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BLAUWALE BEI MITTERNACHT
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eBook491 Seiten6 Stunden

BLAUWALE BEI MITTERNACHT

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Über dieses E-Book

Nach einem Schicksalsschlag ist Henri nicht länger der Alte: Zerrissen zwischen Wahn und Wirklichkeit erschafft er eine Welt, der sich seine beiden Kinder zwangsläufig fügen, die sie aber kaum zu ertragen vermögen. Der sechzehnjährige Moritz flüchtet sich schließlich in ein selbstzerstörerisches Ablenkungsmanöver: Die Blue Whale-Challenge, ein tödliches Spiel aus dem Darknet. Als sich Henri in die temperamentvolle Mexikanerin Najla verliebt, droht sein Lügenkonstrukt einzustürzen, was er um jeden Preis verhindern möchte.

Für Najla, die Henris Söhne bereits ins Herz geschlossen hat, ist es längst zu spät, sich von ihrem unheimlichen Liebhaber zu trennen.

Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

BLAUWALE BEI MITTERNACHT – der neueste Thriller von Inka Mareila, der Autorin von BROKEN AMERICA und DIE HOFFNUNG EINES KINDES.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum7. Juli 2020
ISBN9783748748854
BLAUWALE BEI MITTERNACHT

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    Buchvorschau

    BLAUWALE BEI MITTERNACHT - Inka Mareila

    Das Buch

    Nach einem Schicksalsschlag ist Henri nicht länger der Alte: Zerrissen zwischen Wahn und Wirklichkeit erschafft er eine Welt, der sich seine beiden Kinder zwangsläufig fügen, die sie aber kaum zu ertragen vermögen. Der sechzehnjährige Moritz flüchtet sich schließlich in ein selbstzerstörerisches Ablenkungsmanöver: Die Blue Whale-Challenge, ein tödliches Spiel aus dem Darknet. Als sich Henri in die temperamentvolle Mexikanerin Najla verliebt, droht sein Lügenkonstrukt einzustürzen, was er um jeden Preis verhindern möchte.

    Für Najla, die Henris Söhne bereits ins Herz geschlossen hat, ist es längst zu spät, sich von ihrem unheimlichen Liebhaber zu trennen.

    Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

    BLAUWALE BEI MITTERNACHT – der neueste Thriller von Inka Mareila, der Autorin von BROKEN AMERICA und DIE HOFFNUNG EINES KINDES.

    Die Autorin

    Inka Mareila, Jahrgang 1981.

    Inka Mareila ist eine deutsche Schriftstellerin, die ihre Karriere im Jahr 2013 mit Science-Fiction- und Horror-Romanen begann.

    Ihr Debüt – neben fünf Bänden für die Zombie-Serie Violent Earth - war die dystopische SF-Trilogie Fynomenon.

    Mehrfach wurde sie in den Folgejahren für den Vincent Preis nominiert: 2013 für die Kurzgeschichte Gramla, 2014 für Mordsucht GmbH und Co. KG (vier Horror-Märchen) und schließlich 2015 für den Mystery-Thriller Fleischfang – Parademonium.

    2015 folgten die Romane Gladium - Schattenlicht und Gladium - Die Cyborg-Dämonin sowie das Drama Lila Floh in Lavendel - Das Rätsel des stummen Kindes. Für Phillip Schmidts SF-Serie Schattengewächse schrieb sie 2016 den Roman Tod und Spiele.

    Außergewöhnliche Wege beschritt sie anschließend mit dem Kinderbuch/Spendenprojekt Die Superalma gibt es wirklich - ein Buch, gemeinsam verfasst mit neun Kindern und deren alleinerziehenden Müttern.

    Nach der Veröffentlichung des modernen Märchens Milans bunte Flügel (2016) entschied sie sich für eine neue thematische Richtung; insbesondere mit ihren frühen Horror-Geschichten konnte sie sich nicht länger identifizieren. Sie trennte sich von ihrem bisherigen Verlag, um schriftstellerisch mehr Freiheiten zu haben und wagte einen Neustart.

    Seither widmet sie sich vorrangig gesellschaftskritischen Texten, verfasst unerschrocken Texte zu Tabu-Themen - beispielhaft umgesetzt in ihrem Thriller Die Hoffnung eines Kindes, der ebenfalls im Apex-Verlag erschienen ist.

    BLAUWALE BEI MITTERNACHT

    Für meine Liebsten, die auch daran glauben,

    dass Liebe stärker ist...

      PROLOG

      HENRI

    Im Schatten der Bienenweiden sowie mächtiger Kastanienbäume, die hier Wege und Straßen säumen, bleibt die Hitze erträglich. Wir kommen gerade vom Eis essen am Mainufer – haben uns heute freigenommen, um nach langer Zeit endlich wieder ungestört unsere Zweisamkeit zu genießen. Ein entspannter Vormittag ohne Arbeit und Kinder.

    Angeregt unterhalten wir uns über unseren ältesten Sohn Moritz.

    Meine Frau Josephine ist guter Dinge, denn seine Schulnoten verbessern sich endlich. Dazu freut sie sich darauf, unseren Jüngsten gleich vom Kindergarten abzuholen.

    Sie merkt gar nicht, wie ich langsamer werde. Josie plappert einfach weiter, während sie wild gestikuliert. Ihr feuriges Temperament passt so gar nicht zu ihren nordischen Genen, überlege ich schmunzelnd.

    Verschmitzt betrachte ich ihren Po. In einer ihrer Gesäßtaschen steckt ein kleiner Wildblumen-Strauß – von mir gepflückt, nachdem wir vorhin wie frisch verliebte Jugendliche durchs hohe Gras gerollt waren.

    Schließlich bleiben wir an einer Ampel stehen. Josie lässt mich wissen, was sie heute noch alles erledigen will. Neben den üblichen Hausarbeiten möchte sie ein neues Cupcake-Rezept ausprobieren, außerdem wird es wieder Zeit, ihrer Brieffreundin aus Amsterdam eine Nachricht zu schreiben.

    Gutgelaunt blicke ich die dicht bewachsene Allee herunter. Heute ist kaum etwas los – die Frankfurter ziehen bei der Hitze Langsamkeit vor.

    Ich atme tief ein. Vögel zwitschern vergnügt, und eine angenehme Brise weht durch die satten Bäume, streift mein Gesicht.

    »Ach so, und ich hatte gestern völlig vergessen, das Verlängerungskabel zu kaufen. Ich gehe also später noch in den Elektromarkt. Und bringst du Timmy morgen zum Logopäden? Weil ich müsste um die Uhrzeit doch zum...«

    Ich weiß nicht, wieso sie plötzlich losläuft, immerhin zeigt die Ampel noch rot. Wahrscheinlich ist es pure Unaufmerksamkeit sowie die Gewissheit, dass diese Straße ausschließlich von überwiegend betagten Anwohnern genutzt wird. Dazu kommt die Ablenkung durch unser Gespräch. Und nicht zu vergessen: Auch die betäubende Erschöpfung verlangt ihren Tribut. Ich bin an diesem Tag selbst übermüdet, denn letzte Nacht war unser Jüngster viel am Weinen, hatte wieder Albträume.

    Mit den Händen in den Hosentaschen erinnere ich sie: »Schatz, auch wenn die Straße frei ist...«

    Sie dreht sich verwundert zu mir um. »Hm?«

    »Die Ampel«, bemerke ich lächelnd. Da schaut sie nach oben und grinst belustigt, weil ihr häufig derartig dumme Dinge passieren. Sie ist ein liebenswerter Tollpatsch.

    Just in dem Moment zucke ich zusammen.

    Wie aus dem Nichts erschreckt mich ein markerschütterndes Hupen, dazu rattert ein kräftiger Motor – seitlich nähert sich ein Ungetüm... Bremsen kreischen und Reifen quietschen, doch es ist zu spät. Meine Welt versinkt im Schatten eines LKWs, taucht mich für Sekunden in eine bedrohliche Dunkelheit.

    Ohne zu realisieren, was sich direkt vor meinen Augen abspielt, spüre ich einen entsetzlich mächtigen Stich, fühle, wie mein Leben zerreißt.

    Vom Kühlergrill eines Lkws erfasst, verschwindet Josie schlagartig aus meinem Blickfeld, wird mir mit Gewalt aus dem Herzen gerissen.

    Ich fasse mir an die Brust. Der Schmerz macht mich schlagartig sterbenskrank.

    Beim Schlingern gerät der Koloss in Schieflage und kippt beinahe. Alles geschieht so unfassbar schnell, dennoch entgeht mir nichts, als würde die Zeit für mich anders laufen.

    Josies Körper fliegt meterweit, schlägt dumpf wie der knochenlose Leib einer Puppe auf.

    Es ist, als wäre nie Leben in ihr gewesen.

    Da liegt sie... auf dem heißen Asphalt, über dem die Luft flimmert, und in mir pocht der kreischende Wunsch, jener Anblick wäre bloß eine Täuschung.

    Bitte nicht, bitte nicht...

    Bitte nicht!

    Ich sehe mich um, als hätte ich das von eben nicht beobachtet. Doch es ist so. Ist wirklich so. Bei mir steht keine Josephine mehr.

    Wildblumen liegen auf der Straße wie kleine Wegweiser. Grelle Farbtupfer. Und der Tod.

    Der LKW ist zum Stehen gekommen. Wer aus der Fahrerkabine aussteigt und aufgebracht herumbrüllt, ist mir egal. Ich höre nur noch, wie jemand schimpft, wer hier den Lieferwagen so bescheuert vor dem Ampelübergang geparkt hat, und die Worte »Scheiß Navi!«. Der Fahrer kickt gegen den Kotflügel, schimpft weiter. Ich renne, will zu meiner Josie, doch als ich sie deutlicher erkennen kann, stoppe ich fassungslos.

    Keine Fata Morgana.

    Mit offenem Mund starre ich in ihr entstelltes Gesicht.

    Blut und Hautfetzen, ihr Schädel ist deformiert. An ihren zerstörten Ohren hängen ihre Lieblingsohrringe – mein Geschenk zum fünfzehnten Hochzeitstag.

    Ihre feingliedrige Halskette hat sich tief ins Fleisch geschnitten. Josie liebte meine Schmuckgeschenke.

    Wie eine glänzende Lackschicht hüllt ihr sämiges Blut sie ein, bedeckt ihre furchterfüllten Augen und ihr Strahlen.

    Ihr schönes Gesicht... es wurde ihr genommen.

    Wie eine Fremde.

    Nein, sie ist es wirklich... Es ist Josie.

    »Ich bin bei dir«, flüstere ich. »Keine Angst.« Doch bewegen kann ich mich nicht mehr – dabei wünscht sie sich, dass ich ihre Hand halte. Ich weiß es, kann ihr Verlangen spüren. Aber da ist keine Kraft in mir.

    Der Anblick ist unerträglich.

    Unerträglich.

    Kein Geräusch mehr.

    Allein das Blut pulsiert laut in meinen Ohren. Bin betäubt und erstarrt, fühle mich wie ein Sterbender.

    Ich sehe zu, wie sich ihr Arm mechanisch streckt, und auch ihr Zeigefinger, der als einziger an ihrer Hand verblieben ist und schließlich auf mich zeigt – als wäre ich der Schuldige.

    Wo ist ihr Ehering?

    Ist nicht wichtig, nicht wichtig... den kann ich nachher suchen...

    Auch ihre Beine regen sich unnatürlich. Sie krampft.

    Aus ihrem Mund schallt ein gurgelnder Laut, ein letztes brodelndes Stöhnen und ein Schrei, den nur ich hören kann.

    Meine Augen fangen Feuer, sie brennen...

    Ich verbrenne.

    Und auf einmal, schlagartig ermattet jedes Glied ihres Körpers.

    Der Tod hat sie geküsst, und ich weiß, es ist besser so, denn ihre Erleichterung streift mich wie ein Windhauch.

    Sie nimmt Abschied.

    Keine Schmerzen mehr.

    Geschafft.

    Ich liebe dich.

    Ich dich auch. Ewig. Wie versprochen.

    Menschen versammeln sich um die geliebte Mutter meiner Kinder. Erst jetzt öffnen sich meine Ohren wieder und vernehmen einen Sturm aus Stimmen. Handys schweben gleich blitzenden Drohnen über Josies Körper.

    Im Tod wird sie ein Objekt der Neugier, eine blutende Sensation, und ich frage mich, wo plötzlich all die Menschen herkommen. Wie Ameisen sind sie aus den Löchern gekrochen und versteinern mit entsetzten Gesichtern, schlagen die Hände über den aufgerissenen Mündern zusammen, schreien auf, drehen sich angewidert weg.

    Ich bin nurmehr ein verstummter Beobachter, bin kein Mensch mehr, eher ein Geist – gelähmt in einem atemlosen Schockzustand.

    Aus Josies Mund sprudelt ihr Leben. Es ergießt sich auf den schmutzigen Teer und strömt neben ihr bergab. Das kleine Rinnsal kommt meinen Schuhen näher – braune Wildledersandalen... Vor zwei Tagen war ich noch beim Schuster. Josie beurteilte mein Faible für hochwertiges Schuhwerk immer als übertriebene Verrücktheit... –, noch etwa einen halben Meter.

    Nur noch Zentimeter...

    Jäh fallen meine Gedanken in ein tiefes Loch. Irgendwas in mir führt plötzlich ein Eigenleben, zieht sich zurück und reist in die Welt der Erinnerungen.

    Vergangene Szenen rasen an mir vorbei.

    Josephine unter der Trauerweide in unserem Garten.

    Das strahlende Glück in ihr, das uns beide warm umhüllte, damals, als sie endlich das erste Mal schwanger wurde...

    ... Und die kostbaren gemeinsamen Augenblicke, als sie Moritz und Timmy gebar.

    Wie wir uns am Grab ihrer Mutter hielten und beschlossen, uns ab sofort gegenseitig Mutter, Vater, Licht und Freude, ja alles zu sein.

    Ihren süßen Duft, ihre liebevollen Hände.

    Josies samtene Lippen.

    Nie wieder...

    Ist das die Strafe, die ich schon so lange befürchtet habe? Wegen der Sache mit meinem Bruder...?

    Ja, bestimmt. Es war falsch... Was ich getan habe, war so widerlich, so schmutzig.

    Ich verdiene es nicht anders.  

    Das ist die Strafe.

    Ich bleibe in dem schönen Teil meiner Vergangenheit, denke an unsere Hochzeit. Die Sonne von damals schien heißer.

    Die Zukunft gehört uns nicht mehr, gehört jetzt den anderen.

    Zwei Männer beugen sich zu Josie hinunter, machen einen fachmännischen Eindruck, sagen wichtige Dinge. Ihre besorgten Gesichter und hektischen Bewegungen veranlassen mich, die Luft erneut anzuhalten.

    Irgendwer legt eine Decke über sie.

    Meine Liebe verschwindet unter ozeanblauem Jacquardstoff.

    Unsere Verbundenheit... sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.

    Und wieder sucht mein Blick nach dem Ehering. Er ist fort.

    Es ist wirklich so. Sie lebt nicht mehr.

    Meine Frau, mit der ich seit neunzehn glücklichen Jahren verheiratet bin, ist einfach weg, verschwunden, von einer Sekunde auf die andere.

    Wie soll ich das meinen Kindern erklären?

    Das Durcheinander um Josie wird größer. Mich stupst jemand an, doch ich verstehe ihn nicht. Kräftige Hände umgreifen meine Oberarme. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.

    Ist das real? Wirklich?

    Unmöglich...

    Meine Beine machen sich selbstständig, ich weiche zurück. Immer weiter. Schritt für Schritt.

    Das Entsetzen steht wie ein Berg vor mir.

    Diese Bilder, diese Welt... Das alles ist zu zerreißend und unwirklich. Der Anblick zermalmt mich geradezu, macht mein Herz zu einer kraftlosen Masse.

    Unerträglich.

    Unerträglich...

    Ich drehe mich um, renne weg wie ein Feigling, weit weg von meinem Albtraum, aus dem ich keinen Ausweg finde... ihn niemals finden werde.

      BLAUWALE BEI MITTERNACHT

      NAJLA

    Endlich ist es so weit!

    Endlich ein Date mit einem gestandenen Mann, der all das mitzubringen scheint, was ich mir immer erhofft habe. Henri ist herzlich, lustig, fantasievoll, nur fünf Jahre älter als ich – 46 – dazu gutaussehend und hochgewachsen, mit markantem Ausdruck. Was ich bisher auf den Fotos des Dating-Portals gesehen und am Telefon von ihm gehört habe, begeistert mich.

    Und seine beiden Söhne, Moritz und Timmy, freuen sich auch über unsere Bekanntschaft, wie er mir vorhin, während unseres Telefonats anvertraute; die beiden erwartet heute Abend eine sturmfreie Bude.

    Ich stehe vor meinem großen Spiegel im Schlafzimmer, betrachte meine kräftigen, welligen Haare und meine vollen rotgeschminkten Lippen. Ich liebe meine haselnussbraunen Augen.

    Meine Freundinnen wundern sich immer, wenn ich sage, mich würde nichts an mir stören, weil ja jede Frau an sich etwas auszusetzen hätte. Aber ich bin da ziemlich entspannt, vielleicht mehr als ich sein dürfte... Bisher hat sich noch keiner meiner Bekannten über mein Aussehen beschwert, also wird es Henri auch nicht tun. Ich muss allerdings zugeben, ins Dating-Portal Aufnahmen eingestellt zu haben, die bereits drei Jahre alt sind. Damals hatte ich noch nicht diese Narbe auf meiner Stirn, die mir mein Exfreund versehentlich verpasst hat, als er mir beim letzten WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft vor lauter Begeisterung seine Bierflasche an den Kopf warf.

    Es ist immer noch sehr warm draußen, 27 Grad, neunzehn Uhr. Und ich bin nervös. In meinem Appartement habe ich etliche Fenster aufgerissen, lasse den angenehmen Wind durchziehen, der meine mintgrünen Gardinen zum Flattern bringt. Ich glaube fest daran, dass mein Leben sich endlich zum Positiven wendet. Fort vom Gefangensein im Alltagstrott, hin zu neuen Abenteuern. Da ist eine neue Beziehung nur eine Veränderung von vielen.

    Vor knapp zwei Jahren habe ich mir endlich meinen Traum von der eigenen Boutique erfüllt – gemeinsam mit Anett, meiner zweitbesten Freundin, und unserem Kumpel Dani, der sich um den Bürokram kümmert.

    Ich trage mir eine letzte Schicht Lippenstift auf, ein mattes Granatapfelrot, genauso feurig wie mein Kleid. Spaghetti-Träger, hohe Schuhe, mein volles, braunes Haar... Ich will ihn umhauen und ihm das Gefühl geben, er hätte mit mir einen Volltreffer gelandet.

    Noch einen Spritzer von meinem Lieblingsparfum ›Ange ou Démon‹ von Givenchy. Eine sinnliche Mischung aus Seerose, Jasmin und Pfingstrose.

    Selber fahren werde ich heute nicht, denn mein Auto wurde letzte Woche entführt. Ich weiß, wer dahinter steckt: Mein irrer Exfreund. Nicht gefährlich, aber unfassbar bescheuert. Manchmal lässt er mich für Monate in Ruhe, dann fällt ihm wieder irgendeine Intrige ein, womit er mich – zumindest vorübergehend – drangsaliert. Der Polizei habe ich seine WhatsApp-Nachricht bereits gezeigt: »Hey Honigbienchen, dein Smart steht in meiner Garage. Wenn du ihn holst, bekommst du Sekt, Speed und Sex gratis. Na?«

    Leider habe ich es nicht geschafft, Tylor den Ersatz-Autoschlüssel abzunehmen, bevor ich ihn vor knapp eineinhalb Jahren aus meiner Wohnung geworfen habe. Aber mithilfe der Polizei wird das kein Problem sein; spätestens ab morgen wird er mein Auto endlich in Ruhe lassen. Vollidiot!

    Also muss ich mir zwangsläufig ein Taxi gönnen, was bei den hohen Absätzen ohnehin die bessere Idee ist. Außerdem bin ich dermaßen aufgeregt, da würde ich mich in Frankfurts Innenstadt bestimmt verfahren.

    Wer weiß, wofür Tylors Autokidnapping gut war...

    »Ariston, Heiligkreuzgasse 29, bitte.«

    Der Taxifahrer fährt los. Ich wühle in meiner Handtasche, kontrolliere, ob ich auch ja nichts vergessen habe.

    Sieht gut aus, alles da.

    Was soll jetzt noch schiefgehen? Ich bin perfekt gerüstet, hoffe ich...

    Nach einer Viertelstunde bin ich fast am Ziel. Das Ariston befindet sich an einer vielbefahrenen Straßenecke.

    Der Taxifahrer sucht noch nach einer geeigneten Haltemöglichkeit, fragt mich, ob es okay ist, wenn ich ein paar Meter laufen muss, denn hier sei ja die Hölle los, alles verstopft.

    »Kein Problem, lassen Sie mich einfach da vorne aussteigen.«

    Dann wirft er hinterher, jeder Mann, der mich auf dem Weg zu meinem Ziel sehen dürfe, sei bestimmt sehr angetan. Dabei weist er auf einen kleinen Aufkleber an seinem Handschuhfach: zwei Comicfiguren. Ein sabbernder Pluto hechelt einer kurvigen Hundedame hinterher.

    Der Taxifahrer lacht, doch ich würde ihn am liebsten im Schnellverfahren von seinem Sexismus heilen. So ein Dummbeutel!

    Aber eigentlich war es ja ein Kompliment...

    Ich bezahle, und kaum bin ich ausgestiegen, werde ich noch nervöser. In jeder Glasscheibe, die ich auf dem Weg Richtung Restauranteingang finde, suche ich nach meinem Spiegelbild.

    Sitzt alles? Sehe ich wirklich so gut aus, wie ich mich heute fühle? Wird Henri enttäuscht sein?

    Auf einmal halte ich inne, denn in der spiegelnden Scheibe erkenne ich einen kränklich wirkenden Mann, der mich von der gegenüberliegenden Straßenseite zu beobachten scheint. Diese gebückte Kreatur ist mehr Karikatur als Mensch, soweit ich das aus der Entfernung beurteilen kann. Als ich mich zu ihm umdrehe, duckt er sich flink und verschwindet hinter einem Auto aus meinem Sichtfeld.

    »Ein Irrer«, nuschle ich vor mich hin und schaue zurück auf mein Spiegelbild.

    »Du siehst verdammt gut aus, Najla Lupita Cárdenas«, lächle ich mich an und streife mir über die Hüften. Voller Ungeduld strebe ich dem Eingang entgegen.

    Im Anhang von Henris neuster Email habe ich Fotos seiner Söhne gesehen. Moritz ist sechzehn, der kleine Timmy bringt es auf gerade einmal fünf Jahre. Ein Nachzügler.

    Der Grund, warum Henri alleinerziehend ist, ist ein tragischer. Ein furchtbarer. Dennoch schreckt mich das nicht davon ab, mich ernsthaft für ihn zu interessieren, denn ich fühle mich ihm jetzt schon sehr nahe und sehe mich sämtlichen Herausforderungen gewachsen. Meine Wunschvorstellung, ihn und seine Kinder zu unterstützen und dazu frischen Wind in seinen Alltag zu bringen, beflügelt mich. Ich wollte schon immer eine eigene Familie, will endlich komplett sein; von einem Mann im Arm gehalten werden, während wir den Kindern beim Spielen zusehen oder einen Sonnenuntergang betrachten, will Hemden bügeln und Essen für hungrige Mäuler kochen.

    Mit all diesen Hoffnungen im Hinterkopf schwebe ich so elegant wie nie Richtung Eingang, der nur noch wenige Meter entfernt ist. Die feinen Aromen einer würzigen, griechischen Küche wehen mir bereits auf dem Trottoir entgegen. Durch die Fensterfront des Aristons versuche ich, einen Einblick zu erhaschen; will ihn entdecken, bevor er mich sieht. Doch sein Gesicht taucht nirgends auf. Kein Wunder, immerhin bin ich viel zu früh, ganze fünfzehn Minuten!

    Ein aufmerksamer Kellner hält mir die Tür auf, lächelt mich an, ich griene gequält zurück. Der Gefühlsmix aus Neugier, Aufregung und Furcht vernebelt mir die Sinne; ein berauschendes Gefühl, das mich jedes meiner heimlichen Probleme vergessen lässt.

    Mein rassiges Aussehen lässt den Kellner korrekte Schlüsse ziehen. Offenbar bin ich heute die einzige Mexikanerin beim stadtbekannten Griechen. Er fragt: »Frau Cárdenas?«

    Ich nicke, worauf er freundlich in den Saal weist. »Ihre Begleitung ist noch nicht angekommen, aber immerhin haben wir den schönsten Tisch für Sie beide reserviert. Tisch 14.«

    Hier herrscht eine angenehme Temperatur, der Klimaanlage sei dank.

    Der Kellner führt mich an dunklen Holzsäulen und modernem, dekorativen Mobiliar vorbei. In einer Wolke aus Aromen erlesener Weine, dem Bouquet aus Lammfleisch, Joghurtdressing, feinem Gemüse und Schaumsößchen folge ich ihm leichtfüßig in eine lauschige Fensterecke.

    Ich bin schon lange nicht mehr zum Essen ausgegangen. Vor der Eröffnung meiner Boutique habe ich es sogar vermieden, unter Leuten zu sein, doch all das ist überstanden. Jetzt fehlt nur noch Henri zu meinem Glück!

      MORITZ

    Die Pubertät ist ein Arschloch! Bis vor Kurzem war meine Welt noch halbwegs in Ordnung, noch einigermaßen kontrollierbar, aber inzwischen empfinde ich anders. Hab mich in Tatjana verknallt, die schöne Schwarzhaarige aus meiner Klasse. Sid und Jeremy ist das aufgefallen, die haben mich deswegen angequatscht, aber ich habe nur dämlich gegrinst. Als sie weitermachten, bin ich ausgerastet, war richtig sauer und bin mit meinem Mountainbike einfach weggefahren, nachdem ich ihnen meine Fäuste ins Gesicht geschlagen hatte. Zurück blieben malträtierte und verwunderte Gesichter.

    Tja, zwei Freunde weniger. Als Nerd ist das echt ’ne Katastrophe, denn wenn das so weitergeht, muss ich mich bald ganz allein gegen die Coolios aus meiner Schule behaupten. Bestimmt werden Sids und Jeremys Eltern bald meinen Vater anrufen und sich über mein Verhalten beschweren, aber was soll’s.

    So kennen mich meine Freunde nicht, so aggressiv und übellaunig, aber ich finde meine Gelassenheit einfach nicht mehr, denn die scheint von irgendwas verschluckt worden zu sein. Keine Ahnung, was mit mir passiert.

    Hab mir früher nie Gedanken über mein Aussehen gemacht, aber dann kamen immer wieder solche Sprüche von meinen Mitschülern. Anfangs sagten sie Knutschlippe, Hering – weil ich ziemlich dünn bin –, und Schlacksi, all so was eben. Sie behaupten, ich sei »zart«.

    Wenn ich beim Fußballspielen mitmachen möchte, muss ich mir auch immer so blöde Sprüche anhören, dabei bin ich echt gut, weil ich immer wieder überraschend zwischen den anderen auftauche. Geisterschütze nennen sie mich manchmal.

    Meine Ausgrenzung passierte schleichend. Vor einigen Monaten überkam mich das erste Mal das Gefühl, nicht mehr wirklich dazuzugehören, und außerdem bin ich vor ein paar Wochen auf diese zweifelhafte Webseite im Darknet gestoßen oder vielmehr von einem Mädchen hingeführt worden.

    Die ominöse Homepage heißt Blue Whale. Auf der Startseite sieht man den Geist eines gigantischen Blauwals, der im Himmel und damit über allem schwebt, als könne er alles überblicken. Dazu hört man manchmal seine eindringlichen Rufe aus einer fremden Welt.

    Als ich die Seite zum ersten Mal sah, hatte ich Gänsehaut. Zum einen, weil mich der geisterhafte Wolkenwal so faszinierte, zum anderen aber auch, weil ich bald die Spielregeln jener Blue Whale-Challenge entdeckte.

    Anfangs dachte ich noch, ich chatte nur mal ein bisschen mit, muss ja nichts tun, was ich nicht will. Dann habe ich mich überreden lassen, wenigstens die ersten zehn Aufgaben zu meistern. Der Reiz am Überspringen der eigenen Schatten ist groß, zudem ist es spannend nachzusehen, wie weit die anderen schon im Spiel vorangeschritten sind.

    Ein Junge steht gerade vor Aufgabe 43. Wird er bald die fünfzigste Aufgabe erfüllen? Das ist nämlich die letzte, und die zu schaffen, bedeutet den Suizid. Ich hatte ihn schon mehrmals angeschrieben, aber er antwortet nicht, ist vielleicht ein krasser Eigenbrötler, der von nichts und niemandem was wissen will. Ich bin erst bei Aufgabe fünf, muss ein Tier töten, damit ich die nächste Aufgabe machen »darf«, doch ich glaube, hier steig ich aus.

    Meine Chatfreundin Saskia hat mir verraten, was genau man bei der letzten Aufgabe machen muss. Entweder wird verlangt, sich von einem Hochhaus zu stürzen oder sich vor einen fahrenden Zug zu werfen. Entsprechende Zeitungsartikel über den eigenen Tod werden dann folgen, diese sichern einem einen der Ehrenplätze auf der Webseite, mit Namen und Foto, dann ist man ein ewiger Teil des Blauen Wals. Eigentlich total bescheuert, aber das Spiel macht echt süchtig – irgendwie.

    Außer mir sind immer noch ein paar andere User online, und jeden Monat kommen neue dazu.

    Papa hat heute ein Date, da werde ich viel Zeit haben, im Blue Whale zu chatten und meine nächste Aufgabe in Ruhe zu planen. Saskia ist auch ein Teil der Community. Sie will nicht mehr leben, dabei versichere ich ihr während unserer Telefonate regelmäßig, ihr bestimmt helfen zu können, ihre Lebensfreude zu finden – immerhin bin ich auch auf der Suche danach, habe noch Hoffnung, sie zu finden... irgendwann. Selbstmord ist scheiße, aber für manche eben doch ein Ausweg, vielleicht eine Lösung, wenn gar nichts anderes mehr gegen üble Sorgen hilft. Saskia fragt mich regelmäßig, was ich eigentlich im Blue Whale mache, wenn ich so am Leben hänge – das mache keinen Sinn.

    Ich glaube, sie hat lange befürchtet, ich würde die Seite bei der Polizei anzeigen, aber irgendwann gewann sie Vertrauen.

    Saskia hat einen Grund für ihre Suizidgedanken. Sie ist verkrüppelt auf die Welt gekommen, sitzt im Rollstuhl, und ihre Eltern sehen sie nur als Ballast. Sie glaubt, sie hätte keinen Wert in der Hochleistungsgesellschaft. Hab ihr versucht zu verklickern, dass sie immerhin für mich einen Wert hat, mir guttut, auch wenn sie die meiste Zeit ziemlich zickig ist, und ich möchte sie gerne mal treffen – irgendwann, in der nächsten Zeit. Nachdem ich ihr das gesagt habe, hat sie mir viele Grinse-Smileys geschickt, das macht sie sonst nie.

    Ich höre Papa Tschüss sagen, er hat meine Zimmertür nur einen spaltbreit geöffnet. Dann erinnert er mich noch: »Timmy schläft schon. Wenn er weint, lässt du ihn nicht lange warten, klar?«

    »Klar.«

    »Und ich habe die Kerzen heute weggelassen«, erklärt er, »falls Najla noch vorbeikommt.«

    Damit meint er die Grablichter, die normalerweise jede Nacht auf unseren Fenstersimsen stehen.

    Papa kommt jetzt doch zu mir, ich schalte hastig den Monitor aus.

    »Geheimnisse?«, will er wissen.

    »Ich chatte nur wieder mit ’ner Freundin. Die will nicht, dass du mitliest«, erkläre ich brav. Da lächelt er, möchte mir über die Haare streichen, aber ich weiche seiner Hand aus. Er seufzt: »Bis später. Und mach niemandem auf, lass alles verriegelt, klar?«

    »Jap.«

    Ich warte, bis er meine Tür schließt, und chatte weiter.

    Saskia spinnt grade ein bisschen rum. Sie unterstellt mir, ich würde hier mit vielen Mädels chatten, dabei stimmt das gar nicht. Als ich ihr nach zähem Hin und Her klarmachen kann, wie falsch sie liegt, entschuldigt sie sich, schreibt »Sorry«, sie sei nur grade wieder »voll fertig«.

    »Warum? Das Übliche?«, frage ich und vermute, ihre Eltern haben sich wieder gestritten, doch diesmal bedrückt sie etwas anderes.

    »Die Verletzungen an meiner rechten Hand heilen nicht ab. Kann gefährlich werden.«

    Saskia ritzt sich, schneidet sich vor allem in die Finger, die sind nämlich immer in Bewegung. Saskia braucht diese Schmerzen, sagt sie. Dazu kann jeder sehen, was sie sich antut – und trotzdem hilft ihr keine Sau. Zu allem Überfluss leidet sie unter einer Autoimmunerkrankung. Ihr Körper greift sich selbst an, und manchmal überfluten Bakterien ihre Lymph- und Blutbahnen. Schon beide Beine mussten ihr amputiert werden – so genau weiß allerdings keiner, was mit ihr los ist. Meistens glaube ich ihr die privaten Horrorgeschichten, nur manchmal frage ich mich, ob das wirklich sein kann. Ob ein einzelner Mensch wirklich so viel Pech haben kann.

    »Hast du deine Aufgabe schon hinter dir?«

    »Nein. Hab noch keine Ahnung, ob ich das schaffe. Tiere töten ist nicht so mein Ding.«

    »Musst du aber schaffen, sonst darfst nicht weiter.«

    »I know.«

    Von jeder erfüllten Aufgabe muss man ein Foto oder ein Video in die Blue Whale-Cloud hochladen, sonst wird man bedroht, dann würde man sterben, heißt es. So ein Quark! Aber ich lege es trotzdem nicht drauf an, disqualifiziert zu werden.

    Hab für die erste Aufgabe ein totes Mädchen malen müssen, das sich vor einen Zug geworfen hat. Hab ihren Namen darunter geschrieben: Jekaterina Kusnezow. Sie starb vor drei Jahren auf irgendwelchen Gleisen in Russland. Das stand alles im Sputnik, der russischen Online-Zeitung. Jekaterina hat auch Blue Whale gezockt.

    Es gibt etliche Nachahmer-Challenges im Netz oder innerhalb diverser Instant-Messaging-Dienste. Viele davon benennen sich ebenfalls nach dem Meeresgiganten, dennoch gibt es gravierende Unterschiede. Saskia hat mir gesagt, bei manchen Kopien habe man bloß fünfzig Tage Zeit. Aber bei uns läuft es anders, denn unsere Website ist die Richtige, die gibt es schon am längsten. Allein sich hier anzumelden war eine komplizierte Aufgabe für sich; ohne Saskia hätte ich das nicht gepackt.

    Wenn ich daran denke, wie offiziell verkündet wurde, man habe den Verantwortlichen der Blue Whale-Challenge geschnappt, kann ich nur müde lächeln. Verbrecher finden immer einen Weg. Das Darknet ist ein Pilzgeflecht, das sich größtenteils unentdeckt in sämtliche Bereiche des Lebens erstreckt. Nachahmer von den Demons, wie Saskia und ich Darknet-Verbrecher bezeichnen, gibt es sowieso immer genug; aber unser Antoscha ist der echte Blauwal-Admin, das Original, wie er behauptet. Und niemand kriege ihn, denn seine Masche sei die Beste. Na dann...

    Ich hab viel darüber gelesen, aber anstatt mich von dem Game abgestoßen zu fühlen, war ich fasziniert, wollte einfach mal checken, was da so los ist, nachdem mich Saskia auf einer Social-Media-Seite angeschrieben hatte. Der Grund für ihr Interesse war bekloppt: Sie hat behauptet, im Traum hätte ein Wal meinen Namen gerufen, außerdem hätte sie mein Gesicht gesehen. Das hab ich ihr natürlich nicht geglaubt, aber die Tussi ist so schräg drauf, dass wir in Kontakt geblieben sind. Tja, und dann war ich ganz schnell auch ein Shrimp, wie sich die Blue Whale-Mitglieder nennen. Inzwischen hat mich der Himmelswal vollends in den Bann gezogen.

    Meine Neugier bereue ich nicht.

    Wer ist der nächste Tote?

    Bei der zweiten Aufgabe musste ich mich fünf Minuten dabei filmen, wie ich um drei Uhr Nachts Horrorschocker anschaue. Bei der dritten Aufgabe musste ich ein Foto schießen, wie ich nach fünf Stunden nonstop Traurige-Musik-Anhören ausgesehen habe. Die vierte bestand darin, mich an vier Stellen mit einer Kippe zu verbrennen, und die fünfte... Tier abmurksen.

    »Hab heute meine siebenundzwanzigste Aufgabe bestanden. Jetzt sind es nur noch dreiundzwanzig!«, prahlt Saskia.

    Nur noch... Ich schüttle den Kopf und tippe hastig:

    »Du kannst nicht allein raus, brauchst jemanden, der dich schiebt und so. Manche Aufgaben wirst du niemals allein schaffen.«

    »Der Admin sucht mir nur Aufgaben raus, die für mich machbar sind.«

    Wie nett von ihm...

    »Aber die letzte Aufgabe?«

    Pause. Saskia überlegt lange und ich warte, knabbere an meinen Fingernägeln. Dann sehe ich nach links, dort spiegelt sich das Licht meines PCs in meinem Handy. Ich erkenne mein Gesicht in dem reflektierenden Display. Papa sagt immer, ich sei ein ›sehr hübscher Kerl‹. Das hat mir sonst nur meine Mum gesagt. Ich sehe das anders. Komplett anders. Schaue wieder auf den Monitor, denn Saskia verlangt: »Würdest du, falls...?«

    »Nee!«

    Ich würde nie jemandem helfen, sich umzubringen.

    »Aber du musst! Ohne dich packe ich das nicht!«

    Ich muss gar nichts, doch mich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, ist mir jetzt zu blöd.

    »Darüber reden wir dann, wenn’s soweit ist«, gibt sie nach. »Und was ist mit eurem Gnom?«

    Damit meint sie den lästigen Stalker, der oft durch das reiche Viertel stromert. Wir nennen ihn auch Gartenzwombie oder Freakzwerg. Der hängt manchmal in fremden Gärten hinter irgendwelchen Büschen rum und ergötzt sich am Alltag der Wohlhabenden. Da haben sich manche schon beschwert deswegen, aber der komische Typ entwischt der Polizei immer. Manchmal ist er ewig nicht zu sehen, dann taucht er wieder öfter auf, aber immer, wenn er sich entdeckt fühlt, haut er ganz schnell ab. Eben ein Bekloppter, der den Kids Angst macht.

    »Der ist so hässlich, da kotzen selbst die Vögel von den Bäumen, wenn die ihn sehen«, schreibe ich Saskia noch.

    Plötzlich schrecke ich hoch.

    Timmy ruft nach Papa. Der Kleine kommt mir grade recht, weil meine Augen eh schon viel zu müde sind, als dass ich noch länger auf den Bildschirm starren wollte. Mein kleiner Bruder ist übrigens das Wertvollste, was mir von Mama geblieben ist.

    Ich tippe »Timmy weint. Ciao und bis denne«, lasse Saskia im Blauen Wal allein, schalte den PC aus und gehe zum Knirps.

    In seinem Zimmer ist es sehr schwül. Nach so heißen Tagen, wie sie derzeit herrschen, bleibt die drückende Hitze lange in den Räumen zurück, vor allem, weil mein Vater uns verbietet, die Klimaanlage einzuschalten, und das nicht ohne Grund...

    Ein zäher, feuchter Schleier füllt das Zimmer. Timmy sitzt in seinem Bett und reibt sich die Augen, er ist völlig verschwitzt. Seine haselnussbraunen Haare kringeln sich über Stirn und Nacken, was ich dank seines Nachtlichtes leicht erkennen kann.

    »Papa?«, jammert er.

    »Papa kommt erst spät nachts wieder nach Hause. Er trifft sich mit einer Frau.«

    Mit großen Augen sieht er mich an. »Mit Mama?«

    »Nein, nicht mit Mama. Du weißt doch, dass das nicht geht.«

    Trotzig verschränkt er die Arme vor der Brust und protestiert: »Papa sagt aber, dass es geht.«

    Ich erwidere nichts. Papa sagt viele dumme Sachen, um Timmy zu beruhigen und mich zu trösten. Das Meiste davon, was Mama betrifft, ist gequirlte Scheiße.

    Timmy bleibt cool. Er weint nicht, auch nicht, als ich ihm erkläre, dass Papa wahrscheinlich noch ein paar Stunden wegbleibt. Mein Bruder kann mit Begriffen wie »viele Stunden« und »bis spät in die Nacht« noch nichts anfangen. Er orientiert sich ausschließlich an meiner Gelassenheit, deshalb beruhigt er sich rasch, klammert sich an mich und sagt: »Ich hab dich lieb, Mori

    »Ich dich auch.«

    Timmy ist in meiner Welt das einzig Helle und Fröhliche. Zwar merkt man ihm seine Verängstigung durch Papas gelegentliche Anwandlungen an, trotzdem kann ich mich an Timmys sonniger Persönlichkeit festhalten. Meistens jedenfalls.

    Viele Dinge versteht er noch nicht. Ich schon. Und wenn diese neue Frau merkt, was mit Papa los ist, wird sie genauso schnell verschwinden, wie die anderen Frauen vor ihr...

    Ich streichle Timmy so lange über den Kopf, bis er wieder einschläft. Damit beruhige ich auch mich selbst.

    Sein leises Schnarchen lässt mich schließlich entspannt durchatmen. Ich hab Timmys Bettdecke gegen ein dünnes Laken getauscht. Papa kapiert manches einfach nicht, zum Beispiel, dass ich längst weiß, was er mit solchen Nachlässigkeiten provoziert. Kinder schmelzen, wenn man sie im Hochsommer unter eine Winterdecke bettet, das kann echt gefährlich werden, und genau darauf legt Papa es an...

    Während ich Timmy betrachte, lasse ich den Tag Revue passieren. Schule war langweilig, ich hab kaum aufgepasst, saß auf heißen Kohlen, weil ich es kaum abwarten konnte zu erfahren, wie es meinem Bruder heute im Kindergarten ergangen ist.

    Er mag den Kindi nicht, denn Mama hat ihn an

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