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An und für sich
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eBook104 Seiten1 Stunde

An und für sich

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Über dieses E-Book

An und für sich ist alles in Ordnung. In den letzten Jahren wurden allerdings viele von uns an das Gewicht der Vereinzelung erinnert. Das Gewicht der Liebe konnte das oft nicht ausgleichen. Bestseller-Autor Dirk Bernemann gibt mit diesem Erzählband den Isolierten eine Stimme, erzählt Szenarien der Qual und der Hoffnung in den Fugen des Zusammenlebens. Ein Ausleuchten des Zwischenmenschlichen in Krisenzeiten. Aber an und für sich ist doch alles in Ordnung.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Outbird
Erscheinungsdatum14. Feb. 2024
ISBN9783948887643
An und für sich
Autor

Dirk Bernemann

Dirk Bernemann, geboren 1975 im westlichen Münsterland, ist Schriftsteller und Journalist. Seit 2005 schreibt er Romane und Kurzgeschichten, darunter den Bestseller »Ich hab die Unschuld kotzen sehen«. Derzeit sind fünfzehn Romane und Kurzgeschichtenbände von ihm erschienen, von zwei Titeln gibt es verschiedene Theaterinszenierungen. 2016 hatte sein erstes eigenes Theaterstück »Bella Noir, 2 Zigaretten Demut« Premiere in München. Außerdem moderiert er den Podcast UNTENDURCH. Dirk Bernemann lebt in Berlin.

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    Buchvorschau

    An und für sich - Dirk Bernemann

    Impressum

    Veröffentlichungsdatum: 14. Februar 2024

    © Edition Outbird, Gera

    www.edition-outbird.de

    Coverfoto: Dirk Bernemann

    Covergestaltung: Benjamin Schmidt

    Lektorat: René Porschen, Merri Holste, Tristan Rosenkranz

    Buchsatz: Danilo Schreiter, Telescope Verlag

    ISBN: 978-3-948887-64-3

    Alle Rechte vorbehalten.

    „True love will find you in the end You‘ll find out just who was your friend Don‘t be sad, I know you will But don‘t give up until"

    Daniel Johnston

    An und für sich ist alles in Ordnung.

    Januar

    Es ist der erste Samstagmorgen des Jahres. Im Januar erscheinen einem Dinge oft übertriebener, als sie eigentlich sind. Man hat das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel überstanden, ist glücklich darüber, es geschafft zu haben, weil da immer viel Sentimentalität in den Fugen klebt und man sich glücklich schätzen kann, wenn man das abermals überlebt hat. Das ist manchmal nicht selbstverständlich.

    Ich habe dieses Café betreten, nichts Genaues wollte ich hier. Ich will ohnehin nichts Genaues mehr. Ich lebe definitiv ungenau. Wenn auch nicht beliebig oder konturlos, sondern ausschließlich ungenau. Vielleicht wollte ich meine eigene Stille für ein paar Momente gegen eine unkontrollierbare Wuseligkeit austauschen. Vielleicht bin ich einfach schon Anfang Januar erschöpft vom Jahr, das sich ja immer vor einem aufbaut mit seinen abstrakten Erwartungen an Optimierung, Überleben, dem Erreichen von Zielen. Es gibt nichts anderes mehr für die Menschen. Es einfach schön haben, alleine, das Gefühl zu haben, niemanden zu brauchen, entspannt auf den Weltuntergang zu warten, das wäre gut, ist aber mittlerweile unvermittelbar.

    Es gibt eine unbestimmte Sehnsucht nach genau diesem nicht näher bekannten Nichts, dieser Zwischenleere innerhalb des Funktionierenmüssens. Helden und Heldinnen des Alltags haben sich viele Aufgaben aufgeladen, was sie zu diesen Helden und Heldinnen macht. Das Leben schaffen, es bewerkstelligen, trotz Widerständen und Hindernissen, das macht die Leute anerkennenswert. Jenen, die in Hängematten hängengeblieben sind, wird ein lapidares Lächeln geschenkt, denn so richtig dazu gehören sie nicht. Und die Schaffer, und das ist das Allerschlimmste, foltern einander mit Visionen ihrer Ruhe, die sie aber nur dazu verwenden, anschließend wieder leistungsfähige Roboter zu werden. Wer am besten professionell chillen kann und am besten darüber noch adäquat referieren kann, steigert gnadenlos sein Ansehen.

    „Ich hätte gerne einen Kaffee und ein Croissant", sage ich zur Servicekraft, und sie schaut mich nicht an. Warum auch, ich bin einer von vielen Passanten, die hier in ihrer Einsamkeit umkommen. Ihre Stimme ist trotzdem trainiert, freundlich und zugewandt.

    „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?"

    Als ob es so einen Muskel gibt, der Freundlichkeit simulieren kann. Wo werden diese Menschen gezüchtet? Diese Bedienungscyborgs? Oder hat sie das Weltgeschehen dergestalt deformiert, dass sie nur noch so sein können?

    Fitness, Entrümpeln, Job, Familie steht auf einer Illustrierten, die dort zum Zeitvertreib für die Gäste ausgelegt ist. Das Wort Zeitvertreib erweckt den Anschein, als wäre Zeit eine endlose Kapazität, die man vertreiben müsste wie einen lästigen Fliegenschwarm. Ganz so, als hätten alle hier die Taschen voll davon, aber ich war schon zu oft in Krankenhäusern oder auf Friedhöfen, um das widerlegen zu können.

    Auch ich bin heute widerwillig erwacht, einen ganzen Vormittag, einen ganzen Tag, ein komplettes Jahr vor mir. Die Leute hier sind anstrengend und glücklich. Aber ich denke mir, dass es nun mal jetzt so sein muss. Denn wer sich nicht anstrengt oder sich in anstrengende Szenarien begibt, der wird auch nicht glücklich. Glücklich wird man nicht einfach so, das ist mit Arbeit verbunden, mit Arbeit an sich selbst und Arbeit an sich selbst in Gegenwart anderer. Auf die Arbeit anderer am eigenen Glück kann man nur vertrauen.

    Jetzt aber erstmal der Versuch von Gelassenheit im Café. Kaffee, Lesen. Ruhe unter lauten Menschen. In der Ecke spielen Kinder. Warum spielen in der Ecke Kinder? Was wollen sie, wer hat sie dort hingestellt? Das wichtigste Privileg von Kindern ist es, öffentlich laut weinen und schreien zu dürfen. Jeden Bedarf nach Liebe immer äußern zu dürfen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass wir durch die Niedlichkeit von Kindern gezwungen werden, auf ihre abstrusen Bedürfnisse einzugehen. Warum können Erwachsene nicht einfach in die Bahn einsteigen und verkünden: „Liebe Fahrgäste, ich hatte einen beschissenen Tag in meinem Job als Essenslieferant. Es war kalt, das Trinkgeld spärlich und viele Blicke, die mich trafen, stellten infrage, ob ich überhaupt ein Mensch bin. Ich spüre eine Erkältung in mir hochklettern, nicht nur emotional. Zuhause erwartet mich nichts außer billiges Essen, Tinder, Depression, Netflix, Youporn und mein Leben ohne weitere interessante Aktivitäten, außer früh schlafen zu gehen, um morgen den ganzen Mist zu wiederholen. Könnte mir bitte jemand einen Impuls zum Weiterleben geben? Oder mich in den Arm nehmen?"

    Dann anfangen zu weinen.

    Wieso haben wir uns das abtrainiert? Ich sehe keinen tieferen Sinn darin, warum aus fröhlichen Kindern diese misantrophischen Erwachsenen geworden sind. Das hat mir noch niemand plausibel erklären können. Es kommt eine Impulskontrolle, irgendwann, irgendwoher, und dann ist man auf einmal dieser ernsthafte Mensch, der sich aufs Sterben vorbereitet.

    Kinder zu kriegen ist natürlich eine gute Sache. Schon weil man damit Menschen erschafft, die einmal genauso toll werden, wie man selbst, vielleicht sogar noch überragender, weil man ja sicher ist zu wissen, an welchen Reglern man drehen muss, um die eigenen Unzulänglichkeiten nicht weiter zu geben. Man erschafft außerdem Menschen, die einen selbstlos mögen, selbst, wenn man ein Arsch ist.

    Am Nebentisch sitzt ein Paar, überdimensionierte Lattewannen vor sich. Beide Gesichter werden von der jeweiligen Displayhelligkeit ihrer Endgeräte angestrahlt.

    Sie guckt, etwas in ihren Augen blitzt, das erkennt jeder, der es mit Menschen ernst meint.

    Er fragt: „Was?"

    Sie entgegnet: „Was was?"

    Er darauf: „Was was was?"

    Anschließend starren beide auf ihre Handys, der Liebe wegen.

    Selbst die, die jemanden haben, sind so unglaublich einsam.

    Kaffee und Croissant treffen ein. Ich zahle direkt, weil ich verschwinden will, wohin genau, weiß ich nicht. Trinke und esse hastig und verlasse dann das Etablissement. Auf der Straße schwindet der Zusammenhang. Ich laufe angriffslustig und ziellos geradeaus, gehe so aggressiv spazieren wie selten zuvor, will, dass mich jemand aufhält, dass mich endlich jemand aushält. Aber der Zusammenhalt schwindet. Ich stampfe durch die Biomasse. Zum Glück habe ich Angst vor Gewehren, und außerdem davor, von Polizisten nach einem Amoklauf mit Beinschüssen am Fliehen gehindert zu werden. Genauer gesagt habe ich Furcht vor dem Eintreffen der Kugel in mein Fleisch, vor dem Durchdringen des Gewebes und dem damit verbundenen Schmerz, der mich am Weiterlaufen hindern würde. Aber ich wäre ein guter Attentäter. Ich wäre akkurat und zielsicher. Aber niemand hindert mich an meiner Ziellosigkeit.

    Tatsächlich schwinden Zusammenhang und Zusammenhalt, irgendetwas passiert hier, jeder spürt das, das hier ist das Jahr, in dem der Krieg beginnt. Jeder erfährt das, jeden betrifft es und jeder wüsste gerne: Was ist eigentlich los?

    Mein Klingelton reißt mich aus meinen Denkschleifen. Meine Mutter meint,

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