an, mich zu befummeln, sie stöhnt mir keine Sauereien ins Ohr und sie tut mir auch nicht weh. Beleidigen tut sie mich auch nicht. Sie zwingt mich nicht, vor versammelter Mannschaft zu strippen oder ihrem Kumpel einen zu blasen, sie zwingt mich nicht, Schnaps durch die Nase einzusaugen und drückt auch keine Zigaretten auf meinen Brustwarzen aus. Sie verlangt von mir nicht, Pisse zu trinken, und sie bemalt meinen Pimmel nicht mit Nagellack. Sie ist nicht Edda, sie ist auch keine ihrer durchgeknallten Freundinnen. Hier lacht mich niemand aus.

    Ich werde von Frauenhänden gestreichelt, von Männerhänden freundlich getätschelt. Da sind plötzlich Menschen, die sich um mich kümmern, die sich Sorgen um mich machen. Jedenfalls fühlt es sich genau so an, so, als ob sie es ehrlich meinen.

    In diesem Moment glaube ich zu spüren, dass ich doch keine Nummer bin. Ich bin ein Mensch wie sie, darf ein bisschen dazugehören, darf ein Junge sein, der diesen Fremden nicht viel sagen braucht, um verstanden zu werden. Ich weine zwar, aber mein Herz lächelt ein wenig.

    Herr Weinberg führt meine Hand, die das zentnerschwere, wackelnde Glas nur schwerlich halten kann. Ich trinke, registriere nebenbei den Hinweis »Opferschutzzimmer«. Dort soll ich mehr erzählen, während sich eine Streife auf den Weg zu Yegors Bude macht. Die regeln jetzt alles für mich, ich muss nicht mehr viel denken oder planen.

    Sie werden die Leiche finden!

    Plötzlich höre ich das Stichwort Vater. Schlagartig werde ich hellwach. Herr Weinberg fragt mich nach Ben.

    »Klein«, sage ich, »ich glaube, er heißt Ben Klein. Als ich sechs war, hat meine Mutter ihn verlassen.«

    Er fragt mich nach dem Wohnort, ich zucke mit den Schultern. Ich weiß doch nichts! Und das sage ich ihm dann auch gleich. Als er mir begreiflich macht, dass die Chance groß wäre, Ben über die Standesämter ausfindig zu machen – da wir sechs Jahre zusammengewohnt hätten, wäre mein Vater bestimmt auch in meiner Geburtsurkunde vermerkt –, erschlägt mich meine Hoffnung beinahe. Die Frau sagt: »Das schaffen wir schon.

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