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Michelle
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eBook296 Seiten3 Stunden

Michelle

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Über dieses E-Book

Der Journalist und Autor Alexander Fabuschewski schreibt sein neues Buch, dieses Mal auch zum Thema Stalking und Rechtsradikalismus. Da bekommt er mysteriöse E-Mails von Michelle, einer jungen Frau, die er bei der Recherche zu seinem letzten Buch kennen gelernt hat. Er verstrickt sich bei seinen Recherchen immer tiefer im braunen Sumpf. Als er bei einer Lesung überfallen wird, dämmert ihm langsam, dass er seinem Forschungsobjekt vielleicht doch etwas zu nah gekommen ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Sept. 2014
ISBN9783847609193
Michelle

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    Buchvorschau

    Michelle - Reiner Kotulla

    Prolog

    Es war Sonntag, der 9. Februar 1979, einer dieser typischen Februartage, Schneeregen, alles grau in grau. Tagsüber wurde es nicht richtig hell. Abends lief ein Krimi im DDR-Fernsehen, „Polizeiruf 110. Auf einen solchen Tag hatte Walter Wagner lange gewartet. Bei diesem Wetter wird draußen kaum jemand unterwegs sein, dachte er. Genau der richtige Tag, um die Bombe zu zünden. Gegen 21.00 Uhr verabschiedete sich Walter Wagner von seiner Frau Christa. „Also, ich geh dann jetzt. Sie lebten in einem Haus, in einer kleinen Stadt, in der Nähe von Karl-Marx-Stadt.

    Er holte die Bombe aus dem Versteck im Pumpenschacht, befestigte die selbst gebastelten Nummernschilder an seinem grauen Trabant und packte die Bombe in den Kofferraum. Zwei Handgranaten und einen Revolver steckte er in die großen Seitentaschen seiner alten Armeejacke. Dann fuhr er los, acht Kilometer bis in die Stadt. Sein Ziel war das sowjetische Ehrenmal, Ecke Dresdner und Frankenberger Straße. Ein T-34 Panzer der Roten Armee auf einem Betonsockel mit der Inschrift: 8. Mai 1945.

    Später, im Gefängnis, sah er den Film „Der unbekannte Krieg", eine sowjetisch-US-amerikanische Gemeinschaftsproduktion. Der Film stellte dar, wie die Sowjets nach dem Überfall der Wehrmacht ganze Panzerproduktionsstätten aus dem europäischen Teil der UdSSR hinter den Ural verlagert hatten. Dort wurden Drehbänke und andere Werkzeugmaschinen unter freiem Himmel im Boden verankert, indem dieser kurz mithilfe eines Schweißbrenners aufgetaut wurde. Anschließend ließ man ihn wieder zufrieren, und die Maschinen standen fest. Bei hohen Minustemperaturen wurde dann die Massenproduktion des legendären T-34 aufgenommen, der gleichzeitig Kampf- und Schützenpanzer war, mit dessen Hilfe man die deutschen Soldaten das Fürchten lehrte. Später, nach dem Krieg, wurde der Panzer an vielen Orten der DDR zum Denkmal für den Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus umfunktioniert.

    Niemand beobachtete den Mann, der sich jetzt dem Panzerdenkmal näherte. Er schleppte die in dunkles Tuch gehüllte Bombe zum Denkmal. Dann holte er aus dem Auto eine Klappleiter und lehnte sie an den Betonsockel. Er kletterte mit der Bombe unter dem Arm hoch und schob den Sprengsatz zwischen Panzerkette und Führungsrad. Die Bombe bestand aus einer stählernen Gasflasche, gefüllt mit elfeinhalb Kilo einer Mischung aus Unkraut-Ex, Puderzucker und anderen Zutaten, dazu drei Glühbirnen, ein Wecker und zehn Batterien. Er stellte den Zünder, weil er kaum etwas sehen konnte unter dem düsteren Panzer, auf eine geschätzte kurze Zeit. Ohne Hast stieg er die Leiter herunter, klappte sie zusammen, trug sie zu seinem Auto und verstaute sie auf der Beifahrerseite. Dann stieg er ein. Die Entfernung zum Denkmal betrug jetzt etwa zweihundert Meter. Vorsichtig, um keinen Krach zu machen, zog er die Autotür ins Schloss.

    Im selben Moment zündete die Bombe. Ein Lichtblitz zerriss die Nacht, ein dumpfer Knall rollte durch die feuchtkalte Luft.

    Später erfuhr er, dass abgesprengte Panzerteile bis zu fünfzig Meter weit durch die Luft geschleudert worden waren, und dass ein Mann, der mit seinem Hund unterwegs gewesen war, von einem Stück der Panzerkette erschlagen wurde.

    25 Jahre nach dem Attentat lebte Walter Wagner in Wetzlar-Nieder-girmes, inzwischen 63 Jahre alt. Ein alter Mann, der sich gerne beim Lesen der Bildzeitung unterbrechen ließ, wenn man ihn heute nach den Ereignissen von damals befragte. Dann erzählte er die Geschichte und stellte sich als einen Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus dar. Sein Vater, so sagte er, hatte ihn schon früh über das unmenschliche System der DDR aufgeklärt. Nach der Schule hatte er zuerst eine Fleischerlehre begonnen, dann aber eine Ausbildung zum Dreher absolviert. Er war stets darauf bedacht gewesen, anderen gegenüber seine Einstellung zu verbergen. Zur Tarnung war er „Freiwilliger Helfer der Volkspolizei" geworden. Heimlich aber hatte er selbst gefertigte Plakate mit Aufschriften, die zum bewaffneten Kampf gegen den Kommunismus aufriefen, geklebt. Ständig aber hatte er mit der Angst gelebt, entdeckt zu werden, hatte er doch gewusst, dass ihm staatliche Verfolgung drohte. Die Wirkungslosigkeit seiner Plakataktionen hatten ihn dann über andere Methoden des politischen Kampfes nachdenken lassen.

    Er hatte einen Freund gehabt, Josef Riemer, der Panzerkommandant bei der NVA gewesen war und etwas von Waffen und Sprengstoff verstand. Josef hatte gedacht wie er, und so redeten sie viel miteinander. Ein Fanal hatten sie setzen wollen, für den Beginn einer nationalen Revolution. Von einem Marsch auf Berlin hatten sie geträumt und dass sich ihnen immer mehr Menschen anschließen würden, ihrem Kampf gegen das Böse. Oft, wenn sie alleine in Walter Wagners Kellerbar gesessen hatten, stimmte einer von ihnen das Horst-Wessel-Lied an, „Die Straße frei, den braunen Bataillonen."

    Und er erzählte weiter: „1977 fingen wir an, Pläne zu schmieden. Irgendwann kamen wir auf das Panzerdenkmal. Im Herbst 1978 war die Bombe fertiggebaut. Zuhause und bei der Arbeit an Abenden und Wochenenden. Niemand hat Verdacht geschöpft, niemand wusste etwas. Mein Sohn Klaus war damals acht Jahre alt. Wir haben nicht nur die Bombe gebaut, auch sechs Stielhandgranaten stammten aus unserer Produktion. Zwei Revolver und Patronen hat Josef besorgt. Lebend sollten sie uns nicht kriegen." Wäre die Polizei gekommen, hätte es eine Verfolgungsjagd gegeben. Das wäre dann womöglich in einem Blutbad geendet. Von dem getöteten Spaziergänger erzählte er nicht.

    Zehn Minuten nach dem Knall war Walter Wagner zu Hause. Seine Frau entfernte die Tarnnummernschilder, er rannte ins Haus und verbrannte seine Kleidung. Es gab keine Spuren mehr, als ein Mannschaftswagen der Volkspolizei am Haus vorbeiraste, in Richtung Panzerdenkmal.

    Dann begannen die Ermittlungen des Ministeriums für Staatssicherheit und der Polizei in alle Richtungen. Sie blieben jedoch ergebnislos. Hinter der Tat vermuteten sie westliche Geheimdienste. In den DDR-Medien wurde der Fall nicht erwähnt. BRD-Zeitungen berichteten im März über den Anschlag. Am 25. September 1979 schlug die Volkspolizei zu. Sieben Monate nach der Tat.

    „Normalerweise hätten sie mich nie gekriegt", sagte Walter Wagner. Der Sohn von Josef Riemer musste etwas aufgeschnappt haben. Der hatte dann wohl mit einem Freund darüber gesprochen, welcher wiederum die Polizei informierte. Im Februar 1980, ein Jahr danach, verurteilte das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt Walter Wagner zu lebenslanger Haft. Sein Freund, Josef Riemer, bekam zwölf Jahre.

    Den Gefängnisaufenthalt erschwerte er sich selbst. Er betitelte die Beamten im Gefängnis als Honecker-Knechte und Stasilakaien. Bei einem Hofgang hatte er eine Scherbe gefunden, diese in ein feuchtes Läppchen gewickelt und dann in seinem Enddarm versteckt. Damit ritzte er die Wände voll mit Beschimpfungen gegen den SED-Staat. Irgendwann schnitt er sich seine Beinvene auf und schrieb mit seinem Blut die Wände und Zettelchen voll. Manchmal sammelte er Blut in einem Becher und bespritzte die Beamten damit. Sein Hass auf die DDR war grenzenlos. Zeitweilig verweigerte er die Nahrungsaufnahme, nahm ab, wog schließlich nur noch 50 Kilogramm.

    „Wollen Sie nicht endlich vernünftig werden", fragte ihn ein Beamter.

    Er antwortete: „Ich lehne es ab, die Vernunft eines Hundes anzunehmen."

    Anfang 1986 brach er zusammen, wurde zwangsernährt. Inzwischen war sein Schicksal der BRD-Regierung bekannt geworden. Im Juli desselben Jahres wurden Walter Wagner, seine Frau und sein Sohn im Rahmen eines Austauschs von Agenten in die Bundesrepublik entlassen. Da war Klaus elf Jahre alt.

    Sie zogen nach Wetzlar, Walter fand Arbeit im Maschinenbau, wurde jedoch 1993 arbeitslos. Er bekam eine Entschädigung als Opfer des SED-Regimes, wie es hieß. Manchmal hielt er Vorträge, auf Parteiversammlungen der Nationalen und bei Burschenschaften. Auch dort verschwieg er den Spaziergänger, der an jenem Abend mit seinem Hund unterwegs gewesen war.

    Erster Teil

    Eins

    Ein wenig fühlte er sich wie auf der Flucht, als er in Wetzlar in den Zug stieg. Drei Stunden Zeit bis Kassel-Wilhelmshöhe. Was war passiert, dass er das so empfand? Etwa sechs Monate war er jetzt in Wetzlar. Ereignisreiche Monate, dachte Alexander Fabuschewski. Begonnen hatten sie mit einem Unfall, den sein Vater auf dem Weg nach Siegen, als er ihn besuchen wollte, hatte. Dann sein Entschluss, nach Wetzlar umzuziehen. Die neue Wohnung in Wetzlar, Am Fischmarkt, der Artikel in der Zeitung, Michelle Carladis, Morina Vlado und Juri Bredlow, der Freund, der jetzt tot war. Zwei Jahre konnte er von dem Ersparten leben. Zwei Jahre Zeit zum Schreiben.

    Der Roman war fertig. Noch achtzehn Monate hatte er Zeit, dann brauchte er neues Geld. Ein Freund hatte ihm das Lektorat angeboten. Nach der Rückkehr würde er das Manuskript versenden, jetzt wollte er erst einmal Abstand gewinnen. Er freute sich auf Renate und darauf, die Unterlagen in kompetente Hände übergeben zu können. Unterlagen, die Juri Bredlow, den Freund, posthum entlasten sollten.

    Von Kassel-Wilhelmshöhe nach Hamburg, zwei Stunden und zwei weitere bis nach Schleswig. Renate erwartete ihn an Gleis eins. Später saßen sie in dem kleinen Wohnzimmer im Haus an der Friedrichstraße. Ein altes, einstöckiges Haus, mitten in der Stadt. Sie saßen auf Straßenhöhe, die Fensterläden waren noch nicht geschlossen. Hin und wieder liefen Passanten vorüber, die ihnen auf den Tisch hätten schauen können, wäre es nicht draußen heller als drinnen gewesen. Die Haustür führte direkt von der Straße aus in einen kleinen Flur, von dem aus man in ein Zimmer, das Wohnzimmer, und von dort in die Küche gelangte. Durch das Küchenfenster schaute man auf einen Hof, auf Wände, berankt von Efeu und wildem Wein. Die Weinblätter in hellem Grün, noch nicht ausgewachsen. Die eisernen Gartenstühle standen, noch zusammengeklappt, an den Tisch gelehnt. Das Kopfsteinpflaster des Hofes ließ den erfolgten Frühjahrsputz vermuten. Vom Flur aus, rechter Hand, konnte er einen kurzen Blick in das Schlafzimmer werfen, bevor sie ihn weiter ins Wohnzimmer führte. Zeit genug, das große Bett, ebenerdig, und den Spiegel, gegenüber des Fußendes an die Wand gelehnt, zu sehen. Renate hatte Spaghetti gekocht, Aglio-Olio, und dazu eine Flasche sardischen Wein auf den Tisch gestellt. Während sie Spaghetti auf die Teller tat, öffnete er die Weinflasche und goss beiden ein.

    „Erzähle", sagte sie, nachdem sie zusammen das Geschirr in die Küche geräumt hatten und an den kleinen Tisch, in der hinteren Wohnzimmerecke, umgezogen waren.

    Und Alexander erzählte: Von Simone Müller, und wie die an die CD gekommen war. Von Brunhilde Schelliga, der Intrigantin und von Peter, seinem Vater und dessen Freundin, Marina Nowak aus Braunfels. Dann der Anlass, aber nicht die Ursache für seinen Besuch, Materialien und Aufzeichnungen, Beweise für Juri Brelows Unschuld. Renate hörte ihm geduldig zu und las die Texte.

    „Gut, Alexander, sagte sie dann, „ich werde mich darum kümmern.

    Renate arbeitete für die Polizei. Vor einiger Zeit wurde sie zum Landeskriminalamt von Schleswig-Holstein nach Kiel versetzt. Über ihre eigentliche Arbeit hatte sie, seitdem sie sich kannten, wenig gesprochen, durfte sie auch nicht, wie Alexander wusste. Deshalb hatte er es bisher vermieden, nachzufragen. Trotzdem oder gerade deshalb hatte sie ihm schon einige Male geholfen, und das wollte sie auch jetzt wieder tun.

    „Ich würde dir jetzt gerne die nähere Umgebung meiner Wohnung zeigen. Was hältst du von einem kleinen Spaziergang?"

    Alexander war einverstanden, wollte aber zuvor, da er nicht so gerne aus dem Koffer lebte, seine Sachen auspacken. Sie zeigte ihm ein leeres Fach im Kleiderschrank, der im Schlafzimmer stand, und ließ ihn allein. Kurz darauf kam sie zurück, holte sich aus dem Kleiderschrank eine Jeans und zog sich um. Dabei wandte sie ihm ihren Rücken zu. Als er sie so, fast nackt, sah, erinnerte er sich urplötzlich an den Abend am Weißen Strand, als sie über einen schmalen Pfad zum Bungalow Nr. 74 gelaufen waren. Gerne würde er jetzt auf den Spaziergang verzichten, ließ sich aber nichts dergleichen anmerken. Er ging voraus, und Renate schloss hinter ihm die Haustür ab.

    Sie standen auf der Straße, die kein Trottoir besaß und mit Kopfsteinpflaster belegt war. Rechter Hand, so sagte sie, käme man nach circa einhundert Metern auf eine breite Straße. Zu Fuß könne sie dort alle notwendigen Geschäfte erreichen. Sie wandte sich nach links. Nach etwa fünfzig Metern erreichten sie eine mit roten Klinkersteinen verkleidete breite Treppe. Dahinter ein parkähnliches Gelände. In kurzer Entfernung erkannte er eine ebenfalls rote Klinkermauer mit einem schmiedeeisernen Tor. Darauf steuerte Renate jetzt zu. Als sie näherkamen, bemerkte Alexander, dass es sich um einen Friedhof handelte, der sich hinter dem Tor befand. Renate öffnete das Tor, ließ ihn eintreten und verschloss es wieder hinter ihm. Ohne eine Erklärung abzugeben, wandte sie sich nach links.

    Ein schöner Waldfriedhof, dachte Alexander. Eichen und Kiefern säumten den Weg. Bald erreichten sie einen Bereich mit offensichtlich sehr alten Grabstellen. Und dann erkannte er die Symbole, die ineinander verschlungenen Dreiecke. Dann das rot-weiße Trassierband mit der Aufschrift „Polizei. Renate steuerte auf einen großen Grabstein zu. Alexander verstand nun den Grund für das Polizeitrassierband: Hakenkreuze, SS-Runen und die Aufschrift „Juda verrecke! auf dem Grabstein für Daniel Rosenbaum.

    „Ich fragte mich, als ich hierher gerufen wurde, ob es nur Dummheit ist, dass sie den Toten wünschen, zu verrecken. Je länger ich jedoch darüber nachdenke, glaube ich, dass ihr verbrecherischer Wunsch den Lebenden gilt. Ja, es ist meine gegenwärtige Aufgabe, das herauszufinden. Ich arbeite an diesem Fall auch mit entsprechenden Stellen in Mecklenburg-Vorpommern zusammen, denn zeitgleich mit dem Anbringen dieser Schmierereien haben Neofaschisten im vorpommerschen Wolgast ein Denkmal für die Opfer des Faschismus sowie zahlreiche Gebäude mit diesen Symbolen beschmiert. Die Erfahrungen zeigen, dass es nicht bei den Drohungen bleibt. Denke daran, was deinem Vater in Wetzlar passiert ist. Das erste Mal, dachte Alexander, dass sie so konkret über ihre Arbeit spricht. Und noch etwas glaubte er in ihrer Stimme zu erkennen: eine Andeutung persönlicher Betroffenheit. Zunächst wortlos, wandte sich Renate um, strebte dem Friedhofsausgang zu. „Ich könnte jetzt ein Bier vertragen. Was hältst du von einem Norddeutschen in einer ebensolchen Kneipe?

    Alexander war einverstanden. Bald passierten sie das kleine, alte Haus in der Friedrichstraße, überquerten die breite Straße und gelangten in eine schmale Seitenstraße. Schon äußerlich erinnerte Alexander die Kneipe an ein englisches Pub. Das Haus aus roten Klinkersteinen gemauert, über dem Eingang ein Schild in schmiedeeiserner Einfassung. Renate schien schon öfter hier gewesen zu sein. Zielstrebig geleitete sie ihn in eine Ecke. Sofa und Sessel um einen kleinen Tisch. Die Polsterung des Sofas war schon ein wenig zerschlissen. Auf den Armlehnen schienen bereits die Schussfäden hindurch. Alles in allem eine gemütliche Atmosphäre. Das Publikum gemischt, Alte und Junge, eben, wie er es in englischen Pubs erlebt hatte. Renate bestellte für sie beide das Bier, das seiner Werbung gemäß „flenst".

    „So wie du vorhin über deinen Fall gesprochen hast, glaubte ich, in deiner Stimme eine persönliche Betroffenheit herausgehört zu haben."

    „Mein Großvater", begann Renate nach einer kurzen Pause, „war schon in den zwanziger Jahren der SA beigetreten. Er lebte damals in Berlin und war, wie viele andere, arbeitslos. Man hätte sich dort untereinander geholfen, erzählte er. Im sogenannten Sturmlokal hätten sie sich getroffen und Aktionen geplant. Die meisten von ihnen seien völlig mittellos gewesen. Trotzdem besaßen alle die SA-Uniform. Es habe geheißen, ein reicher SA-Führer hätte sie gespendet. Jeder SA-Sturm sei von einem solchen Paten, wie sie den nannten, betreut worden. Wenn sie dann zu einer Aktion aufgebrochen seien, waren die meisten schon angetrunken. Oft sei es in den ‚Roten Wedding‘ gegangen. Vor Ort hätten sie dann den Schulterriemen abgenommen. Der hatte an beiden Enden Karabinerhaken. In der Mitte zusammengelegt, die Schlaufe über das Handgelenk gestreift, ergab das eine Art Peitsche, an deren beider Enden sich nun die eisernen Karabinerhaken befanden. Damit hätten sie dann die Kommunisten und die Sozis, ohne lange zu fragen, ordentlich verprügelt. Und dann, und darauf war er besonders stolz, am 30. Januar 1933, habe er am großen Fackelzug durchs Brandenburger Tor teilgenommen. Sein Sturm hätte da schon aus über einhundert Mann bestanden. In Marschordnung seien sie marschiert, der Sturmbannführer an der Spitze. In regelmäßigen Abständen hatte dann der Sturmbannführer ‚Deutschland‘ gebrüllt, und aus über einhundert Kehlen ertönte ‚erwache‘. Darauf der Anführer ‚Juda‘ und wieder der Sturm ‚verrecke‘.

    Mein Großvater war einer von den vielen Unbelehrbaren. Noch kurz vor seinem Tode sagte er zu mir: ‚Renate, schau genau hin! Heute sitzt das Judenpack schon wieder an den Schaltstellen der Macht. Leider haben wir damals nicht alle erwischt.‘ Ich habe ihn nicht wieder besucht. Und heute, sechzig Jahre später, schmieren sie wieder Morddrohungen an Grabsteine und Hauswände. Ich habe mir vorgenommen, nicht zuzulassen, dass sie ihre Drohung noch einmal wahr machen können."

    Alexander war beeindruckt, hatte dem nichts hinzuzufügen. Eine Vorahnung überkam ihn. Er hatte ein seltsames Gefühl.

    Zwei

    Es war spät geworden, Mitternacht, als sie in das Haus in der Friedrichstraße zurückkehrten. Im Flur umarmten sie sich nun zum ersten Mal, seit Alexander angekommen war.

    „Lass uns ins Bett gehen, es war ein langer Tag. Erzähl mir noch ein wenig von dir und, sie zögerte, „von Peter.

    Alexander kam ihrer Bitte nach. Sie lagen nebeneinander, und Alexander dachte an die letzte Nacht, die sie zusammen in seiner Wohnung verbracht hatten. „Vielleicht" stand auf dem Zettel, den er auf ihrem Kopfkissen gefunden hatte, als Renate schon gegangen war. Dieses Vielleicht war nun eingetroffen, und er war froh darüber. Trotzdem mischte sich etwas Wehmut in seine Stimmung, denn er wusste, dass er nicht lange hierbleiben würde. Er fragte sich, und das nicht zum ersten Mal: Liebe ich sie, und könnte ich ihr das auch sagen? Die erste Frage konnte er, das gestand er sich ein, mit Ja beantworten. Bei der Zweiten war er sich nicht sicher. Oft schon, wenn sie zärtlich zueinander gewesen waren, kurz vor seinem Orgasmus, hatte er es beinahe gesagt. Damit stellte sich für ihn natürlich auch die Frage: Stimmt das denn, was ich zur ersten Frage denke? Kompliziert, dachte er und hatte keine Lust, jetzt weiter darüber nachzudenken. Sie hatte ihren Kopf in seine Armbeuge gelegt. Er lag halb auf der Seite, ihr zugewandt. Sie streichelten sich gegenseitig, synchron.

    „Hast du an Kondome gedacht?"

    „Nein."

    „Ich auch nicht."

    „Es gibt doch auch andere Möglichkeiten. Ich erinnere da an den Abend im Bungalow 74."

    „Gut, aber heute zuerst du mich, und dann ich dich."

    Später saßen sie nebeneinander, an die Wand gelehnt, ein Kissen im Rücken.

    „Du siehst, nichts im Leben lässt sich wiederholen."

    „Hast du gut geschlafen?", fragte sie ihn am anderen Morgen. Sie hatte schon die Fensterläden geöffnet, und so war es hell im Schlafzimmer.

    „Sehr gut, und du?"

    „Ich auch, aber jetzt habe ich Appetit auf ein Frühstück. Magst du Brötchen holen?"

    „Ja, natürlich."

    „Wenn du auf die Breite Straße kommst und etwa dreißig Meter nach links gehst, findest du eine Bäckerei. Inzwischen bereite ich hier alles andere vor."

    Wie schön sie ist, dachte er, als er später in die Küche kam und Renate dabei war, Kaffee in zwei Tassen zu gießen, die sie dann auf den Tisch stellte. „Wie schön du bist", sagte er.

    Renate lächelte ihn an. „Ich würde dir heute gerne ein wenig von der Umgebung Schleswigs zeigen. Meinen Nachbarn habe ich schon gefragt, der leiht dir ein Fahrrad aus."

    „Gut, von mir aus können wir gleich nach dem Frühstück losfahren."

    Sie räumten gemeinsam den Tisch ab und Renate holte eine Wanderkarte, die sie auf dem Tisch auseinanderfaltete.

    „Also, wir fahren am Schloss vorbei und weiter, zunächst entlang der B76. Kurz darauf biegen wir links nach Fahrendorf ab. Dort können wir eine Galerie besuchen." Jetzt schaute sie ihn fragend an.

    „Muss nicht sein, Renate, die Sonne scheint, und wir könnten vielleicht irgendwo zum Baden anhalten."

    „Gut, dann fahren wir weiter bis hier", sie deutete auf die

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