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Das Kabinett des Bösen: Ostsee-Krimi
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eBook317 Seiten4 Stunden

Das Kabinett des Bösen: Ostsee-Krimi

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Über dieses E-Book

Von der Krabbelgruppe zum Tatort und wieder zurück.
Polizistin Hedi Voss steht vor einer besonders schwierigen Herausforderung: von den anderen Müttern der Krabbelgruppe akzeptiert zu werden. Gar nicht so einfach, wenn sie lieber über schaurige Verbrechen spricht statt über Unverträglichkeiten von Kleinkindern. Als sie bei einer Haushaltsauflösung auf eine Ansammlung von Puppen stößt, die einen viele Jahre zurückliegenden Mord nachstellen, ist das eine willkommene Ablenkung. Zum Entsetzen ihres Gatten kauft Hedi die gesamte Aufstellung und stürzt sich in die Ermittlungen.
Schnell findet Hedi heraus, dass der verstorbene Besitzer des Puppenkabinetts bis zu seinem Tod davon besessen war, seine Unschuld am Tod des Models Rosalind Bergmann zu beweisen. Nun liegt es an Hedi, den Geheimnissen der damaligen Gäste von Rosalinds tödlicher Geburtstagsparty auf den Grund zu gehen, in die Gefilde des Show-Business einzutauchen und gleichzeitig ihren Sohn davon abzuhalten, mit den Mörderpuppen in seinem Kinderzimmer zu spielen.
 
Der zweite Cosy-Crime-Roman rund um die Ermittlerin in Elternzeit Hedi Voss überzeugt mit Witz, Spannung und dem Jonglieren zwischen Muttersein und Mord.
 
SpracheDeutsch
HerausgeberZeilenfluss
Erscheinungsdatum12. Jan. 2024
ISBN9783967144109
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    Buchvorschau

    Das Kabinett des Bösen - Miriam Rademacher

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    DER GEKAUFTE FALL

    1

    Hedi Voss,

    Polizistin im Erziehungsurlaub, die erst im vergangenen Herbst einen verzwickten Mordfall zur Aufklärung gebracht hatte, saß auf einem Teppichboden und musterte den Kotzfleck auf ihrer Jeans. Ihrer Meinung nach handelte es sich bei dem, was das grinsende Kleinkind mit den roten Locken gerade über sie gespuckt hatte, um die Überreste eines Löffelbiskuits. Doch das konnte nicht sein, denn in dieser Krabbelgruppe des Familienzentrums achtete man angeblich auf zuckerfreie Ernährung.

    »Oh, das tut mir leid«, rief die ältere, aber nicht minder rotgelockte Ausgabe des zahnlos grinsenden Mädchens und kam herbeigeeilt. Sie reichte Hedi ein nach Kamille duftendes Feuchttuch. »Da hat meine Maike wohl den geriebenen Apfel nicht gut vertragen.«

    Hedi wollte die Mutter der süßen Maike gerade darauf aufmerksam machen, dass Apfelmus völlig anders aussah und auch unter dem Einfluss von Magensäure nicht nach Keks roch, als sie den bittenden Blick der jungen Frau auffing.

    »Halb so wild«, murmelte Hedi, wischte sich rasch die Brocken von der Jeans und ließ sie im Mülleimer verschwinden. »Mein Riko spuckt geriebenen Apfel genau schnell aus, wie ich ihn in das Kind hineinlöffle.«

    »Wo ist denn dein Riko?« Die Rothaarige mit dem runden Gesicht blickte sich suchend im Spielzimmer um.

    Auch Hedi prüfte daraufhin ihre Umgebung, konnte ihren Sprössling aber nirgendwo entdecken. Riko war jetzt fast acht Monate alt und bewegte sich auf allen vieren manchmal schneller fort, als es ihr möglich war, ihm auf zwei Beinen zu folgen. Auch jetzt hatte der Junge die erstbeste Gelegenheit zur Flucht ergriffen und war von der Bildfläche verschwunden.

    »Weit wird er nicht gekommen sein, er kann die Tür ja nicht öffnen.« Die Stimme von Maikes Mutter hatte einen tröstenden Tonfall angenommen. »Ich bin übrigens Berit. Die jüngste Mutter in dieser Gruppe und in den Augen der meisten absolut unfähig, ein Kind aufzuziehen, weil ich das Vormittagsprogramm des Kinderkanals liebe, keine angesagten Ratgeber lese und Maikes Karottenbrei nicht selber koche.«

    Und weil du Biskuitkekse mit Äpfeln verwechselst, dachte Hedi und gab der anderen die Hand.

    »Ich bin Hedi. Neu hier, und wenn du in den Augen der anderen wegen solcher Kleinigkeiten als unfähig giltst, dann bin ich für sie vermutlich so etwas wie der Antichrist und gekommen, um dir den Rang abzulaufen.«

    »Das wäre schön.« Berit seufzte und drückte ihrer Tochter verstohlen ein Stück Keks in die winzige Faust. »Und was hast du so getan, bevor das Schicksal dich zur Mutter gemacht hat?«

    »Ich war bei der Polizei«, erwiderte Hedi und sah sich mit finsterer Miene um. »Doch seit Rikos Geburt fahnde ich nur noch nach verlorenen Schnullern und Söckchen. Jetzt, da er mobil ist, darf ich auch noch nach meinem Kind suchen. Es ist zum Auswachsen.«

    »Ich helfe dir. Irgendwo muss er ja sein. Wie sieht er denn aus?« Berit sprang auf und begann zwischen den Unmengen an Spielzeug, das überall im Raum verteilt war, herumzuwühlen.

    »Wie ein Baby«, meinte Hedi und schob ihrerseits einige überdimensionale Bauklötze aus Schaumgummi beiseite.

    Doch Riko steckte nicht zwischen Stofftieren und Legosteinen. Sosehr Berit und Hedi sich auch bemühten, sie konnten das propere Kleinkind mit dem fast kahlen Schädel nirgends finden.

    Erst der Schrei einer weiteren Mutter, gefolgt von dem Ausruf »Da liegt ja einer drin!« brachte sie auf die richtige Spur.

    Und so entdeckte Hedi ihren Sohn am Grund des Bällebads, wo er reglos unter den bunten Plastikkugeln gelegen und nach oben gestarrt hatte.

    »Na, der versteht es aber, anderen einen Schreck einzujagen. Ich dachte schon, er sei unbemerkt erstickt. Sie haben eine Aufsichtspflicht, ist Ihnen das klar?« Die nicht besonders glückliche Finderin von Riko sah Hedi vorwurfsvoll an, als ob sie ihrem Kind so einen Unsinn absichtlich beigebracht hätte.

    Da Hedi sich aber keiner Schuld bewusst war, verteidigte sie sich nicht, hob Riko hoch und trug ihn zurück auf den Teppich, wo sie ihm einen Bauklotz aus dem Mund pulte und ihn fragte: »Was haben wir zwei hier eigentlich verloren? Was war das für eine blöde Idee? Als ob ich mich in einer Krabbelgruppe voller Vorzeigemütter wohlfühlen könnte.«

    Ihr Sprössling erwiderte nichts, sondern streckte nur seine kleinen Finger nach dem besabberten Bauklotz aus.

    Riko war nicht von der gesprächigen Sorte. Hedi wusste nicht, ob er zu faul war, auch nur einen Laut von sich zu geben, oder ob er in seiner Entwicklung bereits hinterherhinkte. Hätte ein Kind von acht Monaten sich nicht zu einem zustimmenden Grunzen, ein paar sinnlos aneinandergereihten Silben oder sogar einem ersten verständlichen Wort verleiten lassen müssen?

    Hedi sah sich verstohlen um. Die Kinder der anderen Mütter schienen ihr etwa im gleichen Alter zu sein. Sie schrien wie am Spieß oder brabbelten vor sich hin. Riko tat nichts von alledem. Aus irgendeinem Grund war ausgerechnet sie mit einem genügsamen Kind gesegnet worden. Doch inzwischen war es ihr im Alltag zu ruhig, und das war auch der Grund, der sie in diese Lage gebracht hatte: die Sehnsucht nach anspruchsvoller Konversation und Gesellschaft. Alles Dinge, die sie zusammen mit ihrem Berufsleben eingebüßt hatte.

    »So, jetzt treffen wir uns im Schlusskreis und singen ein paar hübsche Lieder«, rief gerade eine der übrigen Mütter, die gern den Ton anzugeben schien.

    Hedi setzte sich folgsam zu den anderen, musste aber feststellen, dass sie die infantilen Liedchen und albernen Fingerspiele nicht kannte. Große Uhren machten also ›tick tack‹? War das eine Weisheit, die ihr Kind oder sie selbst irgendwie weiterbrachte? Hedi seufzte und schielte auf ihre eher kleine Armbanduhr. Als der große Zeiger ohne ›tick‹ und ›tack‹ das Ende dieser Tortur ankündigte, sprang sie auf und stürmte mit Riko auf dem Arm hinaus. Noch im Gehen verpackte sie ihr Kind winterfest und wasserdicht in einen himmelblauen Schneeanzug, legte Riko in den Kinderwagen und floh mit ihm ins Freie.

    Draußen empfing sie nasskaltes Januarwetter. Eine Bö riss einzelne Strähnen ihrer blonden Haare aus dem unordentlichen Dutt auf ihrem Kopf und trieb ihr die Tränen in die Augen. Hedi blinzelte. Sie war dieses Wetter gewöhnt. Eckernförde ohne Wind war fast nicht vorstellbar. Zumindest nicht in der kalten Jahreszeit. Entschlossen, allem zu trotzen, marschierte sie über den verlassenen Marktplatz.

    Nicht viele Dinge wirkten so trostlos wie eine Urlaubsstadt an einem kalten Regentag. Eckernförde mit seiner hübschen Architektur gab sich Mühe, eine Ausnahme zu sein, und trotzdem saß der Großteil der Einwohner hinter zugezogenen Gardinen und wartete auf den Frühling. Das würden auch sie und Riko von jetzt an tun: auf bessere Zeiten warten. Diese Krabbelgruppe jedenfalls war ein Reinfall gewesen.

    »Warte«, hörte sie eine Stimme hinter sich rufen, und Hedi verlangsamte ihre Schritte. Geduldig wartete sie, bis Berit und Maike, beide mit poppigen Pudelmützen auf dem Kopf, zu ihr aufgeschlossen hatten. Das Baby nagte schon wieder an einem Keks. »Kommst du nächstes Mal wieder?«

    »Ich weiß nicht genau.« Gerade hatte sie es noch gewusst, aber in den Worten der anderen hatte so etwas wie eine Bitte mitgeschwungen.

    »Du musst wiederkommen«, sagte Berit prompt. »Das war das erste Mal, dass sie zum Schluss keine abfällige Bemerkung in meine Richtung gemacht haben. Die anderen Mütter, meine ich.«

    »Gern geschehen.« Sie hatte es ja gewusst. Riko und sie gehörten nicht in eine Krabbelgruppe.

    »Hast du Lust, mit uns zu kommen?«, fragte Berit unvermittelt und sah sie erwartungsvoll an. »Am Stadtrand findet heute eine ganz besondere Haushaltsauflösung statt. Da muss ich einfach hin.«

    Hedi wollte gerade antworten, dass sie zu allem bereit war, was sie für ein paar Stunden von ihrem Mutterglück ablenkte, sogar Hochseilakrobatik, wenn es sein musste, doch Berit plapperte bereits weiter.

    »Bevor Maike kam, war ich nämlich Immobilienmaklerin. Na ja, eigentlich mehr so eine Art Hilfskraft, aber ich hatte großen Spaß an meinem Job. An dem Haus, das heute ausgeräumt wird, bin ich oft vorbeigefahren, und es hat es mir irgendwie angetan. Es ist so ein niedliches kleines Ding mit Sprossenfenstern und Efeu, der die Fassade hochkriecht. Drinnen war ich nie, weil der Besitzer so ein menschenscheuer Miesepeter war und nichts vom Verkauf wissen wollte. Aber jetzt ist er tot, und ich kann mich endlich einmal in dem Schmuckstück umsehen. Komm einfach mit. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du es mit eigenen Augen siehst.«

    Hedi folgte der ununterbrochen redenden Berit bereits in eine Seitenstraße, wo ein nagelneuer VW auf sie beide wartete und fröhlich quiekte, als Berit auf die Fernbedienung drückte. Der Kofferraum war so riesig, dass Rikos Kinderwagen mühelos darin Platz fand. Hedi setzte sich mit ihrem Sohn auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. In Ermangelung eines zweiten Kindersitzes würde sie Riko festhalten müssen. Doch unzählige Kinder hatten Fahrten wie diese überlebt, bevor Kindersitze und Gurtpflicht auch nur erfunden waren. Es würde schon nicht ausgerechnet jetzt etwas schiefgehen.

    »Du warst keine Verkehrspolizisten, oder?« Berit setzte sich hinter das Steuer.

    »Wie kommst du darauf?«

    »Nur so.« Sie drehte den Zündschlüssel. »Rede ich zu viel? Entschuldige, ich habe schätzungsweise seit Monaten nicht mehr in ganzen Sätzen gesprochen. Die anderen Mütter in der Krabbelgruppe geben mir immer so ein Gefühl der Unzulänglichkeit, da bin ich lieber still.«

    »Ich weiß genau, was du meinst.« Hedi grinste. »Riko gibt mir manchmal exakt das gleiche Gefühl. Er schaut mich dann auf so mitleidige Weise an, als ob er alles besser wüsste.«

    Nach nur wenigen Minuten erreichten sie ihr Ziel, und Berit parkte in zweiter Reihe vor einem verwitterten Gartenzaun. »Mist, offensichtlich sind schon ziemlich viele Interessenten da. Ob ich hier so stehen bleiben kann?«

    »Klar, du bist Mutter im Einsatz«, meinte Hedi und stieg zusammen mit Riko aus dem Wagen.

    Nach nur einem Blick verstand sie Berits Begeisterung für das kleine Häuschen inmitten eines Gartens mit altem Obstbaumbestand. Erbaut aus rotem Backstein, mit hölzernen Fensterläden umwehte diesen Ort ein Hauch von Nostalgie. Hedi selbst hätte ihre Dreizimmerwohnung am Domstag jederzeit gegen dieses etwas heruntergekommene Gebäude eingetauscht.

    »Sieh mal! Da trägt jemand einen alten Schaukelstuhl aus dem Haus«, rief Berit. »Den hätte ich auch gern gekauft. Komm, wir stürzen uns ins Getümmel.«

    Die Kinder auf dem Arm traten sie durch das Gartentor und wurden an der Haustür von einer ernst dreinblickenden Person in Trauerkleidung in Empfang genommen. Fast reflexartig murmelte Hedi einige Worte der Anteilnahme gegenüber der Frau und kam sich vor wie eine Leichenfledderin, als sie nun in die Diele trat, in der jemand gerade den Garderobenspiegel von der Wand nahm.

    Der Weg in dieses Haus und zu seiner Einrichtung hatte für sie alle über die Leiche eines armen Menschen geführt, dem all diese Dinge etwas bedeutet hatten. War es nicht schäbig, über seinen Besitz herzufallen und ihn auseinanderzureißen? Andererseits konnte man wohl kaum alles so belassen, wie es war, denn die Welt drehte sich nun mal weiter.

    »Hedi, sieh dir nur diese Kristallgläser an«, rief Berit aus einem der angrenzenden Räume. »Ich glaube, die kaufe ich.«

    »Ich dachte, dich interessiert nur die Architektur.« Hedi stellte sich neben sie und begutachtete die zahlreichen Gläser auf dem Tisch. Sie waren tatsächlich prachtvoll.

    »Schöne Dinge gefallen mir eben auch. Oh, die sind aber teuer.« Berit hatte ein Preisschild an einer der Sektflöten bemerkt. »Ach, was soll‘s? Ich nehme sie trotzdem. Und zwar alle.«

    Nun warf auch Hedi einen Blick auf den handbeschrifteten Aufkleber und sog scharf die Luft ein. »Alle? Berit, bist du zufällig reich?«

    »Ich nicht, aber der Immobilienmakler, den ich geheiratet habe«, erklärte sie freudestrahlend. »Erst kam der Job, dann die Liebe. Fast wie im Märchen.«

    »So muss es wohl sein«, murmelte Hedi und schritt mit Riko auf dem Arm in den nächsten Raum. Er enthielt nur noch wenige Möbelstücke und gab keinen Aufschluss über seinen Verwendungszweck. Konnte es ein Schlafzimmer gewesen sein? Der Ausblick in den Garten war wunderschön und bestimmt dazu angetan, die Stimmung schon am Morgen zu heben. Da verrieten ihr die Anschlüsse in der Wand, dass sie sich in der Küche befinden musste. Wie immer sie einmal eingerichtet gewesen sein mochte, das Mobiliar hatte bereits einen Liebhaber gefunden.

    Gleich gegenüber entdeckte sie eine weitere Tür.

    Hedi überlegte, ob sich dahinter eine Speisekammer verbarg, und drehte den Knauf. Als das Schloss aufsprang und sie eintrat, blieb sie augenblicklich wie angewurzelt stehen. »Du liebe Güte, was ist das denn?«

    Riko, eine Faust in den Mund geschoben, wirkte kaum weniger erstaunt. Er verlangte, auf den Boden gesetzt zu werden, was Hedi nach kurzem Zögern auch tat.

    »Ist das eine private Geisterbahn?« Berit war ihr gefolgt und sah sich ebenfalls verwundert um. »Oder hat hier jemand Schaufensterpuppen gesammelt?«

    »Es ist mehr als das«, entfuhr es Hedi, und sie trat einen Schritt auf eines der hölzernen Mannequins zu, deren Körpermitte ausgepolstert war, als würde sie in Kürze eine Babypuppe gebären. Zu deren Füßen, die auf einen flachen Sockel geschraubt waren, lag ein zerbrochener Teller samt undefinierbarer brauner Masse, konserviert in Gießharz. »Hier hat jemand irgendein Ereignis nachgestellt. Schau nur: Diese Puppen stehen alle irgendwie miteinander in Kontakt. Wie Schauspieler auf einer Bühne.«

    »Die da aber nicht«, meinte Berit und deutete auf eine Puppe, die auf die Knie gesunken war und sich mit beiden Händen an den Hals griff. In ihrem rosa Kostüm und mit der langhaarigen Perücke sah sie aus wie eine überdimensionale Barbie. Nur, dass sie nicht blond, sondern brünett war.

    Berit betrachtete sie stirnrunzelnd. »Es hat fast den Anschein, als ob es ihr nicht gutginge.«

    Hedi kramte ihr Handy aus der Innentasche ihrer Winterjacke und schoss Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie nahm auch die Möbel im Raum auf, die Teil der Inszenierung zu sein schienen. Da gab es eine Festtafel, auf der abgebrannte Kerzengestecke standen, eine Sitzgruppe vor einem elektrischen Kamin und ein Regal ohne Bücher, dafür aber mit reichlich Dekorationsartikeln.

    Als sie die Kamera sinken ließ, stand die Frau im schwarzen Kleid neben ihr, die sie beim Betreten des Hauses begrüßt hatte. Auf dem Arm trug sie ein Baby mit Tirolerhut auf dem Kopf und einer dunklen Sonnenbrille im Gesicht. Das Kind kam Hedi vage bekannt vor.

    »Gehört das zufällig Ihnen?«, fragte die Dame mit erhobenen Augenbrauen und hielt ihr das Baby hin.

    Jetzt erkannte auch Hedi ihren Sohn und nahm ihn dankend samt Hut und Brille in Empfang. Dabei deutete sie mit einem Kopfnicken zu den Puppen. »Was ist das hier alles? Hat es eine besondere Bedeutung?«

    »Das Kabinett mit all seinen Puppen und der Einrichtung hat mein Bruder selbst gestaltet und bis zu seinem Tod täglich viel Zeit darin verbracht.« Die Miene der Frau blieb völlig ausdruckslos. »Es zeigt den Moment, der sein Leben veränderte. Der aus ihm diesen früh gealterten, verbitterten Mann gemacht hat. Die Puppen stellen einen Mord nach, den man ihm angelastet hat.«

    AUGUST 2011

    JOST BALZER

    »Machen Sie es uns nicht so schwer.« Der Beamte der Kriminalpolizei, der sich Jost als Kommissar Hauser vorgestellt hatte, gab einen übertrieben lauten Seufzer von sich. »Rosalind Bergmann ist tot, die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Und auch, wenn uns noch keine Laborberichte vorliegen, so deutet doch alles auf einen Giftmord hin, und Sie sind der Koch gewesen!«

    »Ich habe ein Catering-Unternehmen.« Jost hatte das entsetzliche Gefühl, dem Mann immerzu dasselbe zu sagen. Doch wie konnte er etwas zu den Ermittlungen beitragen, wenn er rein gar nichts über die Tat wusste. »Ich kam an diesem Tag zu Frau Bergmann, um ihr Geburtstagsessen auszurichten. Es war eine Überraschung, die einer der Gäste, ein Herr Zwikker, organisiert hatte. Alle Gäste waren eingeweiht, nur das Geburtstagskind nicht. Außer mir wussten demnach noch fünf weitere Personen, dass in diesem Haus an diesem Abend eine Party geplant war. Warum stürzen Sie sich auf mich? Ich habe doch keinen Grund, meine Kunden zu vergiften.«

    Eine Stille trat ein, an deren Ende Jost auf eine Frage hoffte, die er nicht schon gefühlte zehn Mal beantwortet hatte. Doch er wurde enttäuscht.

    »Was servierten Sie zur Begrüßung?«, fragte Hauser.

    »Einen Cocktail mit Sekt, Limonade und frischen Beeren«, leierte Jost seine Antwort herunter. »Danach gab es Lachspastete an Meerrettichschaum. Zum Hauptgericht servierten wir Grauburgunder. Es gab Rinderscheibchen in Orangenhauchsauce und Apfel-Zucchini mit Kräuterbouquet.«

    »Dann kam das Dessert«, unterbrach ihn Hauser. »Eine Mandelmousse, soviel wir wissen.«

    »Aber das hat Frau Bergmann nicht gegessen, weil sie Allergikerin ist. Ich habe deshalb eine Quarkspeise für sie improvisiert.«

    »War das Menü mit dem Auftraggeber nicht abgesprochen?«

    »Schon, aber entgegen seiner Behauptung hat er mir gegenüber am Telefon keinerlei Allergien erwähnt.«

    Hauser verzog keine Miene. »Wir haben so viele Reste wie möglich von allem, was das Opfer zu sich genommen hat, sichergestellt. Natürlich auch den Inhalt des Cocktailglases, das sie noch in der Hand hielt, bevor sie zusammenbrach. Wenn sich irgendwo in diesen Speisen oder Getränken ein Gift nachweisen lässt, das zum Tod von Frau Bergmann passt, werden wir es finden. Ihr Leichnam wird obduziert, bald werden wir also wissen, wonach wir suchen müssen. Und dann habe ich Sie am Haken, Balzer.«

    »Ich habe doch gar nichts getan.« Auch das hatte er jetzt schon mehrfach beteuert, nur schien man ihm einfach nicht glauben zu wollen. »Warum konzentrieren Sie sich nicht auf die Gäste? Die zählen ja wohl zu ihrem näheren Umfeld und könnten ein Motiv haben.«

    »Wer von denen soll denn Gelegenheit gehabt haben, das Gift unterzumischen?« Hauser hob die Brauen und stützte sein Doppelkinn in die Hand. Balzer bemerkte, dass der Kommissar in dieser Pose eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Alfred Hitchcock aufwies.

    »Was weiß denn ich? Irgendjemand muss es jedenfalls getan haben.«

    Der Faltenwurf auf Hausers Stirn verstärkte sich. »Hatten Sie in der Küche Besuch von einem der Gäste?«

    »Nicht direkt.« Jost dachte an Zwikker, der im Türrahmen gestanden hatte, und an all die Personen, die im Lauf der Feier an der offenen Küchentür vorbei in Richtung Badezimmer gegangen waren. Hereingekommen war niemand von ihnen. »Aber es könnte ja auch im Esszimmer geschehen sein. Irgendwann zwischen Lachspastete und Mandelmousse! Zeit genug hat der Täter ja wohl gehabt!«

    »Je nach Gift hatte er davon mehr oder weniger.« Hauser starrte ihn unbeirrt an. »Aber gab es auch eine Gelegenheit, unbemerkt von den anderen Gästen zu agieren?«

    »Fragen Sie mich das?« Jost spürte, wie seine Geduld nachließ. »Warum finden Sie es nicht selbst heraus?«

    »Genau deswegen sitzen wir ja hier, Herr Balzer. Weil ich davon überzeugt bin, dass Sie derjenige sind, der mir sagen kann, wie sich die Dinge abgespielt haben. Fangen wir also nochmal ganz von vorn an.«

    AUGUST 2011

    QUELLE: YOUTUBE, DER POSSENREISSER

    »Willkommen in Eckernförde. Ich stehe hier vor einem Haus, in dem gerade eine uns allen bekannte Persönlichkeit gestorben ist. Ja, Freunde der seichten Unterhaltung, Rosalind Bergmann ist tot. Fragt sich jemand unter euch, wer das überhaupt sein soll? Hey, sie war die schöne Brünette aus den Klatschspalten, die weder singen noch tanzen oder sonst irgendetwas besonders gut konnte. Aber sie war perfekt darin, zum richtigen Zeitpunkt in die Kamera zu kichern, gab auf ihren Social-Media-Kanälen gerne Schminktipps und ja, sie war wohl auch so etwas wie ein Model, da kenne ich mich nicht aus. Fakt ist: Sie war einmal berühmt, und sie ist gerade gestorben. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Und jetzt wimmelt es hier nur so von Polizisten, Sanitätern und natürlich seriösen Berichterstattern wie mir. Kleiner Scherz. Da drüben, die quicklebendige Blondine, die dort gerade so kamerawirksam neben dem Hauseingang steht und heult, ist übrigens das aufstrebende Magermodel Melanie Meister. Ehemals beste Freundin der Toten und bestimmt gerne bereit, in ihre Fußstapfen zu treten. Deswegen ist sie auch die Einzige, die hier, für alle Kamerateams am Gartenzaun gut sichtbar, ihre Show abzieht. Ob weitere B-Prominenz vor Ort ist, kann ich nicht sagen, aber dort drüben steht ein Wagen des Catering-Unternehmens Balzer in der Auffahrt. Vielleicht ist jemand von diesem Betrieb bereit, uns ein kleines Interview zu geben. Natürlich nur, wenn der Tod von Rosalind Bergmann nicht mit einer Lebensmittelvergiftung zusammenhängt, das wäre ziemlich peinlich, oder, Leute?«

    Kommentare aus der Community:

    Lea83: Feinfühlig wie immer. Ich weiß gar nicht, warum ich mir deinen Kanal überhaupt noch antue. Komischerweise bist du aber immer erschreckend gut informiert, sobald sich irgendetwas in Eckernförde und Umgebung ereignet.

    MissModel: Rosalind? Echt? Oh Gott, ich habe sie gekannt. Sie war eine von den netten, ganz im Ernst. Überhaupt nicht eingebildet oder so. Sie hat mir mal ihren Lippenstift geliehen, als wir gemeinsam für eine Strandboutique über den Laufsteg gezockelt sind. Und sie hatte so eine traumhafte Figur. Ich wollte immer wissen, wie sie es anstellt, ihr Gewicht so problemlos zu halten.

    Klassenziel: Das ist wirklich traurig. Ich mochte sie. Eine junge, ehrgeizige Frau, die auf ihre Art sehr unterhaltsam war.

    Besucher22: Viele mochten Rosalind Bergmann. Ihre Beiträge auf YouTube und Facebook über die Branche waren sehr beliebt. Schade um sie. Woran sie wohl gestorben ist? Drogen? Kommt bei solchen Leuten ja häufiger vor, auch außerhalb von Hollywood.

    2

    »Ich habe schon

    mit einer ungewöhnlichen Einrichtung für Rikos Zimmer gerechnet, aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus.«

    »Nicht wahr?« Hedi blickte sich zufrieden um. »Was für ein Glück für mich, dass Berit einen so enorm großen Kofferraum hat.«

    Sie war von der Reaktion ihres sonst so geduldigen Gatten Lars nicht übermäßig überrascht. Das Kinderzimmer, in dem Riko sich derzeit ohnehin nur sporadisch aufhielt, da er viel lieber im Ehebett schlief, bot an diesem Winterabend einen wahrlich grotesken Anblick. Hedi war noch voll und ganz damit beschäftigt, ihre neuen Errungenschaften genau auszurichten, wobei sie immer wieder Blicke auf die Fotos in ihrem Handyspeicher warf. Riko selbst saß zwischen den Füßen einer weiblichen Schaufensterpuppe und versuchte, eine von der Schulter herabbaumelnde Handtasche zu erreichen.

    »Was soll das?« Lars hatte die Arme vor der Brust verschränkt

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