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Schicksale: Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah
Schicksale: Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah
Schicksale: Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah
eBook979 Seiten18 Stunden

Schicksale: Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah

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Über dieses E-Book

Die Tetralogie »Verloschene Lichter ist die Schilderung von bloß fünfzehn Monaten Hitlerhölle. Das ist nur ein Fragment der Vernichtung und nicht einmal das grausamste, wenn man von außen darauf schaut.«
Mordechai Strigler, 1950

Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 begann Mordechai Strigler, seine Erfahrungen in den Lagern des besetzten Polens literarisch zu verarbeiten. Wie kaum ein anderer Zeitzeugenbericht beschreibt Striglers Text mit beispielloser Schonungslosigkeit die Lagerorganisation und das Lagerleben sowie den Umgang der jüdischen Gefangenen untereinander.

In »Schicksale« schildert Strigler die Zeit vom Winter 1943/44 bis zur Schließung der Munitionsfabrik und Vorbereitung der Evakuierung der Häftlinge im August 1944. Er konzentriert sich dabei auf die Menschen in Werk C des Arbeitslagers Skarżysko-Kamienna und ihre Beziehungen zueinander. Das Eintreffen von assimilierten und getauften, aber auch deutsche Juden aus Krakau im Lager im Frühjahr 1944 verschärfte schwelende Konflikte: Aufgrund der vielen sozialen Unterschiede entstanden unter ihnen Spannungen, die das Leben der Gefangenen teils dramatisch verschlechterten. Strigler liefert damit ungewöhnlich offen eine Sozialstudie jüdischer Schicksale in deutscher Gefangenschaft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Jan. 2024
ISBN9783987373978
Schicksale: Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah
Autor

Strigler Mordechai

Der jiddische Schriftsteller und Journalist Mordechai Strigler wurde 1918 bei Zamość (Polen) geboren. Während der Nazizeit war er Häftling verschiedener Arbeits- und Konzentrationslager. Kurz nach seiner Befreiung emigrierte er nach Paris und begann, seine Erfahrungen in der Tetralogie »Verloschene Lichter« niederzuschreiben. Er war damit einer der ersten Schoah-Überlebenden, die darüber schrieben. 1952 ging er nach New York und arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 1998 für jiddische Zeitungen. 1978 erhielt er den Itzik-Manger-Preis für Jiddische Literatur. Bei zu Klampen erschienen bereits die Vorgängerbände »Majdanek« (2016), »In den Fabriken des Todes« (2017) und »Werk C« (2019).

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    Buchvorschau

    Schicksale - Strigler Mordechai

    Das Ende in Sicht

    Kapitel eins

    I

    Ruhe bitte.

    Es möge still sein! Viertausend Menschen schreiten jetzt in das nächtliche Maul von Werk C. Sie wissen noch nichts, gar nichts! Es ist besser so. Mögen sie die sich wiegenden Bäume sehen und die schlummernden Baracken. Möge alles taub und stumm sein und möge kein Skelettgesicht an den Fenstern auftauchen. Viertausend Menschen könnten die vermutlich letzte ruhige Nacht einbüßen, die ihnen beschert ist zu erleben.

    Es ist besser so!

    Genau deshalb schreiten sie würdevoll herein und ihre Schatten, in der nächtlichen Öffnung des Tores, krümmen sich nicht, zittern nicht. Neben dem Tor stehen nur einige Polizisten und etliche Menschen von der Verwaltung, die nicht aufhören zu zählen: 67 … 69 … 73 … hundert!

    Die Gesichter beim Tor künden davon, dass man hier lebt, dass man gesund ist! Deshalb drücken die Hereinkommenden ihr Bündel an sich, und die spitzen Torpfosten stechen noch nicht in ihre Hoffnung hinein.

    Man wird sie durch seitliche Wege bis zu den neuen Baracken führen. Dort werden sie ihre Glieder auf den frischen Brettern der neuen Betten ausstrecken können. Müde sind sie gewiss von dem langen Weg, sie werden glücklich einschlafen. Die umstehenden Bäume werden sich wortlos wiegen wie fromme Blender und die Menschen werden vielleicht vor dem Einschlafen zu den Fenstern gehen und vor Freude seufzen: Ah, Bäume! Frische Luft!

    Wie wenig die Welt braucht, um einen Menschen zu täuschen! Sie werden heute eine ruhige Nacht haben, um die sie sich morgen selbst beneiden werden. Alles ist schläfrig. Der ganze Tumult ist für ein paar Stunden in eine andere Welt entschwunden. Nur von Zeit zu Zeit lässt sich eine Polizeipfeife hören. Danach trägt es das ferne Echo einer bekannten Stimme herüber: He, wie geht es dort mit der vierzehnten Baracke?

    Schon voll bis zur Schwelle, Panie¹ Kommandant!

    Und wieder zischelte die Stille wie eine verborgene Schlange in ihrem schwarzen Versteck. Wie es schien, war es schon arg spät gewesen, denn die Menschen in den Baracken gingen still von den Fenstern weg und begannen, auf den harten Lagerstätten zu schnarchen. Die Wache an den Zäunen hatte gewechselt und die zurückgehenden Polizisten gähnten laut. Auch am Tor, gegenüber von Mecheles Baracke, blieb nur ein Wächter, der träge an seiner farbigen Bude lehnte. Viertausend Menschen hatte das umzäunte Viereck gerade erst aufgenommen und es blieb an dem Ort, durch den sie vor kurzem hineingeschritten waren, nicht einmal ein Zeichen von ihnen.

    II

    Schon lange Zeit bemühte sich Dr. Rost überall um einen frischen Transport Juden. Endlich bekam er die Erlaubnis, sich die menschliche Beute mit dem Kommandanten Amon Göth² aus der Krakauer Jerozolimska zu teilen. Der Wachführer Schumann fuhr mit einer Gruppe von Werkschutzleuten dorthin und brachte sie in langen verschlossenen Waggons her. Die Zeiten schienen aber schon andere zu sein. Man behandelte sie besser als andere Transporte und sie brachten sogar ihre letzte Habe bis ins Lager.

    Jetzt sind sie da und versuchen, in ihrer neuen Welt etwas Schlaf zu bekommen. Wie viele Männer sind gekommen? Wie viele Frauen? In der stummen Schwärze, die Mechele durch das Fenster sieht, kann er es nicht erkennen. Was tragen sie in ihren Rucksäcken? Auch das kann er nicht wissen. Nur das Herz in Mechele klopft wieder hastig wie bei jeder Begegnung mit einer in Geheimnisse gehüllten Sache, die neue Überraschung verspricht. Viertausend neue Menschen! Sie bringen Nachrichten aus einem anderen Teil der Welt mit sich und wissen sicher von vielen Geschehnissen, die man hier nicht kennt.

    Er kann sich nicht schlafen legen. Das leichte, milde Lüftchen ruft ihn hinaus, zieht ihn an – und Mechele geht bis in den Korridor, öffnet die Außentür und atmet die feuchte, finstere Stille ein. Die Nacht einer deutschen Munitionsfabrik lässt sich nicht von Geheimnissen überraschen. Sie nimmt alles in sich auf und lässt es in ihren schwarzen leeren Keller hinab. Selbst die melancholischen Bäume stehen in solchen Nächten aufgerichtet, verwachsen mit der Dunkelheit, als stünden auch sie jetzt bei einem Lagerappell. Vermutlich hat ihnen jemand den Befehl gegeben, sie mögen mit ihrem wortlosen Getuschel aufhören, also schweigen sie. Und mit ihnen zusammen schweigen alle: die Menschen in den Baracken, die Schatten draußen, der Wald, die Fabrik, die ganze abgesonderte Welt.

    Mechele möchte etwas von dem leisen Nachtrauschen aufnehmen, das die Luft immer für die Leere bereithält. In Werk C aber wird jetzt über die Schicksale von viertausend frischen Leben entschieden und niemand wird sich jetzt losreißen und herkommen, um dem neugierigen Jungen zu erzählen, was dieser hören will. Auch die Luft hält ihren Mund jetzt geschlossen. Nur von der anderen Seite der Straße erkennt Mechele die raue Stimme von Kommandant Wajzenberg: Was behelligst du mich so viel? Es ist nicht für alle Platz? Dann sollen sie diese Nacht über sitzen und das Werk C sitzend kennenlernen. Da sie so viel Gepäck mitgebracht haben, wie kann da für alle Platz sein?

    Eine weiche, bittende Stimme neben ihm murmelte etwas. Die Wörter gingen auf dem Weg verloren und Mechele konnte gerade noch verstehen: Mädchen … müde vom Weg … so weit …

    Aber Wajzenberg ließ nicht lange reden: Nun ja, ich habe schon davon gehört. Man kennt die Litanei! Polizist sind Sie? Ein Lehrer! Ein wahrhaftiger Melamed³! Sobald sie ein Kleidchen sehen, kann man ihnen die Hüte abnehmen und ins Klosett werfen. Weiche Herzen kriegen sie sofort! Verdreh mir jetzt besser nicht den Kopf, weil ich morgen früh aufstehen muss.

    Man hörte noch den salutierenden Knall zweier zusammengeschlagener Fersen und danach ließen sich zwei Paar Stiefel aus zwei verschiedenen Richtungen hören.

    Damit war das nächtliche Wandeln in der Finsternis noch nicht beendet. Von allen Seiten konnte man vorsichtige Schritte von Polizisten hören. Eine grobe, kratzende Stimme, an der Mechele den Brotkommandanten Hercke Lederman erkannte, erhob sich gar laut und trunken: Jungs, wenn ihr glaubt, ihr hättet schon alles gesehen, dann sage ich euch, das stimmt nicht! Ihr hättet sehen sollen, wie »sie« auf die Jungen geguckt hat, dann hättet ihr verstanden! Einen Anfall hat sie schier bekommen. Und das ist nicht gut, seht ihr, ihr könnt mir wirklich glauben, dass das nicht gut ist! Ein Durcheinander wird es hier geben! Verlasst euch auf Hercke.

    Wer diese »Sie« war und warum sie schier einen Anfall bekommen hatte, konnte Mechele sich nicht erklären. Deshalb konnte er auch nicht verstehen, was dadurch hier schlechter werden konnte. Und für wen?

    Die Gruppe bewegte sich fort und ihr weiteres Gespräch war nicht mehr zu hören.

    III

    Am Morgen weckte man die Leute früher zur Arbeit. Auch der Morgenappell wurde in aller Eile abgehalten, als suche man eine Möglichkeit, die »Alten« des Lagers früher hinauszuschicken. Sobald die Tagschicht durch das Tor gegangen war, ergossen sich über den Hof ganze Scharen von Neuankömmlingen. Sie hatten andere Gesichter als die Werk-C-niks: vollere, glattere. Auch ihre Garderobe war neu und elegant. Nur die Falten in den Kleidungsstücken zeugten vom Liegen in den Waggons. Sie verteilten sich in alle Ecken, trafen Bekannte und versuchten, einander anzulächeln und zu trösten: Nun, es ist noch nicht das Ende der Welt! Man ist an einem neuen Ort und weiter nichts! Man lebt noch, und niemand tut uns was!

    Vom Tor her begann die Menschenmenge der Nachtschicht hereinzuströmen. Es tauchten die ersten ausgedörrten Skelette in ihren braunen und gelben Farben auf. Sie schauten sich erschrocken unter den frischen Einwohnern von Werk C um. Wer brauchte die? Bei einer Selektion durfte man neben solch einem nicht stehen! Das war eine der Vorsichtsregeln, die ein geübter Werk-C-nik sich merkte. Und hier waren so viele gekommen! Was ein Deutscher sich denken mochte, wenn man einen alten abgerissenen Hallenmenschen neben solche frischen Jungen stellte, wusste ein Werk-C-nik schon aus früheren Zeiten. Deshalb eilten sie mit ihren schleppenden Schritten bis zu den Baracken, als hätten sie Angst, jemand möge sie auch nur für eine Sekunde gegenüber diesen hier sehen.

    Bei vielen erstarrte das vorgeblich fröhliche Lächeln leicht: So wird man hier? Genau so?

    Aber für die Menschen der Nachtschicht wäre es eine Verschwendung gewesen stehenzubleiben und zu klagen, jeder Augenblick, den man den Schlaf aufschob, war ein verlorener. So warfen sie nur im Vorbeigehen ein paar abgehackte Wörter hin: Da guckt ihr! Werdet eine Woche älter und ihr werdet sehen, wie die Stiefel aussehen! Warum habt ihr keine Zeit zu warten? Wenn man es erlebt, wird man es sehen!

    Und bald verlief sich die ganze Gesellschaft der hergeflogenen Skelette in alle Winkel und verschwand. Es sah aus, als seien die Baracken Gräber, die ihre Türen geöffnet hatten, und die Toten seien für einen Moment mit ihren gelben zerfetzten Flügeln herausgekommen. Nun, da sie sich den Lebenden gezeigt hatten, reichte es ihnen. Deshalb zogen sie sich wieder in ihre Ruhe zurück! Genug gespaßt mit den erschreckten abgenutzten Leben!

    Die Köpfe bei den Neuen waren plötzlich gebeugt. Vermutlich hatten sie in einer Minute alles verstanden, denn das fröhliche Begrüßungsgeschrei war verstummt, und sie begannen, sich zu den neuen Baracken zu drängen. Jemand warf nur ein Wort über die Köpfe: Überall das Gleiche! Da braucht man sich nichts vorzumachen. Jeder Deutsche hat nur seine eigene Art, das zu erreichen.

    Niemand antwortete etwas auf dieses Dahingebrummte.

    IV

    In dem neuen Strom befanden sich auch etliche große, starke junge Männer mit weiß-blauen runden Hüten. Das waren Polizisten aus der Jerozolimska. Sie brachten die Hoffnung mit sich, dass sie am neuen Ort wieder denselben Posten einnehmen würden. Also paradierten sie mit ihren breitgestreiften Hüten und den schwarzgrauen Uniformen.

    Gleich beim Aussteigen aus dem Zug begannen sie, ihre Leute zu befehligen, halfen mit, Ordnung zu machen, und schrien herum. Die Leute kannten sie vom vorherigen Lager und deshalb gehorchten sie und ordneten sich unter. Sobald sie aber durch das Tor hereinkamen, verstanden sie, dass es hier nicht so glatt ablaufen würde. Hier gab es schon andere Polizisten, und zwar dutzendweise, die eine andere Art von Hüten trugen und wussten, welche Kontakte man pflegen musste, um den Gummiknüppel in die Hand zu bekommen.

    Die frisch gekommenen Polizisten waren bald entmutigt und niedergeschlagen, sie schauten sich mit flehenden Blicken um. Dabei begannen sie, sich vorsichtig aus der ganzen angekommenen Menge hervorzuheben, bemühten sich, ihre Polizeiköpfe besser sichtbar zu machen. Die alte Polizeitruppe schaute auf sie vom ersten Moment an mit kühlen, stechenden Blicken wie auf welche, die kamen, um sich hier in ihre Welt hineinzudrängen. Also begannen die Neuen, sich näher bei der Kommandantenbaracke aufzuhalten, und versuchten, sich stärker vor den Augen der Kommandantin zu zeigen. Von allen Seiten warfen sie Blicke zu ihrem Fenster, warteten und guckten sich die Augen aus. Sie hätten sich ihr zu Füßen geworfen, hätten gebeten, versprochen. Was hätten sie denn nicht alles gegeben, nur um einen kleinen Brocken der Macht zu behalten? Aber die Kommandantin im »Weißen Haus«, so tuschelte man, machte Pläne, wie genau eine neue Ordnung herzustellen sei.

    Sie wollten auf keinen Fall so werden wie die Gelben, die sie hier entdeckt hatten. Das konnte man verstehen. Deshalb schrien die fremden Polizisten auf die eigenen Leute aus dem frischen Transport ein und strebten mit allen Mitteln an, dass man sie wahrnahm: Möge »sie« ihre Stiefel sehen, die Strenge in ihren Gesichtern und ihre gesunden Figuren! Dann würde sie sicher verstehen, dass sie noch von Nutzen sein konnten!

    Für die Neuen brauchte man weitere Polizisten. Die neu angekommenen Ordnungshüter waren dafür geeignet: Sie kannten die Gruppe, sie wussten, wer »etwas« mitgebracht hatte und man konnte sich auf sie verlassen! Aber in der Kommandantenbaracke hatte man sich zurückgezogen, wollte keinen Blick auf sie werfen. Dutzende Menschen der alten Garde warteten schon lange in der Reihe. Man hatte ihnen zugesagt, dass sie die Polizeihüte bekämen, sobald ein neuer Transport einträfe. Was also wollten die erst kürzlich Angekommenen? Sie bereiteten sich darauf vor, wieder die Macht zu übernehmen! Aber hier waren Menschen aus der Fabrik hergeholt worden, hatten ihre Arbeit gemacht und dem Weißen Haus gewisse Dienste geleistet. Sie waren mit allen örtlichen Gegebenheiten vertraut, und es lohnte sich nicht, sich mit ihnen anzulegen. Was sollte man tun?

    Die alten Werk-C-Polizisten ließen sich immer wieder auf dem Platz blicken und schauten mit trüben, bösen Augen auf die neue Gruppe, die untertänige Blicke zum Fenster der Warkowiczowa warf. Dabei schafften sie es kaum, ihren Zorn zu unterdrücken: Wartet nur. Noch ein oder zwei Tage könnt ihr euch euren leeren Träumen hingeben! Wir brauchen bloß zu pfeifen und ihr müsst euch alle in die Reihe stellen. Dann werden wir wieder pfeifen und ihr müsst abmarschieren. Bis ans Tor der Fabrik werden wir euch bringen und dort werden die Meister kommen und eure festen Schultern betrachten. Danach wird jeder Einzelne in eine besondere Halle kommen, und die Maschinen werden buchstäblich von dem unverhofften großen Glück anfangen zu brummen: schon lange nicht mehr solch gesunde, frische Hände an mir gespürt.

    Kapitel zwei

    I

    Die Kommandantin von Werk C durchlebte gerade eine fieberhafte Stimmung. Die Hoffnung, den kleinen Sekretär ihres Büros zu gewinnen, war zerronnen. Dieser hängte sich an seine junge Alinka und hatte für nichts anderes auf der Welt mehr Augen. Mareks kleine Geliebte ging wie ein herausgeputzter goldener Pfau umher und warf allen ein glückliches süßes Lächeln zu. Als Fela das entdeckt hatte, verschwand sie in ihrem Zimmer, schloss die Tür ab und blieb lange dort drinnen.

    Sie wusste, dass das ganze Lager insgeheim seine ganze Sympathie der kleinen Warschauer Puppe entgegenbrachte. Sie war die Einzige, die der Kommandantin eine Kränkung zugefügt hatte, und dafür war ihr das ganze Lager dankbar. Fela wusste auch, dass ihre Polizisten sich über sie und ihr unterdrücktes Verliebtsein allerlei bösartige Witze erzählten. Mehr als einmal stahl sie sich zur Wand der Polizeibaracke und belauschte sie. Dadurch wurde sie noch verbissener und wütender.

    Alles in ihr dürstete nach Rache. Sie wollte etwas tun, was das Lager aufregen würde und wodurch es ihre Macht auf besondere Weise zu spüren bekäme. Sie verabscheute die dandyhaften Polizisten, die ihr mit tänzelnden Schritten und hündischer Schmeichelei in den Augen entgegenliefen. Sie hasste auch ihre Schwester mit ihren ständigen Abenteuern und ihrer närrischen Verliebtheit. Genauso konnte sie den Schwager nicht mehr ertragen, der sich schon zu viel mit den Lagermädchen eingelassen hatte. Außerdem wuchs die Familie immer weiter an. Die Mutter hatte begonnen, Bekanntschaften unter den älteren frommen Juden zu schließen. Diese erschienen in der Kommandantenbaracke und erstachen sie regelrecht mit ihren traurigen Blicken. Dazu hatte Feldman, der älteste Schwager, begonnen, jeden Abend Feste bei sich in der Stube zu veranstalten. Und seine zufriedenen Seufzer auf der anderen Seite der Wand ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

    Sie hörte sogar auf, in die Baracken hineinzuplatzen und die Mädchen mitten in der Nacht aufzuscheuchen oder die ausgezehrten Männer zu beschimpfen, warum sie Skelette seien und schon keine menschliche Visage mehr hätten.

    In den früheren Zeiten, wenn die Deutschen Menschen zum Erschießen auswählten, war Fela als Erste auf dem Platz. Sie pflegte, erschrocken und aufgeregt zu sein. Nur ihre großen Nasenlöcher blähten sich, als hätten sie unbewusst Freude an dem besonderen Geruch, den der Tod hertrug. Sie tastete die Ausgesonderten mit dem Blick ab, wollte an ihnen erkennen, wie der direkt bevorstehende Tod aussah. Dabei hatte sie eine verborgene Freude daran, dass sie hier ein wenig Macht besaß mitzubestimmen und sie zitterte vor Glück, dass die menschlichen Leben sich wanden, als lägen sie in ihrer Hand. In ihren Augen strahlte dann ein besonderer Glanz künstlicher Aufregung, den sie nicht immer hinter dem schmalen Trauerrand verbergen konnte, den sie mitfühlend den zusammengepressten Lippen aufgesetzt hatte. Das Zusehen bei dem Vorbereitungsspektakel zu einer blutigen Ernte wühlte sie auf und man konnte nie wissen, was in ihr stärker war: der erschrockene Kummer oder das unbewusste Glück des Rausches und der Verzückung durch die Gefahr.

    Sie hatte die Besuche des Todes zwischen den Baracken miterlebt. Das Bewusstsein, dass er hier anwesend war, aber nicht sie meinte, belebte und trug sie, erregte sie. Nach solchen Momenten war sie geneigt, alle Genüsse auszukosten. In solchen Nach-Selektions-Nächten wollte sie tanzen, hatte Angst, in ihrem Zimmer allein zu sein, und holte sich einen jungen Polizisten nach dem anderen, sie sollten bei ihr sein, sie bewachen, die Schatten vertreiben und ihre junge Vergessenheit und Sorglosigkeit so nahe wir möglich an sie herantragen.

    Auch das hörte auf. Sie begann, alle von Werk C zu hassen, und damit fing sie auch an, alles zu hassen, was dort passierte. Manchmal wollte sie es ignorieren und spazierte mit einem aufgesetzten fröhlichen Lächeln durch die Gassen. Sie setzte sich sogar bei den Konzerten in die vorderste Reihe und ließ allerlei Bewunderer und untertänige Schmeichler sie umschwärmen. Mitten in ihrer fröhlichen Stimmung riss sie sich aber los und lief zurück. Auf dem Weg griff sie ihre großäugige Tochter und verschwand mit ihr in ihrem aufgeräumten Zimmer.

    Das ganze Lager wusste, dass etwas ganz Neues kommen müsste, das sie fesseln konnte. Ihr gekränkter Stolz ließ nicht zu, dass sie sich mit etwas befasste, das alle hier kannten und das schon lang zum Werk C gehörte.

    II

    Seit die Nachricht gekommen war, dass man einen neuen Transport bringen würde, bekamen Felas Augen wieder einen Glanz der Neugier. Sie hatte wieder etwas, dem sie entgegenblicken konnte. Und während die Menge in jener Nacht durch das Tor hereinschritt, musterte sie beim Schein der Torlampe die Welle der frischen Gesichter, suchte unter ihnen eines, das sie anregen würde. Aber es war schon spät und die Reihen zogen sehr schnell an ihrem Blick vorbei. Außerdem standen dort etliche Polizisten und beobachteten jede ihrer Bewegungen, sodass sie nicht auf einem bestimmten Gesicht verharren konnte, selbst wenn es sie für einen Moment angesprochen hatte. Sie musste sich Zeit lassen, musste die Menschen sich in ihren Baracken eingewöhnen lassen. Außerdem hatte sie viel Arbeit mit den Besprechungen mit ihren Unterkommandanten und den Verwandten.

    Hier gab es jetzt die beste Gelegenheit, gegen alle zu intrigieren. Ihr Schwager Wajzenberg ging ihr schon lange genug auf die Nerven. Ihre Schwester, die Frau Wajzenberg, hatte ihren Geliebten und doch hörte sie nicht auf, Fela zuzusetzen, sie sei an all dem schuld, an ihrem Unglück. Hätte sie Wajzenberg nicht so hoch aufsteigen lassen, hätte er seine Wildheit nicht so ausgelebt, sondern sich mehr bei ihr aufgehalten, bei der Familie. Man sollte ihm jetzt seine Macht beschneiden. Und der zweite Polizeikommandant, Feldman, hatte sich ein wenig zu sehr zurückgezogen. In der ersten Zeit zeigte er sich streng, ein Wichtigtuer mit einer starken Hand. Nachdem aber die Leute aus dem KL Majdanek angekommen waren, hatte etwas ihn in den Bann gezogen. Er pflegte mit abgerissenen jungen Leuten Umgang, die jiddische Lieder sangen und über eine jüdische Partei redeten, zu der er früher auch gehört hatte.

    Noch dazu hatte er sich eine merkwürdige »Cousine« ausgesucht! Sie war so ruhig und schweigsam. Sie betrachtete alle Leute der Führungsschicht mit solch reinem und doch stechendem Blick, dass die Warkowiczowa begann, sich vor ihr zu fürchten. Gab es niemand anderen auszuwählen als nur dieses magere, kränkliche Mädchen? Wie passte sie zur Lagerleitung?

    Alles weiß sie, die Fela Warkowiczowa: Feldman hat das Mädchen im Wald kennengelernt, als die ganze Gruppe der Abgerissenen dort gesessen hat und so etwas wie ein Konzert veranstaltet hat. Diese Blumcia gehörte zu der Aristokratie der Partei. Ihr Vater war einst ein ganz hohes Tier und dieser Angeber mit dem Gummistecken, der gestandene Kommandant Feldman, schmolz regelrecht dahin! Als er nur den Namen Lazar Krog⁴ hörte, begann er sofort, dessen verzogenem, dürren Töchterchen nachzulaufen, und es ruinierte ihn!

    Er läuft weiterhin als Kommandant umher, stürmt noch in die Baracken und schlägt auf die Köpfe ein. Wenn die Warkowiczowa zuschaut, macht er noch wilde Sachen, schleudert Menschen zu Boden, tritt sie mit den Füßen, wie es sich gehört. Es bereitet ihr Freude, dass er ihr damit gefallen will. Sie weiß aber, dass das schweigsame Mädchen mit der rundlichen Nase mehr Macht über ihn hat. Wenn sie guckt, ist Feldman ein anderer. Dann nennt er den abgerissensten Jungen »Freund« und ihretwegen kriecht er in finstere Baracken und flüstert mit allerlei merkwürdigen Typen.

    Fela ist nicht eifersüchtig als Frau! Als solche kann sie es nur auf ganz wenige sein. Aber sie will hier die Herrscherin sein, die Göttin des Lagers. Sie ist zufrieden, dass solche Männer wie Feldman ihre Bereitschaft zu dienen zeigen und versuchen, ihren Geschmack zu treffen. Aber über ihn herrscht faktisch eine andere. Jene ist schwach, hat keinerlei Autorität im Lager, aber ihre rundlichen, glänzenden Lippen verziehen sich, wenn Feldman aufgebracht mit dem erregten Gummiknüppel, der in seiner Hand zittert, angelaufen kommt. Dann wird er schwach, schmiegt sich an das kleine Mädchen, und bittet auf Polnisch: Blumcia. Du weißt doch, ich muss. Anders würden sie nicht folgen.

    Auch mit den anderen ist es nicht besser. Sie weiß, dass keiner hier im Lager sie liebhat. Selbst die eigene Tochter weiß nicht, was es heißt, einen Menschen liebzuhaben. Alle kommen sie zu ihr, legen sich ihr zu Füßen. Sie können sie streicheln, liebkosen und vergessen dabei nicht, ein besonderes Privileg zu erbitten. Ein Hund ist treuer als sie alle zusammen! Fela wird sie nicht mehr zu nahe an sich heranlassen! Nur von weitem! Sie kann aber auch weich werden, sie muss es manchmal. Sie erkennen ihre Schwäche, ihren fraulichen Instinkt, und nutzen diese Momente bei ihr aus.

    Hier muss alles anders werden! Damit muss Schluss sein! Auch sie will einen eigenen Menschen haben, einen Vertrauten. Und zwar genau so einen, der sie liebhaben soll, der sie liebhaben muss. Wie das geschehen soll, weiß Fela noch nicht. Das muss aber sein, das muss kommen! Damit kann sie Sand in die Augen vieler Werk-C-Menschen streuen. Damit kann sie auch viele Niederlagen überdecken, von denen sie gar nicht wissen will, ob jemand sie kennt.

    Viele Dinge müssen sich hier ändern, wenn Fela weiterhin zufrieden im Lager umhergehen will. Aber nur bei dem neuen Transport ist es möglich, etwas zu arrangieren. Fela hasst es, zurückzustecken. Sie kann nur im Unbekannten suchen, zwischen den Neuen. Ha, wird sie dann triumphieren! Sie darf es aber nicht plump anstellen. Es müssen allerlei Listen, Kunstgriffe und Überraschungen angewendet werden. Geradlinige Handlungen verschaffen ihr niemals besonderes Vergnügen. Das geschieht schnell und brennt noch schneller aus. Man muss sich etwas ausdenken, selbst wenn das noch dauert!

    III

    Schon der dritte Tag, seit der Transport angekommen ist. Einen Teil von ihnen hat man schon in die Fabrik gebracht, auf die Hallen verteilt, und sie kommen am Abend mit dem braunen und gelben Mehl auf den schönen Anzügen zurück. In der Nacht muss die zweite Hälfte abmarschieren und Dr. Rost wird auch sie für alle Abteilungen aussortieren.

    Die neue Polizeitruppe wird immer verzweifelter. Sie laufen jetzt noch ruheloser um Felas Fenster herum, suchen einen Weg, näher heranzukommen, und ziehen sich unentschlossen zurück. Fela sieht alles, aber sie hat Zeit. Je länger sie warten müssen, desto niedergeschlagener werden sie sein und desto nachgiebiger. Dabei stört es nicht, dass Wajzenberg immer wieder zu der Gruppe läuft, sie anschreit und auseinandertreibt. Man muss ihnen die ganze Sicherheit nehmen und dann, erst dann …

    Was dann sein wird, damit hat Fela sich noch nicht konkret befasst. Aber die bloße Erwartung von etwas, das sie innerhalb von Sekunden erschaffen kann, belebt sie wieder und treibt ihr wildes Blut aufs Neue an wie mit Peitschen. Sollen sie hier herumlungern! Mit voller Absicht zeigt sie sich nicht, sie sollen sie nicht einmal sehen. Das Gefühl, dass Dutzende Menschen sich jetzt die Augen nach ihr ausgucken, tut ihr gut und sie sitzt hier, lässt ihre Anweisungen durch ihre hübsche brünette Hausgehilfin mitteilen und stellt damit bei jenen die Geduld auf die Probe. Sie erschauert schon mit jenem süßen Zittern, das sie immer spürt, wenn so viele Menschen zum ersten Mal auf sie schauen als die Mächtigste in dieser abgezäunten Welt.

    Schon lang hat sie sich nicht mehr so herausgeputzt, die langen Haare gebürstet und sich gepudert; schon lang hat der silberne Spiegel sie nicht mehr in seinen hölzernen Armen gehalten und so viel ihres Lächelns und des künstlich zornig fixierten Blickes auf sich gespürt. Und dort, auf den blumengeschmückten Plätzen, neben der Polizeibaracke, zählt man derweil die Stunden. Ein Teil der »alten« Polizisten von Werk C beeilen sich sogar, den »Blauen« mitzuteilen: Bereitet euch vor. Man wird euch bald auf den Weg schicken.

    Jene haben aber keine Lust mehr, weiter zuzuhören, und verschwinden in alle Richtungen. Von der Seite folgt ihnen noch Wajzenbergs Gelächter: Sie haben gemeint, dass es uns hier an Ware mangelt. Dabei lungern hier viele von meinen eigenen herum und haben keine Arbeit. Was soll ich also mit ihnen machen? Außer sie zum Traubaldachin zu führen. Und Hochzeit kann man hier nur mit einer Halle haben.

    Alle Polizisten lachten unterwürfig mit. Sie bemerkten deshalb nicht einmal, wie Fela hell und strahlend aus ihrer Baracke heraustrat. Ihr Haar war kunstvoll als Kranz um den Kopf gelegt und ihre Augen bewegten sich in einer warmgebetteten Feuchte. Sie war jetzt jünger und schöner, mit Resten von kindlicher Gereiztheit, die sich bleich auf ihrer eingezogenen Unterlippe schlängelte.

    Sie ging zu einer separat stehenden Gruppe neuer Polizisten und wandte sich mit gutmütiger Vertrautheit an sie: Nun, Jungs, was gibt es Neues?

    Die Gruppe erwachsener Jungen verlor vor Verwunderung die Sprache. Das war sie? So redete sie? In ihrer Verwirrung begannen sie, etwas zu stammeln. Sie richtete sich derweil höher auf, was ihre schmale Schlankheit noch stärker betonte. Dabei entfalteten sich ihre Lippen, wurden weiter, mit jener besonderen Beugung, mit der sie immer deren leidenschaftliche Fülle unterstrich, die das Weiß ihrer Zähne umsäumte. Sprachlos standen sie da, als sie noch liebevoller fortfuhr: Wie gefällt euch unser Werk C? Habt ihr euch schon ein wenig eingelebt?

    Von weitem wurden noch weitere der Neuen aufmerksam und kamen schnell näher. Von allen Seiten umringten sie sie, drängten sich und wollten ihre Worte mitbekommen. Jeder von ihnen wollte etwas sehr Kluges einstreuen, um ihren Blick auf sich zu ziehen und von ihr bemerkt zu werden.

    Auf Felas Gesicht ergoss sich eine glückliche Röte. Ihre verborgene Schönheit, die nur in bestimmten ihrer Stimmungen hervortrat, zeigte sich jetzt frei auf ihrem Gesicht und schwelgte in ihren verschämten Farben. Sie wollte jetzt jedem von ihnen gesondert antworten, das ging aber nicht. In Fela stieg ein neues Gefühl hoch: Hier drängten sie sich nicht nur zu der Hauptkommandantin. Deren Ort hatte jetzt die gut frisierte und herausgeputzte Frau eingenommen. Deshalb verteidigte sie, die Glückliche, sich: Aber Jungs! Ich kann doch nicht mit allen gleichzeitig reden! Gut, heute wird keiner von euch zur Arbeit gehen, aber wählt unter euch einige Delegierte aus. Heute Abend bei mir, in Ordnung?

    Sie signalisierte, dass die Unterhaltung beendet war. Alle machten ihr respektvoll den Weg frei. Sie entfernte sich mit wiegenden Schritten in ihren neuen Schuhen in Richtung des Lagers, wobei ihre gesund geformten Waden leise mitsummten. Sie sah gerade noch, wie Wajzenberg mit einem zornigen Ausspucken, das vom Wind verweht wurde, in die andere Richtung davoneilte. Mehr brauchte sie nicht für ihr Lächeln.

    IV

    Bei Nacht, als die ganze Abendgruppe abmarschierte, klopften zwei Männer leise an Felas Tür. Sie lag ausgestreckt auf dem plüschenen Kanapee und ihre Haare waren in gewollter Nachlässigkeit arrangiert. Im Zimmer war es gemütlich und still. Nur aus ihrem grün aufflammenden Blick schrie ein erstickter Schmerz auf der Schwelle zum Glück. Sie war in dünne Seide gekleidet, die einen farbigen Kontrast zu dem dunklen Licht des Lampenschirms bildete.

    Die zwei Delegierten der Polizisten aus dem Krakauer Lager verbeugten sich still wie vor einer Herrscherin in früheren Zeiten und murmelten nacheinander ihre Namen. Dann bedeutete sie ihnen mit einer Geste, sie sollten sich setzen. In dem kleinen Zimmer hob sich ihr Blick mit dem messerscharfen Blitzen noch schärfer vor dem weichen Grün des Samtes auf ihrer Lagerstatt ab. In dem Gemisch aus Licht und Dunkelheit, das sich um ihren Körper und ihr gelöstes Haar legte, wirkte sie wie völlig von Geheimnissen umgeben und eingehüllt. Wie kam solch eine Frau hierher? Wie kamen ein tapeziertes Zimmer, ein Plüschkanapee, weiche Hausschuhe und dünne Seide in eine Welt aus Pikrin und Trotyl?

    Die zwei Männer saßen überrascht da und wussten nicht, womit anzufangen. Fela setzte sich in gespielter Eile auf, legte den fülligen Arm auf das beleuchtete Tischchen und lehnte ihren wallenden Schopf daran. Dabei musterte sie mit dem Blick erst den einen, danach den anderen. Der Erste war ein Hochgewachsener, fast schon zu groß. Dafür waren seine Schultern ein wenig gebeugt. Auch sein Gesicht war knochig und langgestreckt. Seine halbgeschlossenen Augen waren von einer groben Hornbrille verdeckt, die ihm zu putzen einfiel, während sie ihn eingehend musterte. Er begann, in einem untertänigen Polnisch zu reden, in dem die harten R kratzten, wie ein Teil der Juden es so leicht nicht hinbekam. Es sah so aus, als habe man ihn als Redner ausgewählt, wegen seines scharfen Verstandes und seiner gedrechselten, ausgeklügelten Redeweise. Der ehemalige Wunderknabe in der Jeschiwa und spätere warmherzige Talmudgelehrte aus reichem Krakauer Haus, Englard, hatte schon mehrmals mit seinen scharfsinnigen Einfällen und geistreichen Ideen der ungehobelten Polizei ausgeholfen, die ihn deshalb in die Gruppe der Blauhüte aufgenommen hatte. Auch hier gestikulierte er mit den schlanken Händen, die sehr weit aus den kurzen Ärmeln herausragten. Er ereiferte sich immer mehr und sein schütterer, gekräuselter Haarschopf, der verwirbelt an seiner hohen Denkerstirn zu haften schien, warf wilde Schattenkreise auf das beleuchtete Stück der Wand. Fela selbst wusste nicht, ob sie ihm zuhörte oder nicht. Sie hatte ihren strengen Blick auf den zweiten Mann, der schweigend dasaß, gerichtet und sie registrierte: Ihr gegenüber saß ein großer, fester Mann. Seine hellblonden Haare waren dicht und glatt gekämmt. Ein kräftiger Backenbart zog sich bis auf sein glattes, volles Kinn. Seine großen, hellgrünen Augen, die von einem Halbrund aus blonden Wimpern beschattet wurden, waren mit angespannter Entschlossenheit auf sie gerichtet. Er saß da und sagte gar nichts. Aber ihre Blicke berührten sich und innerhalb einer Sekunde war alles beredet und abgeschlossen. Er berührte seinen breiten, ledernen Gürtel und richtete sich auf wie jemand, der sich zum Gehen anschickte. Innerhalb dieser einen Sekunde war Fela verloren. Ihr ganzer Gesichtsausdruck verriet, dass sie Angst hatte, er würde tatsächlich gehen. Das genau hatte er gewollt. Danach konnte er selbstbewusst seine Beine übereinanderschlagen und die Steifheit seiner Pose lockern.

    Englard, dem das Geschehen völlig entging, warf immer noch Reden in den Raum, obwohl sie schon lange nicht mehr nötig waren. Er wusste selbst nicht, wie lange er so geredet und sich ereifert hatte, während neben ihm ein stummer, ausführlicher Dialog mit Augen und leichten Körperbewegungen geführt wurde. Und als er es begriff, blieb ihm inmitten der aufgeheizten Luft das wiederholte »Szanowana pani«⁵ im Hals stecken. Also verstummte er.

    Erst dann erhob sich der andere. Seine mächtige statuenhafte Figur warf ihren Schatten über alle Wände, machte den kleingewordenen Raum eng und gemahnte daran, dass Riesen sich vor keiner Nacht und vor keiner Frau ängstigten. Seine Stimme klang fest, sicher und gebieterisch: Die Kommandantin sollte wissen, dass sie nicht erst gestern Polizisten geworden sind. Sie wissen auch, mit wem man reden muss und wie. Die Sprache der Befehlshaber haben auch andere geschafft zu lernen, und wie man eine Tür öffnet, muss man auch niemandem beibringen. Er will einfach Folgendes sagen: Man braucht es nicht! Soll besser alles hier bleiben, wie es war. Die neuen Menschen sind an ihre Polizei gewöhnt. Und im Allgemeinen ist es besser, man bleibt unter sich. Was gibt es noch zu reden?

    Was geschah in jenem Moment mit Fela? Einer der beiden Anwesenden stand überrascht und erschrocken da und wusste nicht, was als Erstes zu tun. Er merkte plötzlich, dass seine ganze Beredsamkeit und alle seine klugen Einfälle gegenüber einem vollen, energischen Gesicht und fest geformten Schultern hier gar keinen Wert besaßen. Das verwirrte ihn derart, dass er seinen Polizeihut in den Händen knetete, bis der glänzende Schirm zerbrach. Er fühlte sich überflüssig, klein und unbedeutend und wischte sich fortwährend die Schweißtropfen von der hohen Stirn.

    Dagegen fühlte sich der Zweite noch sicherer. Er reckte sich, rückte näher an sie heran und schaute aus seiner Höhe auf sie herab: Wie geht es weiter? Wann werden wir eine Antwort bekommen? Ich habe es eilig, weil ich noch in Erfahrung bringen muss, wohin meine Frau zugeteilt worden ist. Sie ist heute fort in die Fabrik.

    Er schaffte es sogar, Felas Zittern zu bemerken, als er so gelassen und gedehnt die Wörter »meine Frau« ausgesprochen hatte. Ihr Blick wurde zornig und benebelt und sie wand sich, wurde kleiner.

    Eine bessere Antwort brauchte er nicht.

    V

    Am nächsten Morgen wurde Werk C überrascht. Wie jedes Mal stürmte die Polizei in die Baracken und begann, die Schlafenden zu treiben und von den harten Lagerstätten zu ziehen. Dieses Mal aber kamen sie mit besonderem Zorn herein, als wollten sie hier einen besonderen Sieg feiern.

    Die schlafenden Werk-C-niks spürten im ersten Moment nicht, wer so an ihnen zerrte und wessen Hände den Schlaf mit Stecken aus ihren Körpern schüttelte. Erst als sie mit Gewalt die Augen aufrissen, erkannten sie: Ein ganzer Trupp fremder Gesichter, mit blauen Hüten obenauf, waren wie ein Sturm in die Baracken eingefallen, schlugen auf Köpfe, Arme und Beine ein und dabei brüllten sie regelrecht vor Glück: Ihr habt gemeint, dass wir hier bei euch unsere Lungen ausspucken. Wir werden es euch zeigen! Wir werden euch erst mal Respekt beibringen.

    Und plötzlich erkannte man, dass eine neue herrschende Macht im Lager dazugekommen war. Auch ein Teil der alten Polizisten war überrascht. Die blaue Truppe hatte sich für den frühmorgendlichen finsteren Lauf unter sie gemischt und sie konnten es kaum glauben: Die »Blauen« sind schon im Dienst! Sie laufen schon, treiben an und schimpfen noch frecher und strenger als die anderen! Wann ist das passiert? Und wie?

    Viel Zeit zum Nachdenken hatten sie nicht. An Gehorsam gewohnt verdauten sie auch dies schnell, zitterten kurz um den eigenen Polizeiknüppel und mischten sich dann schnell unter die neue Gruppe der freudig Triumphierenden. So musste es wohl sein!

    Sobald die Tagschicht fort war, hinaus zum Sammelplatz, versammelten sie sich in einer abseits gelegenen Baracke und tranken Brüderschaft. Später zeigte sich, dass die Neuen schon ihre Leute bei der Torwache und an den Zäunen hatten. Wajzenberg und der frühere Polizeikommandant Feldman liefen verwirrt umher, und Feldman, beim Zwirbeln seines großen Schnurrbartes, raunte jedem seiner Freunde etwas ins Ohr.

    Aber auch auf dieses Geheimnis musste Werk C nicht lange warten.

    Am Abend, als die zweite Schicht sich auf dem Sammelplatz einfinden musste, erschien ein großer, kräftiger Mann mit scharfem Blick. Auf seinem Kopf glänzte ein neuer Polizeihut mit den drei Sternen eines Kommandanten. Er ging energisch und sicher bis zum Tor. Sein Polizeianzug war hell und saß gut und die glänzenden Knöpfe funkelten schon von weitem. Seine kratzende starke Stimme beherrschte bald den ganzen Platz. Auf der anderen Seite erschien Wajzenberg. Auch er begann, der Polizei Kommandos zu geben, befahl, die Menschen anzutreiben, und schrie mit übertriebener Strenge. In einem Augenblick war für alle klar, dass der neue, wie gemeißelt wirkende Mann der Stärkere und Selbstsicherere war.

    Wajzenberg erteilte schon jetzt seine Befehle wie unter einem inneren Zwang und es war erkennbar, dass er damit etwas überschreien und überdecken wollte. Der frische gesunde Mann dagegen kommandierte mit einem ruhigen Ton, dem alle, ohne auch nur nachzudenken, gehorchten. Aus einer seitlichen Ecke tauchte die Kommandantin Fela auf. Sie trug ein blaues, dünnes Kleid und eine besonders hergerichtete Frisur. Sie hatte sich, wie es schien, für diesen heutigen Abend sehr herausgeputzt und vorbereitet. Jedes kleine Detail strahlte und strich deutlich die Kokettierende heraus. Es war das erste Mal, dass Werk C sie nicht in ihrer Kommandantengestalt sah, sondern als normale Frau.

    Sie trug jetzt nicht die lange Peitsche mit der dünn auslaufenden Spitze. Sie sagte auch nichts und schrie nicht. Ihre strahlend grünen Augen musterten nur alle milde und ironisch. Vor aller Augen ging sie zu dem großen, fremden Kommandanten, steckte ihren fülligen nackten Arm unter seinen, blieb so stehen und warf mit einer unbewusst vergnügten Bewegung des Kopfes ihr offenes Haar nach hinten. Und als er einen weiteren Schritt machte, folgte sie ihm mit verloren trunkenen Schritten.

    Die Gruppen stellten sich derweil gemäß ihren Hallen auf. Die Männerreihen standen still und schweigend. Hinter ihnen standen die Frauenabteilungen und flüsterten leise unter sich. Das Erscheinen des neuen Kommandanten ließ sie verstummen. Er trug jetzt einen breiten ledernen Gürtel wie ein hoher Offizier. Sein heller glatter Haarschopf spielte im Wind und einzelne Haarlocken tanzten ausgelassen auf seiner glatten, gesprenkelten Stirn. Seine großen gelblichen Augen strahlten jetzt etwas Befehlendes und Durchdringendes aus. Zweitausend Paar Mädchenaugen musterten ihn voller Eifersucht, Schreck und Neugier. Er sagte laut etwas und suchte dann jemanden mit seinem Blick zwischen den Reihen. Fela, die sich noch immer an seinen Arm klammerte, zog seinen Kopf zu sich heran und sagte etwas in sein blondbehaartes Ohr. Er setzte ein künstliches breites Lächeln auf und Felas grün blitzende Augen wanderten mit einem giftigen Lachen über die Frauenreihen.

    Jemand gab laut ein Kommando: Marsch!

    Die Reihen begannen wie abgerissene Stücke einer Schlange am Tor vorbeizuziehen. Der neue Kommandant streckte seinen wohlgeformten Körper. Neben ihm flatterte eine Frau in einem dünnen blauen Kleid. Er richtete aber den Blick auf einen Punkt in der Mitte des letzten Frauenabschnitts. Dort war die Reihe irgendwie nicht ausgerichtet und wankte zu allen Seiten. Er schrie aber nicht deswegen. Er schaute nur kühl und angestrengt dorthin.

    In jener Frauenreihe schälte sich eine kleine Gruppe heraus, bildete einen Kreis und etliche Mädchenhände streckten sich zu einer bleichen Frauengestalt. Die junge schöne Frau dort wollte sich aufrecht halten, doch wankte sie und drohte zu fallen, sie klammerte sich an die Hände einer Nachbarin, einer zweiten.

    Der neue Kommandant riss sich los, wollte näher hingehen. Aber eine feste Hand hielt ihn zurück. Er richtete seinen unverwandten Blick dorthin, seine Augen blitzten rot, loderten, wurden kleiner und zogen sich zurück.

    Die Reihen eilten voran. Auch jene Reihe von Frauen richtete sich schnell aus, wurde wieder gerade. Die junge schöne Frau stand eingequetscht zwischen einigen Mädchenkörpern und ließ sich handlungsunfähig mitziehen. Ihr schwacher Schrei, der sich in die Höhe zog und versuchte, sehr weit vorzudringen, erstarb in der Luft.

    Einige Neugierige aus der Gruppe reckten ihre Köpfe und trafen auf zwei stechende Augenpaare: von Fela und dem neuen Kommandanten. Schnell zogen alle ihre Köpfe wieder ein und ließen bis zum Hinausgehen die Augen auf das Tor gerichtet.

    Eine grundlose Trauer legte sich auf alle, obwohl niemand sicher wusste, was hier geschehen war. Nur aus einer Reihe sehr weit hinten wisperte eine einer zweiten ins Ohr. Das Gemurmel setzte sich unhörbar fort und verbreitete sich bis in alle Winkel: Die Frau des neuen Kommandanten. Sie ist ohnmächtig geworden in der Reihe. Man hat sie kaum wegführen können.

    Niemand brachte mehr ein Wort heraus. Im Hof blieb eine leere Stille zurück. Lediglich zwei Gestalten, hingestellt wie Statuen, waren für eine Weile wie erstarrt. Seine Augen offenbarten unter der ganzen Härte einen feuchten Glanz, den er mit der geringsten Berührung aufzurühren fürchtete. Angeklammert an ihn stand Fela. Ihre Augen strahlten jetzt eine verführerische Fröhlichkeit aus. Auch sie rührte sich nicht vom Fleck, bis der Staub der Abmarschierenden in Richtung der Fabrik sich gesetzt hatte. Dann zog sie energisch an ihm: Komm!

    Und beide gingen in Richtung ihrer Kammer fort.

    Kapitel drei

    I

    Wer war sie denn, diese Hauptkommandantin? Sie hatte Macht, sogar viel Macht. Aber bei ihrer ganzen Bedeutsamkeit war sie eine Unglückliche und Beleidigte. Sie war dazu geboren, eine Herrscherin zu sein, sich alles zu nehmen, was das Leben ausmachte, und sie wollte es erreichen. Als sie jung war, hatte sie sicher gedacht, dass das alles leicht zugehen würde, wie ein Spiel. Niemals aber war sie in der Lage, diese Dinge tiefergehend zu betrachten. Deshalb konnte sie auch nicht wissen, dass man manchmal eine Sache in die Hand nahm, und doch war es nicht deins, und keine Macht konnte es zwingen, das zu werden.

    So fühlte sie sich getäuscht, war beleidigt und verbittert. Ihr Stolz ließ diese Verbitterung noch stärker und ausgeprägter werden. Sie strebte ihr ganzes Leben lang danach, die Befehlsgewalt zu haben, Herrscherin zu sein. Hier hatte sie es erreicht! Deshalb wollte sie mit den Händen die Realität ihrer Macht begreifen. Sie schlug und tat allerlei wilde Sachen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre Herrschaft über Menschen nicht bloß einfache Fantasie, sondern Wirklichkeit war!

    Aber bei ihrer Jagd nach der Macht wurde die Frau in ihr unterdrückt. Sie selbst hatte sich bändigen müssen. Wem hatte sie nicht schon alles versucht, näherzukommen. Sehr vielen. Sie hatte aber niemals einen jungen Mann mit jener besonderen Bescheidenheit und Sanftheit, die eine Frau zeigen muss, anziehen können. Selbst ihre zarten Worte kamen im Befehlston heraus und deshalb bekam sie nur jene besondere unterwürfige Zuwendung zurück, die die Menschen in einem Zustand der Angst darbieten können, auch wenn diese versteckt und besänftigt wurde.

    Mit ihrer wilden, aufgewühlten Erotik fühlte sie sich von den starken, brutalen Männern aus Werk C angezogen. Sie berauschte sich an deren schrägem, obszönem Geschrei und dem Fieber ihrer behaarten Pranken. Fela hatte aber irgendwo gehört, dass es auch etwas Feineres und Edleres gab, das tiefer reichte als diese fleischliche Begierde und die lärmenden Orgien. Sie sehnte sich nach dieser Art von Gefühl, das nach allen leidenschaftlichen Ausbrüchen und aller verzehrenden Körperlichkeit bestehen bliebe; nach dem Gefühl von sanfter Stille, das nach einem warmen Blick, nach einer beiläufigen Berührung hängen blieb. Sie strebte danach und konnte es aber nicht erlangen.

    Und auch, als sie ein Auge auf den jungen Sekretär des Büros geworfen hatte, musste sie ihre Macht hervorkehren. So stand diese ihr im Weg, ließ nicht zu, dass sie sich hinabbeugte und nachgiebig wurde. Stattdessen musste sie erkennen, dass ein kleines, tänzelndes Mädchen, das so schwach war und sich erschrocken an die starke Schulter des Sekretärs anschmiegte, stärker und mächtiger war als sie.

    Herrufen und es sich mit einem Befehl nehmen, das konnte Fela. Sie konnte sogar erreichen, dass jene ihr zu Füßen lagen, ihr bittend in die Augen schauten. Allerdings mit einem kriecherischen Bitten, weil Fela ihnen den Polizeihut wegnehmen konnte, sie in eine schwere Halle oder zum Schießplatz schicken konnte oder es zumindest unterlassen konnte, sie davor zu bewahren. War das genug? Ihr reichte es mit der Zeit nicht mehr. Sie wollte noch etwas: Sie suchte Liebe in den Augen des anderen, eine Anhänglichkeit, wegen der dieser sich insgeheim nach ihr sehnen, an sie denken und ihr mit traurigem Schmachten nachblicken sollte. Das würde sie bei den behaarten, großen Jungen nicht finden können. Die kannten so etwas vermutlich gar nicht. Und als auch sie das haben wollte, kam solch eine kleine lächelnde Person wie die magere Alina und bewies, dass nur sie so etwas erreichen konnte.

    Nur mädchenhafte Machtlosigkeit konnte es schaffen, so etwas für sich zu erobern! Wie also konnte jemand wie Fela davon träumen? Selbst wenn sie versuchen sollte, anders zu lächeln als bisher, würde es nicht herauskommen, wie es sein sollte. Man würde sie später wieder mit ihrer langen Peitsche in der Hand und der strengen Kommandantenmiene sehen und alles wäre aus ihrem Gesicht wieder verschwunden. Man würde nicht aufhören, Angst vor ihr zu haben. Deshalb konnte hier auch niemals jenes Gefühl ihr gegenüber entstehen.

    Sie entwickelte eine zornige Gereiztheit, die sich in all den Jahren in ihrem Inneren angesammelt hatte. Sie wurde böse auf sich, aber mehr noch war sie zornig auf all die Menschen, die von der Natur in einer bestimmten Art geformt waren. Sie hasste alle sanften schmeichlerischen Mädchen des Lagers und sie begann, auf alle stiefeltragenden Männer böse zu werden, deren ganze Härte es nicht geschafft hatte, ihre Empfänglichkeit für Zartheit und Liebkosung zu ersticken. Und wenn sich doch so jemand fand, war er schon in einer ganz anderen Welt, in der von ihm nicht mehr als ein Stück rauen Körpers geblieben war.

    Sie konnte nicht mehr eines jener Mädchen werden, die in die Fabrik gingen und vor jedem lauten Schreien Angst hatten. Deshalb konnte sie auch nicht, wie diese es taten, große verwunderte Augen auf einen richten, der ihr gefiel, konnte nicht bereit sein, mit dem Blick zu rufen und zu versprechen, alles für eine Annäherung herzugeben, für eines seiner Worte, für seinen Schutz. Deshalb konnte sie auch deren Glück, ein Niemand zu sein, nicht haben. Sie wusste, dass sie das nicht konnte, also sonderte sie sich abends ab, warf sich auf ihr Kanapee und ließ die Augen über den geschwollenen Tränensäcken umherirren. Und deshalb musste sie auch mit Neid durch das Fenster beobachten, wie die Pärchen an den Abenden zwischen den Bäumen des Wäldchens spazierten und in ihrem Unglück glücklich lachten.

    So musste sie manchmal ihre lederne Schlange in die Hand nehmen und hinausgehen, um die wimmelnden und lärmenden Menschen auseinanderzutreiben. Sie musste auch von Zeit zu Zeit in die Baracken stürmen, die nackten Mädchen, die sie mit erschrockenem Kreischen empfingen, von den Pritschen scheuchen. Manchmal platzte sie auch in eine Baracke mit skelettgleichen Männern hinein, schimpfte ein wenig und lächelte dann mit ihren geschminkten Lippen, während die gebrochenen, gestern noch gestandenen Männer so eigentümlich auf diese schöne und gutgekleidete Frau starrten, die in der gelblichen Finsternis dieser düsteren Werk-C-Baracke dastand und sich über ihre fein gekämmten Haare strich.

    Eine Menge Sachen musste sie tun, die Fela Warkowiczowa!

    II

    Niemand konnte wissen, ob sie einfach nur ihrem Alleinsein ein Ende setzen wollte, oder ob sie sich mit irgendjemandem zeigen wollte, damit alle sehen sollten, dass sie auf ihn, und nur auf ihn gewartet hatte. Ein ganzes Knäuel aus Nerven und Überlegungen wartete in ihr darauf, auszubrechen, und ihre Geduld reichte bis zu einem gewissen Augenblick, in dem sie enden und zusammenbrechen musste.

    In ihrem Innern brannte der Schmerz einer Verlassenen, einer Frau, deren Liebe von einem Mann zurückgewiesen wurde. Je mehr Macht sie im Lager hatte, desto stärker wuchsen in ihr der Schmerz und das Gefühl der Beleidigung, sie musste sich in ihrem übergroßen Stolz verletzt fühlen, den sie nun versuchte, noch stärker aufzublasen.

    In ihr hatte sich der Drang aufgebaut, Rache zu nehmen, einen Balsam zu finden, genau für jene Wunde, die in ihr brannte und ihr die Ruhe raubte. Sie musste einen Mann gewinnen, ihn sich nehmen, ihn buchstäblich aus dem Arm einer anderen herausreißen. Sie musste eine andere Frau im Kampf um ihn besiegen! Sie musste einen Mann in die Verlegenheit bringen, vor einer tragischen Wahl zu stehen: sie oder die andere, die er liebte, mit der er verbunden war.

    Und erst dann, wenn dieser ihren weiblichen Finessen, ihrem Lächeln und ihren Reizen nachgeben würde, würde es sie besänftigen und beruhigen. Das eine Mal hatte die Jüngere und Schwächere, die hier gar nichts zu sagen hatte, Fela jenen dümmlich-lächelnden Marek weggenommen! Das war aber noch kein Beweis. Ein andermal kam jetzt sie, und besiegte die andere! Auch bei ihr musste es gerecht zugehen!

    Sie musste einen Mann suchen, der hier eine Frau hatte; eine schöne und zarte, eine von ihm geliebte. Kein anderer würde in ihr das verborgene Geschrei, den Selbstzweifel stillen können.

    Der Zufall wollte es, dass sie ihn sah. Etliche Tage nach der Ankunft bemerkte Fela den großgewachsenen, aufrechten Ragner zwischen den Bäumen, nicht weit von der Kommandantenbaracke. Eine schlanke, junge Frau stand zitternd neben ihm und klagte über etwas. Und der große Junge mit den strengen, stechenden Augen drückte sie zärtlich an sich und streichelte sie sanft.

    Und an jenem Abend erschien er bei ihr zusammen mit dem großen, ausgedorrten und seltsamen Englard. Seine ganze Erscheinung und sein fester Gang strahlten eiserne Entschlossenheit und eine herrische Natur aus. Und in ihrem erregten Gemüt stellte sie sich vor, wie dieser fest entschlossene Mann seine Pflichten gegenüber einer Frau erfüllt, die er als seine erwählt hatte. Er erinnerte sie mit seinem Aussehen und seiner Art an ihren letzten offiziellen Mann. Sie erinnerte sich wieder an die Szene zwischen den Bäumen, als er seine schöne Frau so elegant und väterlich an sich gedrückt hatte. Und auch jetzt, als er zu ihr als Delegierter der neuen Polizisten gekommen war, saß er selbstbewusst da und wägte jedes Wort ab. Nur als er sich erinnerte, dass seine Frau heute das erste Mal zur Arbeit gegangen war und er nicht wusste, bei welcher Arbeit sie war und wie sie sich fühlte, erhob er sich vom Platz, und sein Gesicht zeigte eine ungeduldige Miene.

    Dieser Gesichtsausdruck nahm sie gefangen! Diese Ungeduld auf seinem Gesicht musste sie für sich haben! Darauf wartete sie, und schon in ein paar Minuten konnte er sie mitnehmen, sie jener Frau geben, die Fela nur von weitem zwischen den Bäumen gesehen hatte. Sie durfte das nicht zulassen!

    In dem Moment war Fela bereit, sehr viel dafür zu geben. Das war das Glück! Er durfte aber nicht von vorneherein wissen, was sie bei ihm suchte und was sie einer anderen wegnehmen wollte. Er redete streng, ließ Wörter über Orte fallen, wohin er Beziehungen hatte. Eigentlich hätte sie ironisch lächeln und ihm sagen müssen, dass man sie hier damit nicht schrecken konnte, sie war davor gefeit und hatte schon genügend scharfe Zungen für immer zum Schweigen gebracht. Damit würde sie aber ihr Ziel nicht erreichen. Ihre Macht würde sich wieder in den Vordergrund drängen, alles einnehmen und abschrecken. Wollte sie das? Hatte sie davon nicht schon genug?

    Nun, dieses Mal gab sie die Schwache, die Erschreckte, die ihre Erschrockenheit maskieren wollte, es aber nicht schaffte. Es lohnte nicht, ihr Spiel wegen ein paar neuen Polizisten zunichte zu machen. Sollten sie es ruhig werden! Sollten auch sie Gummiknüppel tragen und sich auf dem Hof austoben. Er aber sollte meinen, dass er es bei ihr nicht nur erreicht, sondern eingefordert hatte. Darin musste sie ihm nachgeben, und erst danach sollte ihre erschreckte Fraulichkeit ihn unsicher werden lassen, ihn verwirren. Das würde ihr Glück und Erfolg sein, ihre Rache und ihr sicherer Sieg.

    Ihr nachgiebig gewordenes Lächeln spielte mit versteckter Bescheidenheit und Zustimmung mit ihm, die sie vorgeblich verdeckt halten wollte, aber nicht konnte. Nur er würde es erkennen können. Das würde ihm schmeicheln, er würde auf diesen Erfolg stolz sein und es zeigen wollen. Eines aber wusste sie: Nur auf diesem Weg würde es anders sein als sonst! Nur jetzt und mit ihm würde sie Arm in Arm hinausgehen können, sich an ihn hängen und über einen gewissen »Jemand« triumphieren, der sich in welcher Frau auch immer verkörpern mochte.

    III

    Das Übernehmen von Ragner und die Ernennung zum Kommandanten verursachte in Werk C einen besonderen, stillen Aufruhr. Das war zu schnell gegangen und deshalb so überraschend gekommen. Über ihn selbst war gar nichts bekannt. Gleich am zweiten Tag nach der stillen Übereinkunft zeigte er sich auf dem Platz in einer schönen, gutsitzenden Kommandantenuniform, an der die metallenen Knöpfe funkelten. Es war erkennbar, dass Felas Hand mit ihm Spiel war, um ihn zu dekorieren und als ihren besonderen Schmuck herauszuputzen. Sie hatte für ihn irgendwo eine besondere Art Kokarde mit drei goldenen Sternen bekommen, dazu ein Paar neuer Stiefel mit kunstfertigen Absätzen. Jeder seiner arroganten Schritte verströmte ihren Geschmack.

    Er selbst machte sich wenig aus der Angelegenheit. Seine großen kalten Augen blickten auf alle mit natürlicher Herrschermiene, als wäre er niemals etwas anderes gewesen.

    Bei seiner Frau in der abgelegenen Frauenbaracke zeigte er sich in der ersten Zeit nicht. Sein Blick zitterte unmerklich, wenn er sie geschwächt durch das Tor hinausmarschieren sah. Fela tat in den ersten paar Tagen so, als hätte sie vergessen, dass faktisch sie hier die Herrscherin war. Auf dem Platz zeigte sie sich gemeinsam mit ihm, aber die Befehle ließ sie ihn hinausbrüllen. Sie hängte sich dabei neckisch an seine Schulter und machte eine Miene, als sei sie wild berauscht von seiner bloßen Nähe, als sähe und interessierte sie nichts anderes mehr.

    Begonnen hatte sie es als Spiel, hatte vor aller Augen ihre ganze stürmische Wildheit neben ihm freigelassen, sich an ihn gedrängt und seinen rötlichen Nacken umfasst. Aber nach den ersten paar Tagen verliebte sie sich wirklich in ihn. Sie verlor ihre spröde Härte und rückte nicht mehr von seiner Seite. Wenn es auf den Straßen des Lagers etwas ruhiger war, führte sie ihn spazieren und er ging mit. Sie hängte sich dabei an seine starken Arme und ließ ihre Beine in die Luft fliegen. Ihr Geschrei verbreitete sich in den Straßen: Heb mich höher! Ja, weiter so. Trag mich ein bisschen auf den Händen!

    Und es sah aus, als habe sie ihr ganzes Kommandantengehabe in seinen langen, rötlich behaarten Armen verloren. Ragner wurde tatsächlich von Tag zu Tag stolzer und strenger. Er wusste, dass in den nachgeordneten Baracken jetzt Wajzenberg, Feldman und die anderen Polizisten von früher saßen. Sie tranken jetzt verbittert Schnaps, und Felas Schwager Wajzenberg war der Einzige, der sich erlauben konnte, leicht angeheitert zu drohen: Das bleibt nicht so. Wir werden auch noch etwas ausrichten.

    Ragner zeigte ein verhohlenes Lächeln, das alle abschrecken musste, obwohl nur er selbst den Grund dafür kannte. Die Krakauer Polizisten hielten sich derweil geschäftig in seiner Nähe auf, trugen ihm selbst das kleinste Detail zu, das sie hörten, und scharten sich um ihre einzige mächtige Festung in Werk C. Er begann, aus seinen besonders engen Freunden eine Anhängerschaft aufzubauen. Fela wollte sich keine Minute mehr mit anderen Sachen abgeben. Deshalb bekam sie nicht mit oder wollte es nicht wissen, dass Wajzenberg einmal zu seiner Cousine in die Baracke gegangen und vor allen Mädchen herumgeschrien hatte: Ich hab gewusst, was die Hure alles zuwege bringen kann! Kann sie denn besser sein als ihr teures Schwesterchen? Es hat sie ausgerechnet nach einem Mann gelüstet, der hier jemanden hat. Solch einen Appetit hat sie ständig. Aber das wird sich rächen. Oh, wird es sich rächen!

    Was genau sich für Fela rächen würde, konnte niemand aus seiner Rede heraushören.

    IV

    Vom Weißen Haus drangen immer öfter Geschrei und Streitereien in die stillen Nächte von Werk C hinaus. Es hieß, Wajzenbergs Frau schlage sich mit seiner kleinen blonden Geliebten. Andere erzählten, der Geliebte seiner Frau erhebe gar Anschuldigungen gegen Wajzenberg. Dagegen waren die glaubhafter, die unter Berufung auf ihr Dienstmädchen erzählten, dass alle Verratenen und Zerstrittenen im Weißen Haus Druck auf Fela ausübten.

    Sie sahen sie plötzlich von ihrer schwachen Seite, ohne das strenge Kommandantengebaren, und deshalb gab es vorsichtige Angriffe gegen sie, warum sie einen wildfremden Menschen in die Herrscherfamilie hereingenommen hatte. Außerdem beweise er so viel Selbstständigkeit, dass er eines Tages alle von hier hinauswerfen könne. Und wenn er Macht in die Hand bekäme, würde er auch sie, Fela, nicht schonen! Sie solle sich nur nicht einreden, dass er tatsächlich bis über beide Ohren in sie verliebt sei. Er tue nur so! Später, sobald er seine Stellung gefestigt habe und durch Fela herausgefunden habe, mit wem man hier in Kontakt stehen müsse, würde er sie als nutzlos hinauswerfen oder sie sogar zum Schießstand schicken. Seine Augen verrieten, zu was er fähig war.

    Fela hielt sich zurück, sagte kein Wort, nicht einmal, als ihre alte Mutter begann, ihr Vorhaltungen zu machen und den anderen Kindern recht zu geben. Ein sonderbares Schweigen hatte sie befallen! Nur einmal explodierte sie. Das war, als Wajzenberg sie mit einer ganzen Sintflut hitziger Rede überschüttete: Wie konntest du deinen Verstand verlieren? Ich erkenne dich gar nicht wieder! Immer bist du so clever und scharfsinnig gewesen und jetzt redest du dir sogar ein, dass er nach dir vergeht. Du musst nur die Augen öffnen und die Frau anschauen, die er hier hat. Ich habe sie mir sehr gut angesehen! Es könnte nicht schaden, du würdest sie dir einmal anschauen. Danach solltest du zum Spiegel gehen und dich selbst betrachten, aber in aller Ruhe! Hörst du?

    Da brauste sie auf. Die ganze Kälte in ihr zersprang, sie griff sich den erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hand kam, und schleuderte ihn dem Schwager an den Kopf. Jetzt hielt er seine Zeit der Rache für gekommen. Er hatte ihren wunden Punkt erkannt und übte Vergeltung für seine Degradierung, für ihren Spott gegen ihn. Sie musste sich setzen. Ihre Augen stachen in ihrem bleichen Gesicht hervor, aber Wajzenbergs doppelter Zorn sprudelte weiter aus ihm heraus und die Funken fielen glühend auf einen verdeckten wunden Punkt in ihrer Seele: Reg dich nur auf! Anstatt im Guten zu reden, wie man es mit Verwandten tun sollte, die es gut mit einem meinen, wirft sie um sich. Du wirst aber sehen: In ein paar Wochen wird Ragners bildschöne Frau hier herausgeputzt sitzen und die Kommandantin, Madame Fela Warkowiczowa, wird Gott danken, wenn sie noch beim Pikrin arbeiten kann. Wenn man denn leben wird, man wird es sehen. Dann soll sie ihre Schläue ausspielen!

    Felas Atem ging heiß und keuchend. Es sah aus, als geschehe hier gleich etwas Grausames und Schreckliches. Plötzlich beherrschte sie sich aber und wie durch einen Zauber strömte Farbe in ihr Gesicht. Sie stand hastig auf und lief hinaus. Etliche Minuten später kam sie wieder herein, führte verbissen schweigend Ragner an der Hand. Im Haus der Kommandanten wurde es still. Niemand brachte mehr ein Wort heraus. Nur Ragner zog ruhig und stolz ein Päckchen deutscher Zigaretten heraus, bot Wajzenberg herausfordernd eine an, nahm sich dann mit einer stummen Geste selbst eine und zündete sie an. Der Rauch hüllte alle in Nebel. Wajzenberg wurde das Schweigen schon langweilig. Er brummte etwas und lief hinaus. Man hörte nur, wie er sich bei jemandem mit lauter Stimme beklagte, als wollte er, man solle ihn drinnen hören: Dass sie nach dem verrückt ist. Sie hat bei ihm den Verstand verloren – und fertig! Da gibt es nichts mehr zu reden.

    V

    Von allen Seiten hörte Mechele über die Streitereien in der Familie der Kommandanten. Es erzählte darüber der Barackenälteste Frydland, es lästerte über sie der Ingenieur Kurc und von allen Seiten tuschelte die Polizei davon. Auch in Mecheles Baracke hörte man nicht auf, sich darüber zu streiten.

    Der kluge und besonnene Wrocławski, ein Warschauer Gelehrter und Intellektueller, der zum Pikrin hineingeraten war, unterstrich auch hier seinen eigenen Blick auf die Geschehnisse: Mein lieber Mechele, lass dir nichts einreden. Sie ist tatsächlich eine Prostituierte, ein Auswurf der Welt und zweifellos ist sie ihm aus Verlangen nachgelaufen und nicht wegen romantischer Geschichten! Aber verrückt ist sie nicht. Sie ist klüger als Wajzenberg und Ragner zusammen!

    Warum es dem gelb gewordenen Wrocławski so wichtig war, Fela zu verteidigen, konnte Mechele nicht begreifen. Der Mann redete aber immer so ruhig und vernünftig, dass Mechele ihm zuhören musste. Auch hier hatte er seine Logik: Sie ist, was sie ist! Sie sieht einen schönen strammen Jungen – warum nicht? Und selbst in solch einer Hölle wie der in ihrem Inneren, kann es passieren, dass man sich verliebt. Sie aber hat einen Kopf auf den Schultern und verliert ihn nicht, obwohl sie so tut. Sie weiß, dass er hier eine schöne junge Frau hat, und auch in Bezug auf sich selbst, mit ihrer ganzen Schönheit, macht sie sich nichts vor. Die Jahre kann man nicht zurückdrehen! Was also denkst du, dass sie tut? Sie will ihn immer größer machen. Mehr will er doch nicht! So lässt sie ihn immer tiefer und tiefer in die Geschäfte hinein. Beim Kommandieren muss man eine Menge Sachen tun, von denen die Deutschen nichts wissen dürfen. Den Kopf kann man dabei verlieren. Sie weiß, wie man das macht, ohne dass ein Vogel etwas davon mitbekommt. Er aber ist ungeschickt und voller Selbstgefälligkeit. Deshalb übergibt sie ihm verschiedene Sachen und tut dabei, als sei sie hilflos, als würde sie sich nur auf ihn verlassen. Dabei ist sie in gar nichts verwickelt und er tut derweil etwas, von dem er selbst nicht weiß, was er da tut. Sollte er später Bedenken haben, wirst du sehen, dass sie ihn am Schopf hat! Er wird keinen Mucks mehr machen können. Sie weiß jedenfalls, wie sie es anstellt, dass jemand ihr ausgeliefert ist! Ihr zu Füßen wird er dann liegen müssen. Dem geringsten ihrer Befehle wird er gehorchen müssen! Soll er ruhig immer mehr Macht haben, immer stärker glauben, dass er hier der ganz große Herrscher sei. Sie wird ihm schon, zusammen mit der Liebe und mit den Geheimnissen, solch bittere Pillen verabreichen, dass er sie weder schlucken noch ausspucken kann. Nicht wenige Kommandantenköpfe hat sie schon geschafft zu demontieren.

    Wegen dieser ganzen leise geführten Diskussionen und Meinungen verbreiteten sich immer mehr und mehr Erinnerungen an Fela. Wer weiß? Vielleicht zog sie tatsächlich einen nach dem anderen dort hinein bis in jenen Abgrund der Sünde und der Furcht, aus dem man nicht mehr entkommen konnte?

    VI

    Ragner breitete sich derweil über das Lager aus. Er begann, die Polizei zu dirigieren, in die Fabrik zu gehen, sich

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