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Fatan - der liebenswerte Orient: eine große Liebe unter einem grausamen Regime
Fatan - der liebenswerte Orient: eine große Liebe unter einem grausamen Regime
Fatan - der liebenswerte Orient: eine große Liebe unter einem grausamen Regime
eBook301 Seiten4 Stunden

Fatan - der liebenswerte Orient: eine große Liebe unter einem grausamen Regime

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Über dieses E-Book

"Frauen, Leben, Freiheit" – die Schlagwörter wühlen auf. "Liebe" müsste noch hinzugefügt werden, die im Iran am meisten unterdrückt wird.

Wie hat es mit diesem wunderbaren Land so weit kommen können? – das schilderte mir die 17-jährige Fattaneh Mâllaha. Sie war 1987 nach Deutschland geflohen, musste aber bald wieder zurückkehren, um ihren Verlobten aus dem grausamsten Staatsgefängnis des Orients zu befreien: Evin.

Ein authentisches Abenteuer wie aus Tausendundeine Nacht. Wir lernen den Islam "von innen her" kennen. Fatans Innigkeit führt wie ein unterirdischer Strom zu einem Leseerlebnis, das stärker als ein Film sein kann. Denn"Islam" bedeutet wörtlich "Hingabe". Und das ist der Roman.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Juli 2023
ISBN9783347978850
Fatan - der liebenswerte Orient: eine große Liebe unter einem grausamen Regime
Autor

Heinz-Dieter Herbig

Heinz-Dieter Herbig, 1951 in Fleckeby/Schleswig-Holstein geboren, schrieb Hörspiele, Essays, „Mythos Tod“, „Die Exzessiven“, das Fernsehspiel „Zweimillionen suchen einen Vater", den Roman „Hitlers Nichte“; konträr dazu das Theaterstück „Herzilein – kein Volksstück“, das durch Lisa Fitz populär geworden ist und seit über fünfzehn Jahren in diversen Theatern, auch in Österreich und in der Schweiz, gespielt wird. Er lebt in Köln und entdeckt im höheren Alter immer mehr die unergründlichen Tiefen des Schreibens.

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    Buchvorschau

    Fatan - der liebenswerte Orient - Heinz-Dieter Herbig

    Erster Teil

    Noch war die Sonne über Isfahan nicht aufgegangen; noch lagen die türkisblauen Kuppeln der Moscheen blass in der Morgendämmerung. Da schlichen zwei dunkle Gestalten zu den beiden Minaretten Menār Jombān vom Mausoleum des Amu Abdollah Soqla.

    „So komm doch, so komm! flüsterte das Mädchen erregt, „das musst du erleben, sonst wirst du’s mir nicht glauben!

    Sie zog ihn in den linken Turm. Hintereinander huschten sie die enge Wendeltreppe hoch zu einem kleinen Raum, der vom Mond hellblau beleuchtet war. Hier umarmten und küssten sie sich …

    … und das Unglaubliche geschah: allmählich passte sich Menār Jombān – „der schwankende Turm" – ihren Bewegungen an. Er schaukelte das Paar in eine Leidenschaft hinein, die hierzulande streng verboten war. Gerade löste sie ihre Haare auf …

    Da fielen Schüsse. Im Nu war der Turm von pasdarans, den „Söldnern Gottes", (wie sie sich selber nannten) umzingelt. Sie wurden aus dem Turm gezerrt.

    „Dast-awiz! Dast-awiz!" schrie ein Soldat.

    Ali wehrte sich und wurde mit Gewehrkolben zusammengeschlagen.

    Nur Fatan konnte fliehen – während die Muezzins von den Minaretten aller schiitischen Länder herab riefen:

    „Ashâdu an la ilâhâ illâ llâh –

    Es gibt keinen Gott außer Gott,

    und Mohammed ist sein Prophet –

    und Ali sein einziger Erbe."

    I.

    1.

    Fatanneh floh mit ihrer Mutter am 17. Dezember 1983 über Pakistan nach Deutschland und landete in einem Kölner Asylantenheim: düster, dreckig, kalt und nass.

    „Fatan, ist das richtig, was wir tun?"

    „Das weiß ich nicht, Mama."

    Um Mitternacht, als ihre Mutter vor Erschöpfung eingeschlafen war, kniete die 17-jährige auf den feuchten Betonfußboden nieder und weinte. Durch ihre Tränen sah sie den schrägen Halbmond hinterm Fenstergitter und schrie ihn an, weil sie Gott in ihrer Angst und Wut nicht anschreien mochte (und auch nicht wusste, wo von hier aus Mekka lag). Bewegt der Mond die Meere nicht? Und scheint er nicht genauso mild in Teheran?

    „Mond", schrie sie auf persisch in die Nacht, „ich will nie mehr so alleine sein. Hörst du? Nie, nie wieder!"

    2.

    Am nächsten Morgen strolchte sie durchs vorweihnachtliche Köln. Tannenbäume, Lichterketten, Hektik und Gedränge auf den Weihnachtsmärkten. Fremd kam ihr die Welt im Westen vor. Sie hatte Hunger. Die Gerüche von Backfisch und Lebkuchen stiegen wie ein Schwindel bis ins Gehirn hinauf. Den Duft kannte sie: so roch’s auch im größten Bazâr Teherans, im Bâzâr-e-Bozorg.

    Es war kalt. Also huschte sie, um sich aufzuwärmen, in eine kleine Kapelle an der Kupfergasse und rieb sich dort erst einmal die Augen: War das Allahs Antwort auf ihr Mondgeschrei: eine schwarze Madonna aus Holz? War die Mutter Jesu eine Sklavin aus Nordafrika?

    „Hör zu, du Mutter von Isamasih!" – wie Jesus im Islam genannt wird (wo er nebst Moses und Abraham als Prophet verehrt wird) – „Was soll ich tun?" hoch schlug ihr Herz, da traute sie ihren Augen nicht: Bewegte die Barockfigur ihre Lippen?

    „Hol Hilfe!" meinte sie gehört zu haben. Oder war ihr nur der Hunger ins Gehirn gestiegen? Aber sie beschloss, dem unheimlichen Rat zu folgen – und fand schon bei ihrer Rückkehr ins Asylantenheim eine Hilfe vor.

    3.

    Klein, dick und verträumt mit treuen, lieben Augen hinter einer randlosen Brille – das war Bijani Narizami (der aus melodischen Gründen ein „i" an seinen Vornamen gehängt hat). Er war sofort in Fatanneh verknallt. Der Dolmetscher des Kölner Asylantenheims kam aus Yazd und glaubte an Ahura Mazda, den Gott vor allen Göttern – das Wesen der Welt aus Feuer, Licht und Luft; die Heilige Flamme, die vor über tausendfünfhundert Jahren in der Âtashkade in Yazd von Zarathustra entfacht worden war.

    Bijani besorgte den beiden Frauen eine kleine Wohnung im Belgischen Viertel und einen Job im Café Pomp auf der Lindenstraße. Zunächst spülte sie dort Tassen und Gläser und kehrte den alten, durchlatschten Parkettfußboden. Derweil brachte ihr Bijani die deutsche Sprache bei.

    „Züge, Fatan, sag mal: ‚Züge’."

    „Ssiege."

    „Zzzüüge!"

    „Ssssiege."

    Sie wird’s nie lernen, weil Umlaute im Persischen nicht vorkommen, auch X und Z dort selten sind und Konsonanten nicht so geknallt werden. Aber aus Fatans Mund klang die deutsche Sprache so geschmeidig wie Schuberts Ballettmusik.

    „Fatan, sag mal: König!"

    „Honig."

    „Lassen wir’s!"

    Immerhin verstand sie bald genug, um Bestellungen aufzunehmen und zu servieren. Im Nu verwandelte sie das Pomp in einen persischen Bazâr. All ihren Bewegungen schien eine gewisse Melancholie beigemischt, als zögere sie eine Sekunde, bevor sie zugriff oder ging – ein Schmelz in ihre Gesten wie eine leise Melodie auf einer Sitar.

    4.

    Nouruz kam. Am 1. Farwardin 1363 (für uns am 21. März 1984) wird das Neue Jahr in Persien eingeläutet. Bijani hatte die beiden Damen ins Apadana, ein Iranisches Restaurant auf dem Mauritiussteinweg, geladen – und war noch becircter von Fatanneh.

    Sie trug sowas wie einen sặri, ein enges, indisches Wickelgewand aus dunkelblauem Satin mit Silberfäden durchzogen; ihr krauses Haar hatte sie in den Nacken gebunden, wodurch die Züge ihres Gesichtes besonders deutlich hervortraten. Bijani hatte etwas auf dem Herzen. Er schwitzte. Er stotterte.

    „I…ich bin arm, dick und nichts auf dieser Welt, ich weiß. Aber Fatan, sieh mich jetzt bitte mal genauer an: Werde ich nicht schön und schlank, falls ich … reich werden sollte?"

    „Was sind das für dämliche Gedanken, Bijani?"

    „Die besten, die ich je hatte!" – jetzt sprudelte er vor Überzeugungskraft – „Diese verdammte Armut! Dieses: ‚ein heruntergekommener Perser in Deutschland’ sein. Alle sind besser gekleidet als ich. Alle bewegen sich eleganter. Alle sprechen flüssiger und fahren ein Auto. Ich kann dich in diesem Pomp nicht länger ertragen, Fatan. Ich … ich kann nicht mehr einschlafen, wenn ich fürchten muss, dass du …"

    Er hatte schon zuviel gesagt … und insbesondere nicht das, was er eigentlich sagen wollte. Nochmals sammelte er alle Flüssigkeit in seinem Mund. Schweißperlen rannen nun von seiner Stirn herab.

    „Fatan, wenn ich dich ansehe – insbesondere deinen Nasenrücken, der so glatt ist wie eine Rutschbahn in den Iran, oder deine Augen, die Rauschgift für meine Seele sind – dann … dann weiß ich, dass ich alles schaffen kann. Alles! Ich hole dich und deine Mutter aus dieser Lage raus. Ich … ich gebe dir Geld und …"

    „Nein."

    „Ich meine, ohne was dafür zu wollen und ohne, dass für dich daraus die geringste Verpflichtung entsteht."

    Jetzt schwitzte er am ganzen Körper.

    „Lieber Bijani! Das ist ja alles lieb von dir. Du bist überhaupt viel zu lieb, aber …"

    „Darf ich dir nicht wenigstens … dienen?"

    „Bijani, ich fühle alles, was ich fühle, für Ali. Und wenn ich an das Gefängnis in Teheran denke, dann …"

    „Du weißt doch überhaupt nicht, was das ist: Evin", unterbrach er sie barsch, weil plötzlich Ärger in ihm hochschoss, „Evin ist einer der grausamsten Staatsgefängnisse des Orients. Täglich wird da gefoltert und hingerichtet. Weißt du, ob dein Ali überhaupt noch lebt?"

    Das hätte er besser nicht gefragt.

    „Und da sitzen wir hier? rief Fatan verzweifelt aus und sprang auf, „da essen wir und … und tun nicht alles dafür, um meinen Ali zu retten? – sie schlug sich gegen die Stirn – „ich muss blind, taub und benebelt nach Köln geflohen sein. Ich schließe ihn täglich und nächtlich in meine Arme und flehe zu Gott, ihn mir heil und ganz und gesund zurückzugeben und … und tue nichts … um … um …"

    „Aber Kind, was willst du denn tun?" fragte die Mama bekümmert.

    „Wie heißt der deutsche Rechtsanwalt, den du kennst? Wo wohnt er?"

    „Dr. Robert Schermer" stotterte er so überrumpelt, dass es wie Drrobertschermer klang – „Aber du willst ihn doch jetzt nicht …"

    „Wo er wohnt, will ich wissen."

    „Fatan! Es ist zehn Uhr abends. Und wir haben Nouruz!"

    „Nicht für einen Ungläubigen. Also sag mir endlich, wo er wohnt."

    5.

    Gegenüber von St. Pantaleon, der ältesten Kirche Kölns, unterhielt Schermer seine Anwaltskanzlei – eine kleine Dreizimmerwohnung, die eher wie ein Budapester Caféhaus oder ein Antiquariat aus Existentialistenzeiten aussah. Hierhin lief Fatan in ihrem viel zu engen sặri

    … schellte – er öffnete, sie redete, „Sssiege, Honig", er staunte. Ein großer, schlanker Herr mit dünnen, dunkelblonden Haaren, einer faltigen Stirn, fülligen Lippen und ironischem Blick. 40 wird er wohl schon sein.

    Fatan setzte sich vor seinen unaufgeräumten Schreibtisch und … entfachte ein Feuerwerk aus Tausendundeine Nacht:

    „Iran ist nicht der Iran, wie er in euren Zeitungen steht, Herr Drrobertschermer. Tschadors, Auspeitschungen oder Fanatiker, die sich die Stirn aufritzen und blutend und grölend über Teherans Straßen laufen – das ist nicht der Iran, der unser Herz berührt. Das ist eine Hysterie, so … so wie Hitler eine Hysterie in Deutschland war. Iran ist so melodisch wie die persische Schrift, die in Wellen dahinfließt und übrigens in arabischer Manier von rechts nach links gelesen wird, also umgekehrt, Herr Drrobertschermer! Wussten Sie das? So muss man den Iran verstehen."

    „Dann drehen wir von jetzt ab einfach alles um …"

    „Genau! Und dann werden Sie sehen und einsehen: Wir sind Gottes Staat, Herr Rechtsanwalt. Aber warum hungern die Menschen in diesem Staat? Warum liegen unsere Felder brach? Warum ist aller Glanz aus Teherans Straßen verschwunden? Überall diese schrecklichen Porträts Chomeinis" – ihr standen Tränen in den Augen – „Dieser finstere Blick! Diese buschigen Augenbrauen! Wo ist der Bauchtanz? Wo ist die santur, unsere Musik? Wussten Sie, dass Ayatollah Chomeini die Musik verboten hat? – jetzt flossen die Tränen, schwarz vor Schminke, ihre Wangen herab – „Alle Cafés und Restaurants sind geschlossen! Alle Frauen wurden aus den führenden Berufen vertrieben. Alle Frauen wurden verschleiert. Was ist Gott für ein Gott, wenn er die Schönheit dieser Welt nicht mehr genießt? Wenn er uns nicht mehr genug zu essen gibt. Wenn der Staat seine Kinder auspeitscht, foltert und ganze Sippen zerreißt? Wo liegt unsere Schuld, wenn uns Gott so bestraft? Das müssen Sie herausfinden.

    „Ausgerechnet ich?" – der vom Iran nicht die geringste Ahnung hatte … Er gab ihr ein Papiertaschentuch; sie schnäuzte kräftig hinein und beruhigte sich ein wenig.

    „Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, sagte sie, um eine feste Stimme bemüht, „und werde dabei so ehrlich sein, wie ich noch nie in meinem Leben war. Damit Sie unsere Schuld herausfinden. Und wenn Sie sie rausgefunden haben, dann werden Sie auch Wege finden, um meinen Ali zu befreien.

    „Aber … wie soll ich denn … um alles in der Welt …"

    Weil sie Eindruck auf ihn gemacht hatte. Das spürte sie. Warum ihn also nicht ganz um den kleinen Finger wickeln? Das ist im Koran nicht ausdrücklich verboten. Schnell betete sie zu Ali – nicht ihrem Verlobten im Gefängnis, sondern zum Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten – ob sie mit dem Herzen eines Ungläubigen spielen und sich seine Schlauheit zunutze machen darf. Und die Antwort aus den Himmeln kam sofort: Ja, Fattaneh, das sind die Spiele des Lebens; darin bist du auch nur ein kreiselnder Federball. Aber vor Gott ist alles, was aus Liebe geschieht, erlaubt.

    „Sitzen Sie bequem? Haben Sie genügend Zigaretten im Haus? Brauchen Sie Bier, Kaffee, Whisky, Wein und womit ihr Ungläubigen sonst noch die Leere in eurem Herzen betäubt?"

    „Alles da! Erzählen Sie!"

    Und sie erzählte plötzlich mit ihrem „Sssssiege und „Honig, als käme eine Musik am Horizont Persiens auf, tief und melancholisch. Sie wuchs zum ersten Mal über sich hinaus im Glauben: Gott spricht jetzt aus meinem Mund. Sie legte soviel Seele in ihre Erzählung, als wäre sie Shêhêrezâd, die um ihr Leben erzählte, und als würden ihre Worte die Wirklichkeit verwandeln.

    „Aufgewachsen bin ich in einem Haus im Norden Teherans, im vornehmen Viertel Kharaj. Es sah wie ein Hexenhäuschen aus und hieß darum auch: Dari-Wari"

    „Und was bedeutet das?"

    „Unordnung. Chaos. Wir kriegten dieses Haus nie richtig rein. Aber der Garten davor hieß: pairi daēza."

    „… klingt ja fast wie ‚Paradies’ …"

    „Ein persisches Wort. Wussten Sie das? Überall blühte dort der wilde rheum-ribes.

    „Und was ist das?"

    „Sowas wie Rhabarber, riecht aber nach Veilchen. Im Sommer lebten meine Schwester Monêreh und ich fast nur darin. Wir machten dort unsere Schularbeiten und spielten dort und aßen dort zu Abend. Papi hatte uns zwei Schaukeln gebaut. Ihr müsst nur hoch genug schaukeln, sagte er, die Augen ganz fest zumachen und euch was wünschen – dann geschieht das auch."

    „Und wenn es nicht geschieht?"

    „… hast du nicht fest genug daran geglaubt."

    So einfach ist das.

    „Mein Papa, Mohâmad Mâllaha, war wie Sie ein Rechtsgelehrter – aber im Justizministerium des Shâhs – sie sagte das nicht ohne Stolz – „Er hatte in London und Lissabon europäisches und orientalisches Recht studiert. Wir waren reich – weil die ‚Weiße Revolution’ … (so genannt, weil vom Shâh verordnet und kein Blut geflossen war), „… eine Welle an Wohlstand ins Land gebracht hatte. Aber nur Wohlstand für den ‚Wohlstand’, wohlgemerkt! Das Elend auf den Straßen wuchs.

    Doch Dari-Wari blühte. Damals herrschte eine wunderbare Aufbruchstimmung im Haus. Papi war ständig gut gelaunt. Er liebte uns. Er war stolz auf uns. Alles war ein Kinderspiel. Bis Ali nach Dari-Wari kam.

    „Der Ali, der jetzt im Gefängnis sitzt?"

    „Er sollte meine Schwester heiraten. Er sah aus wie ein persischer Krieger: groß, schlank, schwarze Haare, glühende Augen – und eine Nase, so schmal und grade, persisch. Er studierte Architektur in Teheran und war der Sohn eines unbekannten Franzosen, der in der Wüste Lût verdurstet war. Er schwärmte für Ostad Ali Akbari-Isfahani, der die Scheich-Lotfollâh-Moschee in Isfahan gebaut hat. Kennen Sie ihn?"

    „Nein."

    „Ali wollte ganz Teheran neu aufbauen. Teheran ist verbaut, sagte er immer. Was habt ihr aus der Perle des Orients gemacht? Ali war das Musterbild von einem Schwiegersohn! Wenn er nur nicht solche Ansichten gehabt hätte …"

    „Welche Ansichten denn?"

    „Dass … dass der Shâh ein Mörder wär. Dass der Shâh Gefangene foltern lässt und unser Land an Amerika verhökert. Sie können sich vorstellen, wie Papi darauf reagierte."

    „Wie?"

    „Er warf ihn aus dem Haus."

    „Und Ihre Schwester?"

    „… traf ihn seitdem heimlich. Was auch eine Weile gut gelang. Bis Papi dahinter kam. Er tobte, brüllte; er schlug Monêreh und sperrte sie ins Haus. Und ihrem Bräutigam wollte er die SAVAK auf den Hals hetzen. Das war damals die Geheimpolizei des Shâhs. Da bekam ich eine Heidenangst."

    „Wieso Sie?"

    „Weil ich … ich … Ali liebte …"

    Prüfend sah sie ihn an, wieviel weibliche Wahrheit er vertrug. Nicht viel, wie jede Frau weiß.

    „Nun, wie man einen Schwager eben liebt …?"

    „Nein, wie man einen Mann liebt. Ich meine, ich war erst zwölf Jahre alt, aber total, total, total in ihn verknallt. Wenn ich den Kinderkoran aufschlug, sah ich Alis Lächeln zwischen den Zeilen. Und wenn ich abwusch, nickte mir Ali aus dem Abwaschwasser entgegen. Im Fernsehen sah ich lauter Alis. Ali war Ali, der Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten, geworden. Oh, Allah im Himmel: Ali war … Schia für mich geworden."

    Da hörte er zum ersten Mal dieses seltsame Wort, das ihn tief in den Iran hineinziehen sollte …

    „Was ist Schia?"

    „Der direkte Weg zu Gott."

    Er staunte. Er zweifelte …

    „Ich schlug den Koran willkürlich auf. ‚Was soll ich tun, Allah?’ – und lese in der 55. »Sura vom Allerbarmen«: ‚Willst du die Wohltaten deines Herrn verleugnen?’ Allah, oh Allah: Ali war meine Wohltat! Ali war mein ganzes Leben. Mehr war mir noch nie gegeben worden. Ich musste Ali warnen!"

    „Vor Ihrem Vater …"

    „Vor der SAVAK! Nachts bin ich im Tschador aus dem Haus geschlichen. Die Straßen Teherans waren zu dieser Zeit schon ziemlich unsicher. Revolution! hieß es überall. Nieder mit dem Shâh! Man hörte immer wieder Gewehrschüsse. Und die SAVAK war überall. Ich wusste, wo Ali wohnte. In der Firdusi-Avenue, nicht weit von der Britischen Botschaft entfernt, in einem edlen, alten Haus noch aus der ersten Reza-Pahlevi-Dynastie. Er machte die Tür auf. Und da hätten Sie sein Gesicht sehen sollen!

    ‚Was machst du denn hier?’

    ‚Dich warnen, Ali! Mein Vater …’

    Aber er legte nur seinen Zeigefinger auf meinen Mund und zog mich in sein Haus. Offenbar wusste er schon alles.

    ‚Und du hast dein Leben riskiert, nur um mich …?’

    Er streichelte meine Wangen. Verstehen Sie? Sowas hatte ich noch nie gespürt. Mein ganzer Körper war in Aufruhr. Ich wollte – verstehen Sie: in der Keuschheit eines wohlerzogenen Mädchens, das den Kinderkoran auswendig kannte –, dass er mir die Kleider runterreißt. Ich wollte sterben oder leben oder alles zugleich in seinen Armen. Ich wollte, dass er in die intimsten Zonen meines Lebens eindringt und dort platzt. Ich wollte eins mit ihm werden. Ich küsste seine Hände wie die Hände meines Wohltäters. Gott kann solche Gefühle nicht verbieten. Weil sie selber göttlich sind. Wir waren wie zwei Kinder auf seiner Matratze. Er in mir. Ich bei ihm. Und er gehörte mir, mir, mir ganz allein."

    Sie sah ihn an. Auch dieser Teil der weiblichen Wahrheit schien ihn nicht weiter zu erschüttern. Also weiter!

    „Da brach die Tür auf. Sechs Männer umstellten unser Bett. Sie zerrten uns heraus – ’Dast-awiz! Dast-awiz!’. Stellen Sie sich vor: Ich nackt vor sechs fremden Kerlen! Die SAVAK! Oh, ich lernte ihn hassen, unseren geliebten Shâh! Ich begriff, wogegen Revolution gemacht werden musste. Nieder mit der SAVAK! Nieder mit der Erlaubnis, in fremde Wohnungen eindringen zu dürfen! Sie schleppten uns in eine Geheimdienststelle, bei uns auch râr genannt: die Hölle. Und wie eine Hölle sah sie aus: finster, schmutzig, kalt. Ich fror. Ich schämte mich in Grund und Boden. Sie gaben mir nicht mal eine Decke. Und ihre ekelhaften Blicke! Sie fragten mich tausend Fragen, die ich alle nicht begriff. Kinderprostitution warfen sie schließlich Ali vor und sperrten ihn ins Gefängnis. Mich schickten sie nach Hause.

    Das war schlimmer als ein Gefängnis. Alle mieden mich. Ich war eine Aussätzige. Ich war der Speichel aus dem Rachen des Teufels. Man sperrte mich in mein Zimmer und öffnete die Tür nur, um Reis und Ziegenmilch hineinzuschieben. Ich war eine Hure. Gott hat mich verstoßen. Und ich wusste nicht, warum."

    Schweigen. Man hörte nur das Knipsen seines Feuerzeuges. Aber seinen Augen sah man an, dass die Leidenschaften des Orients nicht ohne Eindruck auf ihn blieben.

    „Und dann?" fragte er leise.

    „Ich habe mir den Kopf kahlrasiert und lange vor der Islamischen Revolution das Tschador übergestülpt. Ich ging nicht mehr zur Schule. Gott, wenn du mich so belohnst, dann will ich dich bestrafen. Sieh, ich blühe nicht mehr. Ich verwelke, bevor ich dir mein Leben schenken kann."

    „Und seitdem sind Sie nicht mehr …?

    „Ich bekam Privatstunden bei einer râhebe – so nennt man bei uns die Frauen, die ihr ganzes Leben Allah geweiht haben. Zugleich schrie mein Körper. Ich habe das noch nie erlebt. Mein Körper schrie nach Alis Händen. Ich wurde verrückt im Kopf. Ich betete nicht mehr. Ich weinte nicht mehr.

    Die Revolution brach aus. Schüsse auf den Straßen. Explosionen. Menschen schrien. Teheran brannte. Der Shâh floh aus dem Land. Ich habe noch im Fernsehen gesehen, wie er auf dem Flughafen Dowshan Tappeh weinte. Papa verlor seine Arbeit. Mama ihre Schönheit – die durch mich ohnehin schon einige Risse bekommen hatte. Sie litt unter mir. Und wir verloren Dari-Wari. Wir mussten in eine âlunak in der Vorstadt ziehen."

    „Was ist das?"

    „Eine Baracke aus Pressholz und Lappen, die keinen Keller hat. Wissen Sie, wie kalt die Winter in Teheran sind? Und wissen Sie, wie der Hunger deine Gedanken, deine Seele, Gut, Böse, ja Gott in dir auffressen kann? Wo warst du, Gott, als meine Mami von einem pasderan vergewaltigt wurde? Wo warst du, Gott, als sich mein Papa das Gesicht zerkratzte und einen seelischen Tod starb, weil sein Körper noch nicht sterben konnte? Wo ist Gott, wenn du hungerst, frierst und blutest? Der Druck im Bauch und die Flauheit in den Gliedern ist noch nicht einmal das Schlimmste. Dass du zum Tier wirst, ist so schlimm. Dass du in allen Menschen, die essen, den Teufel siehst. Dass du Gott nicht mehr kapierst. Meine Mami war von dem ‚Söldnern Gottes’ schwanger geworden. Meine Mami rammte sich ein Messer in den Bauch. Warum ließ Gott sie überleben? Warum lebten wir überhaupt noch?

    Ich war nicht mehr die Fatan, die Sie hier vor sich sehen und die zur Schwarzen Madonna betet. (Gott, wie tief bin ich hier schon gesunken!) Ich war … vielleicht mehr Fatan, als ich es jetzt bin und jemals war."

    Sie weinte – linste aber dabei durch die Tränen, wie ihre Geschichte auf ihn wirkte, und war beruhigt: Der Herr schien erschüttert. Oh, es geht noch weiter, du Ungläubiger, der noch nicht mal weiß, wer Allah ist. Wir haben den Tiefpunkt unserer Erzählung noch lange nicht erreicht.

    Er gab ihr wieder ein Papiertaschentuch. Sie dankte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verschmierte dabei hässlich ihre schöne Schminke.

    „Eines

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