Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ungesühnt
Ungesühnt
Ungesühnt
eBook300 Seiten4 Stunden

Ungesühnt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein Leben, das ich mir nie gewünscht habe.

Obwohl Chancery gerne auf den Kampf verzichten würde, kann sie den Mord an ihrer Mutter nicht ungesühnt lassen. Allerdings gilt unter Evianern das Recht der Stärkeren – und das ist unbestreitbar Judica. Kann Chancery die Wahrheit hinter dem Tod ihrer Mutter aufdecken und für Gerechtigkeit sorgen? Oder verirrt sie sich dabei ... und muss vielleicht sogar das Leben lassen?
SpracheDeutsch
HerausgeberTranscre8 OÜ
Erscheinungsdatum17. Nov. 2023
ISBN9789916737026
Ungesühnt

Ähnlich wie Ungesühnt

Titel in dieser Serie (4)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ungesühnt

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ungesühnt - Bridget E. Baker

    1

    GEGENWART

    Ich habe nie an Gott geglaubt. Mutter hat erwähnt, dass mein Vater viel von diesem Unsinn gehalten hat, aber ich bin dafür immer zu praktisch veranlagt gewesen. Außerdem haben Menschen die Bibel verfasst, also ist sie eine alles andere als zuverlässige Quelle. Deshalb interpretiere ich nichts hinein, als ich die Tür meines Zimmers zuschlage und von der Kante meines Bücherregals ausgerechnet die Bibel fällt. Es hätte genauso gut Die Kunst des Krieges , der Koran oder Quantenphysik sein können .

    Ich bücke mich, um sie aufzuheben und zurück an die leere Stelle zu packen. Allerdings erstarrt meine Hand über der aufgeschlagenen Seite. Es handelt sich um das erste Buch Mose, Kapitel 25. Nicht annähernd in der Mitte des Buchs, womit beim Aufprall viel eher zu rechnen gewesen wäre.

    31. Aber Jakob sprach: »Verkaufe mir zuvor deine Erstgeburt.«

    32. Esau antwortete: »Siehe, ich muss doch sterben; was soll mir da die Erstgeburt?«

    33. Jakob sprach: »So schwöre mir zuvor.« Und er schwor ihm und verkaufte so Jakob seine Erstgeburt.

    34. Da gab ihm Jakob Brot und das Linsengericht, und er aß und trank und stand auf und ging davon. So verachtete Esau seine Erstgeburt.

    Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Im Rahmen meines Unterrichts in Menschenkunde habe ich die gesamte Bibel gelesen. Die Passage ist mir nicht neu. Jakob und Esau sind auch nicht die einzigen Zwillinge in der Bibel. Aber in ihrer Tradition hatte Esau das Geburtsrecht auf seiner Seite. Als der ältere Zwilling würde er alles von ihrem Vater erben.

    Und er hat das für eine Schüssel Brei an Jakob verkauft.

    Ich hebe das Buch nicht auf. Stattdessen durchquere ich das Zimmer, sinke aufs Bett und stoße einen erstickten, gequälten Schrei in die Decke aus. Mit einer Hand umklammere ich die Kette mit der Acht unter meinem zerrissenen Hemd.

    Meine Mutter ist tot. Ich habe gegen meine Zwillingsschwester gekämpft und verloren. Schlimmer noch, ganz Alamecha hat mein Versagen bezeugt. Alle haben gesehen, wie ich den Klauen der Niederlage den sicher scheinenden Sieg entrissen habe – und ich habe ihn ihr vor aller Augen zurückgegeben.

    Warum habe ich das getan?

    Warum hat Esau es getan? So dringend kann er eine Schüssel voll Eintopf nicht gebraucht haben. An der Geschichte muss mehr dran sein. Aber die Zeile am Ende ist seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor darauf geachtet zu haben. Esau hat sein Geburtsrecht verabscheut. Was bedeutet das? Ich schließe die Augen und versuche, mich an meinen Unterricht in Menschenkunde zu erinnern.

    Im Alten Orient hatten traditionell alle Söhne ein Geburtsrecht – das Recht auf einen Anteil am Besitz des Vaters. Aber der Älteste bekam den doppelten Anteil oder so ähnlich. בָּזָה ist Hebräisch für »verachten«, glaube ich. Mein Lehrer hat zu mir gemeint, dass Esau mehr an seinem gegenwärtigen körperlichen Wohlbefinden gelegen hat als am geistlichen Segen, den ihm sein Geburtsrecht von Gott versprochen hat.

    Mittlerweile frage ich mich, ob ihm vielleicht der Gedanke widerstrebt hat, Vorstand des Haushalts zu sein. War ihm klar, dass er sich über jede einzelne Entscheidung den Kopf zerbrechen müsste? Dass er sich täglich die Sekunden penibel einteilen müsste? Dass ihn der ständige Stress der Perfektion auffressen würde? Wenn ihm das so sehr widerstrebt hat, war es für ihn vielleicht unausweichlich, für diese Schüssel Eintopf auf sein Geburtsrecht zu verzichten.

    Hat Esau es als das Beste empfunden, was er je getan hat?

    Falls ja, sind Menschen und Evianer vielleicht gar nicht so verschieden, wie man mir immer eingebläut hat. Meine Hände fangen an zu zittern, und zum ersten Mal in meinem Leben atme ich tief und wahrhaft unbekümmert ein. Mir kann egal sein, ob mein Herz rast und mein Gesichtsausdruck schwankt, oder ob meine Feinde gegen mich intrigieren, weil sie darin Schwäche sehen.

    Eine Zeitlang werde ich noch Chancerys Thronerbin sein, aber ihr Leben wird sich weiterentwickeln, und letztlich wird die Last Alamechas von mir abfallen.

    Mein Leben wird mir gehören.

    Zum ersten Mal seit meiner Geburt habe ich keine Ahnung, was ich in zehn Jahren oder auch nur in sechs Monaten machen werde. Ich lasse mich aufs Bett zurückfallen und schließe die Augen. Was macht Chancy eigentlich immer? Musik hören? Sich alberne Geschichten über unechte Menschen auf einem Fernsehbildschirm ansehen? Noch mehr öde Geschichten über das Leben von Menschen in Büchern lesen? Pah.

    So kann ich meine Zeit nicht verschwenden.

    Ein Klopfen an der Tür rettet mich davor, kopfüber in ein schwarzes Loch zu stürzen. Rasch setze ich mich auf und streife die blutverschmierte Hose ab. Ich hätte die letzten Minuten lieber duschen, statt auf meinem zuvor sauberen Bett liegen sollen. Wenigstens sind die Bezüge schwarz. Dadurch sieht man die Blutflecken nicht so deutlich.

    »Herein.«

    Die Tür öffnet sich einen Spalt. Roman steckt den Kopf um die Ecke. Der Blick seiner goldbraunen Augen sucht das Zimmer ab, als halte er Ausschau nach einer Bombe oder Landmine. Der Umgang mit mir hat ihn wohl für immer gezeichnet.

    Stöhnend sinke ich aufs Bett zurück. »Was willst du?«

    »Mich vergewissern, dass du noch lebst.« Als er grinst, heben sich seine großen weißen Zähne strahlend von seinem dunkelbraunen Teint und dem mahagonifarbenen Bart ab.

    Unwillkürlich zucke ich zusammen. »Ich lebe noch. Jetzt geh.«

    Roman kommt herein und schließt die Tür.

    Abrupt richte ich mich mit zu steifen Schultern auf. Ich zwinge mich, sie zu entspannen. »Du musst meinen Befehlen nach wie vor gehorchen. Ich bin immer noch Thronerbin.«

    Roman grinst. »Ja, Hoheit. Natürlich, Hoheit.« Er durchquert das Zimmer und setzt sich neben mich. »Ich dachte mir, du würdest die Neuigkeiten hören wollen.«

    »Welche Neuigkeiten?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

    »Deine Schwester ist auf und davon, hat niemandem gesagt, wohin, und hat Edam in ihrer Abwesenheit zum Prinzregenten ernannt. Besonders gut scheint er die Dinge nicht im Griff zu haben.«

    Sie hat ihn immer noch nicht zum Ehemann erklärt, was ich seltsam finde. Worauf wartet sie? Kann es sein, dass sie sich zurückhält, um meine Gefühle zu schonen? Falls ja, ist sie noch idiotischer, als ich dachte. »Ist das alles?«

    »Das ist alles.«

    »Dann kannst du jetzt gehen.«

    »Ich denke, ich bleibe noch ein bisschen.« Er verlagert die Haltung so, dass er mein Gesicht sehen kann, während er neben mir sitzt.

    »Ich habe verloren.« Die Worte platzen wie ein Schutzschild aus mir hervor. Halt dich zurück, Roman. Ich bin gerade nicht in Stimmung für dich.

    »Habe ich gesehen.«

    »Ich weiß, dass du es gesehen hast«, raune ich knurrend. »Mich interessiert nur, was du hier verloren hast. Ich will mit niemandem reden. Habe ich mich unklar ausgedrückt?«

    »Was du willst und was du brauchst, ist nicht immer dasselbe«, erwidert er.

    Ich verdrehe die Augen. »Danke, Gandhi. Sosehr ich deine abgesonderten Perlen der Weisheit schätze, weder will noch brauche ich dich gerade in meinem Zimmer.«

    Roman legt mir einen Arm um die Schultern und zieht mich an seine Brust. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm das Messer von meinem Nachttisch zwischen die Rippen zu rammen. Oder vielleicht würde ihn ein satter Schlag in den Solarplexus daran erinnern, dass ich immer noch seine Befehlshaberin bin, auch nachdem ich gegen meine erbärmliche Schwester verloren habe. Aber ich verzichte auf beides. Stattdessen spüre ich, wie etwas in meiner Brust zu zerspringen scheint, und ich sacke schluchzend an ihn.

    Wie sehr muss er mich hassen, dass er mich dazu bringt, an seiner herrlich definierten Brust zu weinen? Ist mir kein Funken Stolz mehr vergönnt? Sosehr ich mich von ihm zurückziehen will, ich schaffe es nicht. Eine ganze Weile nicht. Meine Tränen vermischen sich mit dem getrockneten Blut in meinem Gesicht, an meinem Hals und auf meinem Shirt. Auch auf den Kragen seines Polohemds spritzen sie. Der Anblick der dicken, roten, blutigen Tropfen, die auf den Stoff fallen, reißt mich aus meiner vorübergehenden Verzweiflung. Ich kralle die Hände in sein Polohemd und atme tief durch.

    Schließlich höre ich auf zu weinen und wische das Gesicht an der eigenen Schulter ab.

    »Tut mir leid«, sage ich.

    Romans Züge werden verschlossen. »Ich beschütze und diene. Jetzt und für immer.«

    Er ist immer mein hingebungsvollster Wächter gewesen. Ich sollte nicht so streng mit ihm sein. »Mir ist klar, dass der Tag heute peinlich für dich war«, sage ich. »Das tut mir ebenso leid, wie dass ich gerade vor dir zusammengebrochen bin.«

    Roman springt auf. »Du warst da draußen drei Sekunden lang völlig neben der Spur, Judica. Hast die Deckung fallen lassen. Du hast Chancery als Person betrachtet, dich zurückgenommen. Ich dachte, du wärst vielleicht …«

    Was? Weich geworden? Am liebsten würde ich etwas zerfetzen. »Ich habe mich zurückgenommen?«

    »Ja. Du hättest sie mehr als einmal erledigen können. Hast du aber nicht. Du hast sie gewinnen lassen. Da dachte ich …« Roman wirbelt herum, starrt an die Wand, die Hände zu Fäusten geballt, die Rückenmuskeln angespannt.

    »Was dachtest du? Dass ich mich in jeder Hinsicht geändert hätte?« Ich stehe auf. »Und das hat dich mit Hoffnung erfüllt. Verabscheuen mich wirklich alle so sehr?« Eigentlich will ich wissen, ob er mich so sehr verabscheut. Bei Edam weiß ich es, aber Roman ist seit einem Jahrzehnt mein bester Freund. Wenn auch er mich hasst, weiß ich nicht, was das bedeutet.

    »Du weißt, dass ich dich nicht verabscheue«, sagt Roman. Aber er dreht sich nicht um. Er meidet meinen Blick.

    »Bist du enttäuscht?«, frage ich. »Dass du immer noch Leiter der Leibgarde der Thronerbin bist?«

    Roman dreht sich so schnell zu mir um, dass ich zurückstolpere, gegen das Bett stoße und um ein Haar zurück auf die Matratze plumpse. »Nichts an dir enttäuscht mich je. Wie kannst du das nicht wissen?«

    Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ich weiß, dass du mich unterstützt. Das hast du immer, und ich weiß es zu schätzen. Auch wenn ich es nicht oft genug sage.«

    »Tatsächlich hast du es noch nie gesagt.«

    Trotzig recke ich das Kinn vor. »Na ja, dann sage ich es dir jetzt. Danke, dass du immer für mich da bist.«

    »Ich will nicht als dein Leibwächter hier sein.« Roman gibt einen erstickten Laut von sich.

    Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Du willst kündigen? Wieso? Weil ich verloren habe?« Dabei hat er gerade gesagt, dass er mich immer unterstützen wird.

    Mit mahlendem Kiefer schüttelt er den Kopf. »Du bist die wahrscheinlich begabteste Strategin, die mir je untergekommen ist. Meistens kann ich dir erst folgen, wenn ich deine Worte eine Weile analysiert habe. Du bist immer allen drei Schritte voraus und zeigst nie Gnade. Wie kannst du dabei so begriffsstutzig sein?«

    »Wobei?«

    »Ich bin in dich verliebt, Judica. Seit etlichen Jahren. Und ich gebe nicht auf. Das werde ich nie. Aber es ist an der Zeit, dass du es weißt. Ich hab’s nämlich satt, dir beim Flirten mit Edam oder Havel oder Xander oder sonst wem zuzusehen.«

    Ich wusste, dass Roman mein Ehemann werden wollte. Ich wusste auch, dass er herrschen wollte. Natürlich wollte er das. Das wollen sie alle. Ich wusste sogar, dass er mich respektiert und stets unfehlbar loyal gewesen ist. Aber niemand liebt mich. Nicht wirklich. Ich bin grausam, gnadenlos, intensiv. Edam ist bei der erstbesten Gelegenheit geflohen.

    Ich kann ihm nicht mal einen Vorwurf daraus machen.

    Niemand will eine grüne Mamba küssen. Niemand träumt davon, mit einer Tigerin zu kuscheln.

    »Hast du nichts zu sagen?«, fragt Roman.

    Ich öffne den Mund, doch es dringen keine Worte heraus.

    »Damit habe ich irgendwie gerechnet. Schmerzt trotzdem mehr, als ich dachte.« Er schluckt und nickt mir zu. »Tja, dann will ich dich nicht länger aufhalten, Hoheit. Ich bin draußen, falls du was brauchst.«

    Nachdem er die Tür geschlossen hat, bewege ich mich wie ein Roboter ins Badezimmer. Ich werfe meine blutigen Lumpen auf einen Haufen, wasche unter der Dusche den Dreck von mir ab und beobachte, wie das rötliche Wasser um den Abfluss kreist, bevor es verschwindet. Manchmal wünsche ich mir, meine Zweifel, meine Wut und mein Kummer ließen sich genauso einfach wegspülen.

    Jedes Mal, wenn ich die Lider schließe, taucht Romans Gesicht in meinen Gedanken auf. Die goldenen Augen traurig, die Gefühle deutlich darin erkennbar.

    Ich belüge mich selbst. Natürlich weiß ich schon lange, dass sich Roman in mich verliebt hat. Und eine Zeit lang dachte ich womöglich … vielleicht … aber es ist nie eine echte Möglichkeit gewesen. Nicht für mich.

    Weil ich als Strategin besser bin. Und als Kämpferin. In Linguistik bin ich ihm haushoch überlegen. Er hat nicht genug zu bieten, um mein Ehemann zu werden, und daran wird sich nichts ändern. Bei dem Gedanken fällt es mir zwar schwer, zu atmen, nur ändert das nichts an den Tatsachen. Nicht das Geringste.

    Nachdem ich weitere unerwünschte Tränen weggewischt habe, ziehe ich mich rasch an. Ich kann mich nicht in meinem Zimmer verkriechen. Keine Ahnung, was ich stattdessen tun sollte, aber zumindest irgendetwas. Alles, außer mich verstecken.

    Ein Klopfen an der Tür lässt mir das Herz abrupt bis in den Hals schlagen. Ich atme erst einmal durch, dann ein zweites Mal. Auf keinen Fall darf ich Roman merken lassen, dass seine Erklärung etwas in mir bewirkt. Sobald ich mich wieder unter Kontrolle habe, sage ich: »Herein.«

    Als Angel mit einem Tablett eintritt, fühle ich mich seltsam ernüchtert. Nicht, weil ich Roman sehen wollte. Ich werde nie mit ihm zusammen sein können. Und nach seinen offenen Worten an mich ist etwas Abstand wahrscheinlich eine gute Idee. Trotzdem bin ich nicht völlig verblendet. Also gestehe ich mir ein, dass ich insgeheim enttäuscht bin.

    In Wirklichkeit wollte ich ihn sehr wohl sehen. Das will ich ständig.

    »Ich nehme an, Ihr seid am Verhungern, Hoheit«, sagt Angel.

    Normalerweise bringt sie das Essen nicht selbst. »Bist du jetzt unter die Dienstmädchen gegangen?«

    Angel neigt den Kopf. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Euch gutgeht. Nach dem heutigen Tag. Aber eigentlich nach den letzten anderthalb Wochen.«

    Seit Angel wieder frei ist, herrscht eine eigenartige Atmosphäre zwischen uns. Aber ich musste wissen, ob sie Mutter getötet hat. Vermutlich wird sie mir meine Drohungen und den auf sie ausgeübten Druck nie verzeihen. Obwohl sie den Grund versteht. Wenn ihn jemand versteht, dann sie. Trotzdem bereue ich nichts davon. Ich bereue nie, was ich an schrecklichen Dingen tun muss, um die Familie zu schützen. Was zählt, ist Alamecha. Und Alamecha besteht aus mehr als einer Person.

    »Es geht mir gut«, sage ich.

    »Ihr müsst essen. Bei so viel Regeneration, wie Euer Körper geleistet hat, müsst Ihr völlig ausgehungert sein.«

    Es gelingt mir nicht zu verhindern, dass ich die Stirn in Falten lege. Sie reibt mir praktisch unter die Nase, wie viele Treffer Chancery bei mir gelandet hat. Aber ich glaube, sie meint es nur gut. Und der Duft, der mir vom Tablett entgegenweht, ist himmlisch. Angel ist nicht umsonst seit Jahrhunderten die Chefköchin der mächtigsten Person der Welt. Die Frau kann wirklich kochen.

    »Tikka Masala, Naan, Wassermelone und Himbeerkuchen mit brauner Butter«, sage ich. »Alle meine Lieblingsgerichte. Womit hab ich das verdient?«

    Angel stellt das Tablett auf meinem Schreibtisch ab. »Du bist mir seit deiner Geburt lieb und teuer«, wechselt sie zu vertraulichem Umgang. Ihr Blick wird sanft. »Genau, wie es deine Mutter war.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich wollte dir zeigen, dass ich dir die Verdächtigung nicht übelnehme. Aber ich hätte deiner Mutter nie auch nur ein Haar gekrümmt. Ich lebe dafür, Alamecha zu dienen, und deine Mutter war die Verkörperung der Familie. Und weißt du, Judica, du bist ihr kleines Ebenbild.«

    Ja, weiß ich. »Danke.«

    »Sie wäre sehr stolz darauf, wie du und Chancery euch heute verhalten habt. Sie hat euch beide geliebt. Und du hast eine schwere Entscheidung getroffen. Aber ich denke, es war die richtige.«

    Meine Nasenflügel blähen sich, doch es gelingt mir, meinen Herzschlag konstant zu halten und keine Miene zu verziehen. »Ich weiß die Unterstützung zu schätzen.« Und jetzt raus aus meinem Zimmer.

    Als sie geht, knalle ich die Tür nicht zu. Tatsächlich bin ich erleichtert, die erste der hämischen Gratulanten bewältigt zu haben. Angel wird nicht die Letzte bleiben. Vielleicht ist Chancery in Wirklichkeit teuflischer, als ich ihr zutraue. Mit diesem unsinnigen Verschonen des Lebens hat sie mich schlimmer bestraft, als es ihr möglich gewesen wäre, wenn sie mich getötet hätte.

    Ich lasse mich auf dem Schreibtischstuhl nieder und atme die Aromen ein, die ich so mag. Unwillkürlich erinnere ich mich daran, wie Mutter mir zum ersten Mal Tikka Masala serviert hat –, warm, herzhaft, mit dem würzigen Nachgeschmack von Jogurt. Aber auf keinen Fall werde ich zweimal an einem Tag weinen. Ich schaufle mir einen großen Happen in den Mund, um das Schluchzen abzuwehren, das aus mir hervorzubrechen droht. Die Aromen explodieren auf meiner Zunge. Sie lösen Erinnerungen an die gemeinsamen Essen mit meiner Mutter aus, die ich unbewusst blockiert hatte.

    Ich schäume immer noch vor Wut darüber, dass sie mich verlassen hat.

    Gierig verschlinge ich das Essen, bis nur der braune Butterkuchen übrig ist. Die Kruste ist eine Mischung aus bissfest und knusprig, die ich schon mehrmals erfolglos versucht habe, nachzuahmen. Der Kuchen ist noch so warm, dass die Vanille-Eiscreme schmilzt, die ich darauf platziere. Die Kombination ist so lecker, dass ich den Unterschied erst beim letzten Bissen wahrnehme.

    Da ist ein leichter metallischer Nachgeschmack.

    Als ich aufspringen will, funktioniert mein Körper nicht richtig. Meine Arme fühlen sich schwer an, so schwer. Ich sehe verschwommen. »Roman«, rufe ich. Allerdings dringt es mehr wie ein Krächzen als wie ein Schrei aus mir. Ich lege steife Finger um die Tischkante und stemme mich in aufrechte Haltung.

    Dann jedoch knicken meine verräterischen Knie ein, und ich breche auf den Boden zusammen. Meine Augen konzentrieren sich auf nichts, ich kann nur trüb den Flor meines Teppichs sehen. Ich frage mich, ob der Boden vor ihr auch das Letzte war, was Mutter gesehen hat. Ein Anflug von Angst um Chancery überrascht mich, denn wenn jemand sowohl Mutter als auch mich ausgeschaltet hat, ist sie mit Sicherheit die Nächste.

    Als die Welt schwarz wird, denke ich an Mutters Gesicht. Wo auch immer wir nach unserem Tod landen, ich hoffe, Mama erwartet mich dort. Ich schließe die trockenen, schmerzenden Augen, bereit, es herauszufinden.

    2

    VERGANGENHEIT

    »D u riechst etwas Fruchtiges, obwohl in deinem Essen keine Frucht ist«, sagt Mutter.

    »Das könnte eines von zwölf Giften sein«, erwidere ich. »Nitrile, Isopropylalkohol, Ketoazidose, Lack, Ethanol, Isopropanol, Chloroform, Trichlorethan, Paraldehyd, Chloralhydrat, Methylbromid oder Nitrite.«

    »Ein muffiger Geruch nach Fisch oder roher Leber.«

    »Könnte Zinkphosphid, Aluminiumphosphid oder Nickelcarbonyl sein, allesamt schlimmer, weil sie stärker sind.«

    »Minzgeruch«, sagt sie.

    »Menthol, wenn die Dosierung zu stark ist, oder Methylsalicylat.«

    »Heu.«

    »Das ist einfach. Phosgen.«

    »Pfeffer«, folgt als Nächstes.

    »Tränengas, aber das wäre so stark, dass ich es nicht essen würde.« Ich lache.

    »Faule Eier«, sagt Mutter.

    »Schwefelwasserstoff, Schwefelkohlenstoff, Mercaptane oder Disulfiram.«

    »Du hast N-Acetylcystein ausgelassen«, merkt sie an.

    »Das ist ein Gegenmittel«, erwidere ich.

    »Ein Gegenmittel, das nach faulen Eiern riecht.«

    »Warum sollte jemand ein Gegengift in mein Essen mischen?«, frage ich.

    Mutter lächelt. »Du lernst.« Sie bewegt eine Figur auf dem Schachbrett.

    Nach meinem Gegenzug schaut sie skeptisch drein. »Oh-oh.«

    »Was hast du falsch gemacht?«, fragt mich Mutter.

    Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich Figuren auf dem schwarz-weißen Marmorschachbrett vor mir. »Ich habe die Springer nicht benutzt.«

    »Und du hast die Königin für einen Bauern geopfert.« Mutter legt die Stirn in Falten. »Du kennst die Grundstruktur der Bauern, und du hast dir die Techniken für Manöver eingeprägt. Aber das reicht nicht. Du musst daran denken, worauf ich abziele, und dir überlegen, wie ich angreifen könnte, auch wenn du abgelenkt bist. Vielleicht sogar vor allem, wenn du abgelenkt bist.« Mutter zeigt auf das Spielbrett. »Siehst du, wie ich dich hier und hier festgenagelt habe? Springer eignen sich dafür am besten. Das weißt du bereits. Also handle dementsprechend und spiel auf Verteidigung.«

    Ich lasse den Kopf hängen. »Tut mir leid.«

    »Das muss es nicht«, sagt Mutter. »Mach es einfach besser. Scheitern ist eine Entscheidung, Judica, und bei dir akzeptiere ich sie nicht.«

    »Ja, Mutter.«

    »Es ist nämlich eine Entscheidung, die sich als fatal erweisen kann.«

    »Ich weiß, Mutter. Danke.«

    Hinter uns knarrt eine Tür, und ich schaue auf. Mutters beste Freundin Lyssa steht mit untypisch ernster Miene am Eingang. Mutter steht auf und zeigt auf das Spielbrett. »Bereite es für noch eine Partie vor. Ich bin gleich wieder da, dann spielen wir weiter.«

    Als ich die Figuren an ihre Plätze schiebe, stoße ich versehentlich eine zu Boden. Ich bücke mich, um sie aufzuheben. Dabei bemerke ich, dass Mutter ihr Notizbuch fallen gelassen hat. Sie braucht es vielleicht. Ich schnappe es mir und eile zur Tür, durch die sie zum

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1