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Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy
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eBook263 Seiten3 Stunden

Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy

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Über dieses E-Book

Nachdem der Vater der dreizehnjährigen Shirin in Afghanistan beim Minensuchen tödlich verunglückt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Als „Teejunge“ muss sie nun auf dem Basar von Herat Geld verdienen, anstatt wie bisher die Schule zu besuchen.

Hier trifft sie den „Dancing Boy“ Faruk, der ihr seine traurige Geschichte erzählt. Die beiden werden Freunde, und als sich das Schicksal wendet, machen sie sich zusammen auf den Weg in ein neues Leben.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. Apr. 2019
ISBN9783743853355
Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy

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    Buchvorschau

    Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy - Maria Braig

    Shirin

    Shirin war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Heute war ein guter Tag, die Lehrerin hatte sie sehr gelobt, weil sie den besten Aufsatz der Klasse geschrieben hatte. Shirin beeilte sich, sie wollte möglichst schnell nach Hause kommen, um den Eltern davon zu berichten. Sie würden sich sehr freuen, das wusste Shirin, denn ihnen war wichtig, dass ihre Tochter die Schule besuchte und gut lernte.

    „Nur wer eine gute Schulbildung besitzt, kann später über sein Leben selbst bestimmen", das bekam Shirin immer wieder von Vater und Mutter zu hören. Beide hatten als Kinder noch ein ganz anderes Afghanistan erlebt, als Shirin es heute kannte.

    Manchmal zweifelte Shirin an diesem Lieblingssatz der Eltern, denn schon die Großeltern hatten beide die Hochschule besucht und waren schließlich doch nicht in der Lage gewesen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Shirin konnte sich nur schwach an sie erinnern, erst war der Großvater, ein paar Jahre später die Großmutter gestorben. Bis zuletzt hatten sie gehofft, es kämen wieder andere Zeiten und der Großvater, der bei der Regierung in Ungnade gefallen war, könnte zurück an die Hochschule und die Großmutter könnte wieder als Lehrerin arbeiten und ohne Burka auf die Straße gehen. Aber sie hatten den Wandel nicht mehr erlebt.

    Shirins Vater hatte zwar ebenfalls studiert, aber als Sohn seines missliebigen Vaters keine entsprechende Stelle bekommen, und arbeitete mal hier und mal dort, um mit seiner Familie eher schlecht als recht über die Runden zu kommen. Die Mutter war in Zeiten groß geworden, als Mädchen keine öffentlichen Schulen besuchen durften. Im Geheimen hatten Lehrerinnen bei sich zu Hause unterrichtet und dort hatte auch Shirins Mutter eine einigermaßen gute Schulbildung bekommen, aber eine Ausbildung hatte sie nicht machen können, an ein Studium war gar nicht zu denken.

    Es war nicht immer so gewesen in Afghanistan. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Jungen und Mädchen gemeinsam zur Schule gingen, in denen Männer und Frauen studieren konnten und anschließend in ihren gewählten Berufen arbeiteten, so hatten die Eltern erzählt. Allerdings hatte es immer schon große Unterschiede zwischen dem Leben in den großen Städten und dem auf dem Land gegeben. In den Dörfern, erst recht in solchen, die weit weg von den großen Zentren oder in den Bergen angesiedelt waren, mussten die Kinder meist arbeiten, anstatt zur weit entfernten Schule zu gehen, und die Menschen erfuhren weniger vom Weltgeschehen als in der Stadt. Hier hatten die Frauen immer schon weniger Rechte und weniger Wert als die Männer.

    Dann kam die sowjetische Invasion in Afghanistan. Soldaten aus der Sowjetunion, einem Land, das es heute gar nicht mehr gab, waren gekommen und hatten die Macht übernommen. Auch in dieser Zeit war nicht alles gut gewesen, denn Krieg bedeutet immer Unrecht und Gewalt, und zu leiden haben am meisten die, die an den militärischen Auseinandersetzungen gar nicht beteiligt sind. Aber die sowjetischen Soldaten hatten versucht, den Menschen auf dem Land Lesen und Schreiben beizubringen und wer es sich leisten konnte, durfte weiterhin eine gute Ausbildung machen oder studieren. Männer genauso wie Frauen. In den großen Städten galten die Frauen fast so viel wie die Männer. Fast nur – aber immerhin hatten sie viel mehr Möglichkeiten als heute.

    Dann kamen die Taliban, unterstützt von den westlichen Feinden der Sowjetunion, deren Ziel es war, mit Hilfe dieser einheimischen Rebellen die sowjetische Armee aus dem Land zu werfen und selbst an Einfluss zu gewinnen. Aber dann hatten die Taliban ihre ausländischen Unterstützer nicht mehr gebraucht und allein die Macht in Afghanistan übernommen. Die Sowjets mussten das Land verlassen, es kam zum Bürgerkrieg, den Frauen wurden alle Rechte genommen und nur ganz mutige Familien schickten ihre Töchter in geheime Schulen. Schule gab es laut Gesetz nur für Jungen, die Mädchen und Frauen hatten zu Hause zu bleiben und den Männern zu dienen.

    Viele Jahre überdauerte die Herrschaft der Taliban, dann kam der nächste große Krieg, weil das ganze Land dafür bestraft werden sollte, dass ein paar wenige Terroristen, deren Drahtzieher in Afghanistan vermutet wurden, in Nordamerika Anschläge verübt und sehr viele Menschen getötet hatten. Die meisten Menschen in Afghanistan verstanden nicht, was sie damit zu tun hatten, und viele von ihnen kamen in einem Krieg ums Leben, den sie nicht gewollt hatten, der von den Angreifern aber Befreiungskrieg genannt wurde. Die Taliban sollten verjagt werden, weil sie angeblich die Hintermänner der Anschläge versteckten, so hieß es. Und die Menschen in Afghanistan sollten von der Unterdrückung durch die Taliban und die Frauen von der Unterdrückung durch die Männer und den alltäglichen Ungerechtigkeiten befreit werden. Das alles war schwer zu verstehen, fand Shirin. Sie sollten zugleich bestraft und befreit werden, und viele starben, obwohl sie nie jemandem etwas zuleide getan hatten. Aber das waren Erwachsenendinge, die musste sie schließlich auch nicht verstehen.

    Da die Menschen in Afghanistan nichts gegen die Bomben und Minen und die Angriffe der fremden Soldaten tun konnten, hatten sie versucht, an die Befreiung zu glauben und viele, die die besseren Zeiten noch erlebt oder deren Eltern ihnen davon erzählt hatten, hatten sich erhofft, dass nun wenigstens bald alles wieder so sein würde, wie in den guten Zeiten Afghanistans. Leider war das so nicht eingetroffen. Viele Warlords (Kriegsherren, die über einzelne Regionen herrschen) hatten zwar die Seiten gewechselt, nicht aber ihr Verhalten. Sie unterstützten nun zwar nicht mehr die Taliban, sondern standen auf Seiten der westlichen Befreier, ansonsten hatte sich aber nichts verändert. Die Warlords besaßen weiterhin die Macht und nutzten dies gründlich aus.

    Allerdings war es den Mädchen jetzt wieder erlaubt, öffentliche Schulen zu besuchen – wenn die Familien sich das leisten konnten und wenn es die Umstände und die Eltern und Großeltern erlaubten und die Taliban, die in manchen Regionen des Landes immer noch die Macht besaßen, fern waren. Bei Shirin war das der Fall, und sie freute sich darüber.

    Shirin liebte es, zur Schule zu gehen. Sie lernte gerne und mochte es, nicht immer zu Hause sitzen, sondern sich mit anderen Mädchen zu treffen, mit ihnen zu lernen und zu spielen. Bald wäre sie alt genug, um die Burka tragen zu müssen, wenn sie das Haus verließ. Das war zwar nicht mehr Vorschrift wie früher, aber ihre Mutter würde sie aus Sorge um die Sicherheit der Tochter nicht ohne aus dem Haus gehen lassen, wenn ihr Körper erst einmal die äußerlichen Anzeichen einer Frau entwickelte. Immer noch liefen Frauen ohne Burka Gefahr, von Männern angegriffen und belästigt zu werden. Viele Männer wollten nicht einsehen, dass Frauen gleiche Rechte haben sollten wie sie selbst, nur weil jetzt andere Regeln galten, die sie nicht selbst gemacht hatten, sondern die ihnen durch einen Krieg von außen aufgezwungen wurden. Mit Gewalt sollte ihnen klar gemacht werden, dass sie keine Gewalt gegenüber Frauen ausüben durften, so erlebten sie den Wandel in der Gesellschaft und viele wehrten sich dagegen, und Frauen ohne Burka lebten weiterhin in ständiger Gefahr. Shirin war wild entschlossen, die Zeit ohne Burka so lange wie möglich zu genießen, aber sie würde auch mit ihr zur Schule gehen, wenn es eben nicht anders ging, das stand für sie fest.

    Der Schulweg war weit. Shirin musste früh morgens zu Fuß vom Dorf, in dem ihre Familie lebte, in das nächste, ein wenig größere Dorf, in dem sich die Schule befand, gehen, und am Nachmittag wieder zurück. Aber nun hatte sie es bald geschafft, sie sah schon die Dächer ihres Dorfes in der Sonne funkeln.

    Irgendetwas war komisch, so schien es ihr, als sie sich dem Haus näherte, in dem sie zusammen mit Vater und Mutter und den beiden kleinen Schwestern lebte. Eigentlich sah alles aus wie immer, aber doch lag etwas Beunruhigendes in der Luft. Als Shirin die Haustür öffnete, hörte sie ihre Mutter weinen und die Tante beruhigend auf sie einreden. Shirin erschrak. Die Tante wohnte nicht hier und kam nur ganz selten zu Besuch.

    Als sie ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf die beiden kleinen Mädchen, die still und mit großen Augen in der Ecke auf dem Teppich saßen. Ihre kleinen Schwestern tobten sonst fast ohne Unterbrechung im Haus herum, bis die Eltern sie hinausschickten. Dann machten sie ihrer anscheinend grenzenlosen Energie im Freien Luft. Die beiden so still und regungslos zu sehen, jagte Shirin einen riesigen Schrecken ein.

    „Was ist los?", fragte sie, aber Nila und Nesrin saßen nur stumm da und starrten Shirin mit angstvollen Augen an. Dann fiel Shirins Blick auf die Mutter, die auf ihrer Schlafmatte lag und abwechslungsweise vor sich hin schluchzte oder laut jammerte und schrie.

    „Mutter", wollte Shirin rufen, aber die Stimme versagte ihr. Dennoch hatte die Tante, die neben der Mutter am Boden kniete, sie bemerkt. Sie drehte sich um, sah Shirin an und erhob sich.

    „Shirin", sagte sie ernst und leise und ging auf das Mädchen zu, um es in den Arm zu nehmen. Aber Shirin trat einen Schritt zurück.

    „Was ist passiert?, fragte sie leise. „Wo ist Vater?

    „Du musst jetzt sehr stark sein", sagte die Tante und Shirin hätte sie am liebsten dafür geschlagen. Diesen Satz kannte sie aus Büchern und Geschichten und fand ihn schon da unmöglich – jetzt konnte sie das einfach nicht ertragen.

    „Was ist los? Wo ist Vater?", schrie sie nun lauthals, so dass sogar die Mutter auf ihrer Schlafmatte für kurze Zeit verstummte und den Kopf hob. Die Tante setze sich auf eines der Sitzkissen, die auf dem Boden lagen, und zog Shirin zu sich herunter.

    „Dein Vater hatte heute einen Auftrag beim Minenräumen. Du weißt, dass er das manchmal macht, um genug Geld für euch alle zu verdienen. In der Autowerkstatt gibt es ja nicht immer Arbeit für ihn."

    „Was ist mit ihm?", fragte Shirin, hatte aber bereits verstanden, bevor die Tante in ihrer Erklärung fortfuhr.

    Der Vater war tot! Ihr Vater war tot, weil er eine Mine aus diesem schrecklichen Krieg hatte wegräumen wollen, damit sie kein Kind zufällig beim Spielen zerriss. Und nun hatte die Mine ihn zerrissen. Eine Mine, die irgendwer gelegt hatte, man wusste nicht mehr, welche Seite wo was hinterlassen hatte, und Shirin war das auch völlig egal. Sie hatten sich gegenseitig erschossen, sie hatten Männer, Frauen und Kinder getötet und sie töteten sie immer noch durch ihre Hinterlassenschaften. Shirin hatte einige Kinder in der Schule gesehen, die noch Glück gehabt hatten und nun mit nur einem Bein oder einem Arm weiterlebten.

    Am liebsten hätte Shirin sich wie die Mutter einfach unter ihrer Decke verkrochen und geheult und geschrieen, aber sie konnte nicht weinen. Der Vater war tot! Sie versuchte zu begreifen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Es konnte doch nicht sein, dass er nicht mehr zurück kam, dass er nicht heute Abend mit ihnen zusammen essen würde, erzählen würde, wie sein Tag gewesen war und sich von der Mutter, den beiden Kleinen und Shirin erzählen ließ, wie der ihre verlaufen war. Es konnte nicht sein, dass der Vater sie nie mehr loben würde dafür, wie gut sie in der Schule war und dass sie heute den besten Aufsatz der Klasse mit nach Hause gebracht hatte. Und doch war er nicht da. Shirin blieb nichts anderes übrig, als der Tante zu glauben, als diese von seinem Tod erzählte.

    Sie durfte den Vater nicht mehr sehen, das wäre „besser so", sagte die Tante – und Shirin konnte noch immer nicht weinen.

    Auch nachdem der Vater beerdigt worden war, was die Tante gemeinsam mit ihrem Mann und anderen Verwandten organisiert hatte, verbrachte die Mutter immer noch die meiste Zeit auf ihrer Schlafmatte. Sie weinte nur noch selten, aber sie sprach auch nicht und schien nur vor sich hinzudämmern. Die Tante kam alle paar Tage und brachte fertig gekochtes Essen für mehrere Mahlzeiten mit. Shirin blieb zu Hause und passte auf die kleinen Schwestern auf. Sie war verzweifelt. Was sollte sie tun, wenn die Mutter nicht mehr aufstehen würde? Wann könnte sie wieder zur Schule gehen und wie sollte alles weitergehen, wenn die Tante irgendwann nicht mehr kam? Sie hatte ja ihre eigene Familie im Nachbardorf und selbst genügend Sorgen und Arbeit, und sie, Shirin, konnte doch nicht für die Mutter und die Schwestern sorgen.

    Doch dann schien irgendetwas mit der Mutter passiert zu sein. Eines Tages stand sie frühmorgens auf, wusch sich lange und ausgiebig und kochte Tee für alle. Sie versammelte ihre drei Töchter um den kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers, setzte sich zu ihnen, sah sie lange an, räusperte sich und begann zu sprechen.

    „Ich bin wieder da", sagte sie. „Es tut mir leid, dass ich euch so lange allein gelassen habe. Aber ich habe euren Vater sehr geliebt und mein Leben ist in einem einzigen Augenblick zusammengebrochen. Deshalb bin auch ich zusammengebrochen. Ich wollte nicht mehr leben und wusste nicht, wie ich euch weiter am Leben erhalten sollte. Ich wollte nur noch schlafen, nichts sehen und nichts hören und warten, bis auch mein Leben zu Ende ginge. Aber heute Nacht habe ich von eurem Vater geträumt. Er hat mich an meine Verantwortung für euch Drei erinnert. Euer Vater wird nicht mehr zurückkommen, damit müssen wir uns abfinden, aber er will, dass wir leben.

    ‚Ayla, du musst aufstehen und für unsere Töchter da sein!‘, sagte er immer wieder zu mir. Und irgendwann im Lauf der Nacht habe ich verstanden. Unser Leben muss weitergehen, auch ohne ihn, und die Tante hat mit ihrer eigenen Familie genug zu tun. Wir müssen wieder selbst für uns sorgen. Im Traum habe ich gesehen, wie es weitergehen kann mit uns."

    Nach einer kurzen Pause wandte sie sich an Shirin.

    „Du bist meine große Tochter, fuhr sie fort. „Wenn du heute aus der Schule kommst, dann müssen wir reden und Pläne für die Zukunft machen.

    Shirin, die noch immer nicht weinen konnte, freute sich zum ersten Mal seit dem Tod des Vaters wieder. Sie freute sich, dass die Sonne schien, dass sie selbst am Leben war und vor allem, dass sie endlich wieder zur Schule gehen durfte. Die Mutter war wieder da! Jetzt würde alles wieder gut. Fast alles, so gut es eben werden könnte ohne den Vater, den sie so sehr geliebt hatte. Shirin machte sich auf den Weg, ohne die Schatten zu sehen, die über ihr lagen und die die Pläne ihrer Mutter für sie bedeuteten.

    Bacha Posh

    Als Shirin am späten Nachmittag aus der Schule zurück kam, hatte die Mutter das Haus geputzt, wie früher Blumen aus dem Garten überall im Zimmer verteilt, und sie hatte Shirins Lieblingsessen gekocht. Die kleinen Schwestern maulten ein wenig herum, aber die Mutter beruhigt sie schnell: „Morgen koche ich etwas Besonderes für euch!"

    Zusammen saßen sie alle nach dem Essen auf ihren Kissen und erzählten sich Geschichten davon, was sie mit dem Vater erlebt hatten. Jede hatte ein besonders wichtiges Ereignis zu schildern und zwischendurch weinten sie auch immer wieder, sogar Shirin konnte heute ein paar Tränen vergießen. Dann mussten die Kleinen ins Bett und die Mutter kochte Tee, stellte die gefüllten Gläser vor Shirin und sich und brachte eine Dose mit Keksen.

    „Shirin, wir müssen jetzt für uns selbst sorgen, begann Ayla. „Ich habe keinen Mann mehr und du keinen Vater. Ein wenig Erspartes ist uns geblieben, aber nicht allzu viel. Lange werden wir damit nicht auskommen. Und es gibt niemanden, der für uns da ist. Die Tante hat uns sehr geholfen in den ersten Tagen nach Vaters Tod, aber mehr kann sie nicht tun, sie hat ja selbst kaum etwas. Deine Schwestern sind noch zu klein, deshalb musst du mir jetzt helfen, allein schaffe ich das nicht.

    Shirin hörte zu und schwieg. Sie wusste nicht, wie sie mit der Mutter allein die Familie ernähren sollte. Frauen durften immer noch nur in den seltensten Fällen arbeiten und wenn sie es taten, wurden sie oft bedroht. Es gab eine Taxifahrerin, von der hatte Shirin irgendwo gelesen, die von ihren Brüdern mit Waffen beschützt werden musste, weil viele Männer es nach wie vor nicht gerne sahen, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten gingen. Es hatte sich kaum etwas zum Guten verändert in Afghanistan durch diesen Krieg, der angeblich die Frauen befreien sollte, fand Shirin. Sie durfte zwar laut Gesetz zur Schule gehen, aber auch das wurde von vielen Männern nicht gerne gesehen. Und dann, was kam nach der Schule? Frauen allein konnten noch immer kaum überleben, sie bekamen keine Ausbildung, keine feste Arbeit, wurden bedroht und geschlagen, wenn sie es wagten, ohne Burka auf die Straße zu gehen, und die wenigen Jobs, die es gab, bekam auf jeden Fall keine Frau, solange so viele Männer arbeitslos waren. Frauen wurden zur Ehe gezwungen und wenn sie sich weigerten, oft ermordet. Männer schlugen ihre Ehefrauen und verloren ihr Ansehen, wenn in der Öffentlichkeit der Anschein bestand, sie wären nicht die Gebieter zu Hause.

    „Wir könnten zu Vaters Familie gehen, wo mich dann einer seiner Cousins heiraten wird, fuhr die Mutter fort. „Bei der Beerdigung wollten sie uns schon mitnehmen, aber ich war glücklicherweise zu schwach und so haben sie die Entscheidung noch aufgeschoben. Wir könnten bei ihnen leben und sie würden uns alle versorgen. Sie werden dann aber auch über euch bestimmen und euch verheiraten, sobald ihr alt genug seid.

    Shirin schrak aus ihren Gedanken auf. Sie war schon bald alt genug, um verheiratet zu werden. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte zur Schule gehen und dann würde sie schon sehen, wie ihr späteres Leben verlief. Auf jeden Fall würde sie selbst bestimmen, wie es kommen würde und wen sie vielleicht einmal heiraten mochte.

    „Nein, Mutter, das geht nicht …"

    „Nein, das geht nicht, da hast du vollkommen recht. Ich will das nicht für euch und nicht für mich. Aber du weißt auch, dass eine Frau ohne Mann in unserem Land nichts wert ist. Dass sie möglichst nicht aus dem Haus gehen sollte, um nicht als Freiwild für andere Männer zu gelten, und dass sie kaum eine Arbeit bekommen kann."

    Shirin nickte. „Aber was können wir sonst tun?", fragte sie.

    „Wir könnten nach Kabul gehen. Dort gibt es einen Ort, den Witwenhügel, wo Witwen mit ihren Kindern in selbstgebauten Hütten wohnen. Vielleicht könnte ich in der Stadt als Haushaltshilfe arbeiten? Aber wir wären dort ganz allein, ohne die Tante, ohne den Onkel, ohne irgendwelche Verwandten in der Nähe. Hier können sie zwar auch nicht allzu viel für uns tun, aber sie wohnen im nächsten Dorf und in der Not sind sie immer für uns da. Und was, wenn ich dann keine Arbeit finde oder sie wieder verliere? Und auch in Kabul ist das Leben für eine Frau allein mit ihren Kindern sehr gefährlich und unsicher."

    Shirin nickte wieder. Sie wollte nicht nach Kabul, sie hatte Angst vor einer völlig unbekannten Umgebung und sie wollte ihre Schulfreundinnen nicht verlieren.

    „Shirin, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Aber nur du kannst entscheiden, ob du bereit dafür bist."

    Shirin überlief es ein wenig, ihr war kalt. Das hörte sich sehr geheimnisvoll an und sie bekam Angst. Was meinte die Mutter? Was sollte sie entscheiden? Sie, Shirin, die gerade mal dreizehn Jahre alt war. Vor wenigen Tagen erst hatten sie noch mit dem Vater ihren Geburtstag gefeiert. Dreizehn Jahre reichten aus, um verheiratet zu werden, hatte der Vater erzählt und ihr erklärt, dass es solche Sitten auch heute noch gäbe, dass sie aber in einer Familie lebte, wo sie selbst entscheiden könnte, wen und wann sie heiratete – allerdings würde er ihr das frühestens erlauben, wenn sie 18 Jahre alt sei. Aber was konnte sie als 13jähriges Mädchen für ihre Familie tun? Was sollte sie entscheiden, was die Mutter nicht konnte?

    Shirin sah die Mutter fragend an, sie wollte fragen, was sie denn meine, aber es saß ein Kloß in ihrem Hals, der sie am Sprechen hinderte.

    „Shirin, weißt du, was eine Bacha Posh ist?"

    Shirin nickte. In ihre Klasse war erst kürzlich eine Neue gekommen. Sie war schon 14 Jahre alt und ihre Brüste begannen sich zu entwickeln, das war nicht zu übersehen. Auffallend waren ihre Haare. Sie waren sehr kurz geschnitten, während alle anderen Mädchen in der Klasse lange Haare hatten. Die neue Mitschülerin erzählte, dass sie, seit sie noch ganz klein gewesen war, eine Bacha Posh war, bis sie vor wenigen Wochen zum ersten Mal ihre Tage bekommen hatte. Die anderen hatten nachgefragt, was für Tage, aber die Neue hatte nur wissend geschwiegen und gemeint, dafür wären sie noch zu jung, sie würden das schon erfahren, wenn die

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