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Enttäuscht
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eBook521 Seiten7 Stunden

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Über dieses E-Book

FAMILIENMITGLIEDER KÖNNEN DIE BESTEN VERBÜNDETEN SEIN – ODER DIE SCHLIMMSTEN FEINDE. DIE SAGA GEHT WEITER IM DRITTEN BUCH DER BIRTHRIGHT-SERIE VON BRIDGET E. BAKER, IN DER VERTRAUEN DIE ULTIMATIVE POLITISCHE WAFFE IST.

Akzeptiere die Welt, wie sie ist …

Nur wenige Tage vor ihrem achtzehnten Geburtstag hat Chancery Alamecha größere Sorgen als die Auswahl der Blumendekoration für ihre Feier. Sie ist dem Mörder ihrer Mutter noch immer nicht auf die Spur gekommen. Ihre Zwillingsschwester ist verschwunden, ihr Verbleib unbekannt. Und sie ist die neue Herrscherin eines Imperiums – mit Fähigkeiten, die sie bislang nicht beherrscht.

Oder tu etwas, um sie zu ändern …

Als ihre erste Handlung als barmherzige Königin auf Widerstand stößt, wird Chancery klar, dass ihre Mission, die Welt zu verbessern, schwieriger sein wird als erwartet. Sie wird an mehreren Fronten angegriffen, Misstrauen schwelt in ihren Reihen und die Liste ihrer Verbündeten wird von Tag zu Tag kürzer.

Doch um die Familien von Evian zu vereinen und die Kontrolle über fünf machtvolle Ringe zu erlangen, führt der direkteste Weg zum Frieden möglicherweise über den Krieg …
SpracheDeutsch
HerausgeberTranscre8 OÜ
Erscheinungsdatum8. Apr. 2024
ISBN9789916737811
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    Buchvorschau

    Enttäuscht - Bridget E. Baker

    1

    Heute in einer Woche werde ich achtzehn Jahre alt.

    Vor sechs Monaten hat mich meine Mutter gnadenlos verspottet, als ich darauf bestand, dass ich 'Stargazer-Lilien' für die Party wollte. Aber sie konnte mich nicht umstimmen, egal, wie viele exotische Optionen sie auch vorschlug. Ihre Enttäuschung über meinen langweiligen Blumengeschmack war nichts im Vergleich zu dem Gesicht, das sie machte, als ich ihr sagte, ich wolle Hüpfburgen. Ich fand es lustig und ironisch, dass es auf meiner Party Dinge geben sollte, die eigentlich für kleine Kinder reserviert waren, wo ich doch mit achtzehn Jahren nun endlich zu den Erwachsenen gehörte.

    Sie und ich haben Stunden damit verbracht, diese Party zu planen, und sie hätte episch werden sollen. Die ersten zwei Stunden sollten elegant, schick und bezaubernd sein, doch dann sollten die Hüpfburgen, die Zuckerwattestände und die Zuckerwatte zum Vorschein kommen und alle würden ihre Ballkleider ablegen, um richtig Spaß zu haben. Bei all dem Schrecklichen, das in letzter Zeit passiert ist, sollte ich mich auf eine Party freuen, vor allem auf eine, die so skurril und anders ist.

    Doch ich bin es nicht.

    Denn vor einer Woche, an ihrem neunhundertsten Geburtstag, wurde meine Mutter ermordet. Als ihre frühere Haushälterin Larena, die jetzt meine Haushälterin ist, den Konferenzraum mit Tortenmustern und Dutzenden von neuen Blumen in Vasen betritt, übe ich die beruhigenden Atemtechniken, die Mama mir beigebracht hat.

    Ich will überhaupt keine Party zu meinem achtzehnten Geburtstag. Wir können auf keinen Fall die Dinge tun, die Mama und ich geplant haben, nicht für eine Herrscherin. Das ist viel, viel zu kindisch. Das sehe sogar ich ein. Die Vorstellung, jetzt irgendetwas zu feiern, ist mir ein Graus. Mom wurde noch nicht einmal beerdigt.

    Als Larena die Arme weit ausbreitet und den Mitarbeitern signalisiert, den Kuchen auf den Konferenzraumtisch zu stellen, schließe ich die Augen und schüttle den Kopf.

    »Bevor Ihr mich rauswerft«, sagt Larena, »hört mir ganz genau zu. Eure Mutter und ich haben schon vor Wochen alle Details ausgearbeitet. Ich habe, wie Ihr verlangt habt, alle Komponenten des zweiten Teils gestrichen, aber es bleibt immer noch eine wunderbare Party übrig. Alles, was noch fehlt, ist die endgültige Auswahl der Blumen und des Kuchens.« Sie räuspert sich. »Es geht nicht nur um Euch. Die Leute brauchen etwas, auf das sie sich freuen können, nach allem, was sie durchgemacht haben.«

    Alles, was sie durchgemacht haben? Mein ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt worden. Und in Brand gesetzt. Ich sollte jetzt eigentlich fröhlich sein und mich mit meiner Mutter darüber streiten, dass ich unbedingt Stargazer-Lilien für meine Feier wollte. Sie sollte mir eigentlich gerade erklären, dass die meisten Menschen Schokoladenkuchen oder Vanillekuchen bevorzugen und dass ich der einzige Mensch bin, der einen Orangenkuchen mit Schokoladenglasur tatsächlich mag.

    Ich sollte meine Geburtstagsparty nicht umplanen müssen, während ich ihre Beerdigung vorbereite.

    Ich kann die Worte kaum aussprechen. »Sag alles ab.«

    Larenas Lippen verengen sich und sie seufzt langsam. »Ich glaube, das ist ein Fehler.«

    »Warum?«, will ich wissen. »Judica ist weg, also ist die Party nur für mich. Wenn ich nichts zu feiern habe, warum sollte ich es dann tun?«

    Larena schürzt ihre Lippen. »Wenn Ihr Euch keine Sorgen um die allgemeine Moral macht, bedenke Folgendes. Eure Mutter wäre enttäuscht, wenn Ihr Eure Existenz nicht feiern würdest. Ihr ganzes Leben hat sich verändert, als Ihr in ihr Leben getreten seid.«

    Ich habe ihr ganzes Leben zerstört. Das ist es, was sie eigentlich meint. Dank ihrer Entscheidung, mich zu behalten, wurde ihre einstige Erbin ins Exil geschickt. Dank mir musste sie ein Gefecht nach dem anderen bestreiten. Weil sie mich behalten hat, musste sie ihre beste Freundin hinrichten. Mein Leben war vom ersten Tag an ein Fehler, und dank eines kosmischen Zufalls werde ich nun an ihrer Stelle zur Herrscherin gekrönt.

    »Gut«, lenke ich ein. »Dann schmeiß eben eine Party. Ich werde sogar hingehen, aber es ist mir egal, was du für die Dekoration aussuchst, und ich werde nicht über den Kuchen diskutieren. Nimm eine einfache Schokoladentorte, denn es geht eindeutig nicht um mich.«

    Vielleicht sollte ich die Dekoration für die gesamte Party schwarz halten. Meine Zwillingsschwester Judica ist entweder tot oder sie taucht irgendwann auf, um mich anzugreifen, und ich werde wahrscheinlich nicht wissen, was von beiden es nun ist, bis ich entweder von einer Atombombe in Stücke gerissen werde oder über ihre Leiche stolpere. Eine Welle der Erschöpfung überrollt mich. Ich bin nicht müde, aber ich bin so erschöpft von diesem neuen Leben.

    Wie aufs Stichwort schlendert Noah in den Raum und mustert meinen hageren Gesichtsausdruck. »Du siehst übel aus.«

    »Du solltest nicht so mit der Königin sprechen«, schnauzt Larena ihn an.

    »Oh, Entschuldigung. Du siehst nicht gerade heiß aus, Prinzessin.« Noah zwinkert mir zu. »Nicht gut geschlafen?«

    Ich rolle mit den Augen. »Wahrscheinlich habe ich nicht genug geschlafen, aber mir geht es gut, wirklich.«

    Noah nimmt am Ende des Tisches Platz. »Sind das Snacks für das Treffen?« Er nimmt eine Gabel in die Hand. »Weil ich Kuchen liebe.«

    Er ist so vergesslich, dass er nicht einmal eine Kuchenverkostung erkennt. »Klar«, sage ich. »Das sind sie ja auch. Warum probierst du nicht den dunklen?«

    »Schokolade? Das finde ich doch etwas langweilig«, meint er.

    Ich schüttele den Kopf. »Siehst du die kleine Chilischote da oben? Das ist Schoko-Chili-Kuchen« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Dein Mund wird eine Stunde lang brennen.«

    »Sehr lustig, Prinzessin, aber jetzt hast du das Geheimnis verraten. Du hast deine Chance verpasst, mich zu verarschen.«

    »Ihn zu verarschen?«, fragt Larena.

    »Wisst ihr was?«, frage ich. »Mir ist eine Lösung eingefallen. Noah, ich übertrage dir die Verantwortung für alle Details meiner Geburtstagsparty nächste Woche. Du arbeitest mit Larena zusammen und kümmerst dich um alles, was sie sonst noch braucht.«

    »Die Prinzessin weiß, dass ich krasse Feten schmeiße.«

    Larenas Nasenflügel blähen sich auf. »Vielleicht können wir damit anfangen, dass wir unter keinen Umständen die Worte ‚Krass‘ oder ‚Fete‘ benutzen.«

    »Oh.« Noah faltet seine Hände ordentlich vor sich. »Das ist also die Art von Party.«

    Ich schüttle den Kopf. »Wenn ich schon eine Party haben muss, dann will ich keine ausgefallene.« Ich denke an die Eisskulpturen, essbaren Heliumballons und Schokobrunnen auf Moms Party vor nicht allzu langer Zeit. So etwas ertrage ich einfach nicht.

    »Dann also eine geile Fete«, sagt Noah. »Verrate mir eins, Boss. Hast du irgendwelche Kontakte für elektrische Bullen?«

    Ich schnaube. »Nicht ganz so wild. Eher eine Mischung aus den Gartenpartys deiner Mutter und der, die du nach dem Leichtathletikwettkampf geschmissen hast.«

    »Das lässt sich einrichten.« Er wendet sich an Larena. »Wir sollten uns gleich nach diesem Treffen unterhalten.«

    Larena sieht aus, als müsse sie an einer Zitrone nuckeln, aber sie sagt: »Ja, natürlich«.

    Eine Sache weniger, über die ich mir Sorgen machen muss.

    Die Türen öffnen sich erneut, und dieses Mal kommen mehrere Personen herein. Edam ignoriert Noah geflissentlich und umrundet den Tisch, um sich direkt neben mich zu setzen. Balthasar nimmt den Platz auf meiner anderen Seite ein. Frederick positioniert sich an der Tür, als wäre er als Türwächter hier. Inara kommt nach den Jungs herein und setzt sich direkt gegenüber von mir. Marselle spaziert durch die Tür und setzt sich an das Ende des Tisches neben Noah. Franco nimmt den Platz rechts von Inara ein, rückt seine ohnehin makellose, leuchtend rote Krawatte zurecht und streicht über das Revers seines Anzugs, bevor er sich setzt. Maxmillian trägt einen Anzug, der genauso aussieht wie der von Franco, aber seine Krawatte ist himmelblau und hat ein passendes Einstecktuch. Lark kommt als Letzte durch die Tür und setzt sich auf den einzigen freien Platz zwischen Marselle und Noah.

    Jetzt, wo alle da sind, stehe ich auf. Das ist vielleicht unnötig, aber Mama hat immer gestanden.

    »Wenn ihr hier seid«, verkünde ich, »dann weil ich euch vertraue. Für einige von euch ist dies eine Beförderung. Für einige von euch mag es sich wie eine Degradierung anfühlen.« Ich schaue Balthasar an, und er schließt die Augen und schüttelt leicht den Kopf. Gut, er ist nicht wütend. »Aber ich brauche jeden einzelnen von euch genau hier, wo ihr seid. Bei meiner Krönung morgen, werde ich eure Namen offiziell bekannt geben, aber die eigentliche Arbeit hat bereits begonnen. Niemand hier macht sich vor, dass ich perfekt vorbereitet bin. Das bin ich auch nicht. Mama hinterließ ein Chaos, als sie starb, also haben wir eine Menge aufzuräumen. Aber Alamecha ist nicht umsonst die erste Familie, und wir werden aus dieser Zeit des Chaos noch stärker hervorgehen.«

    »Das ist Eure endgültige Ratszusammensetzung?« Maxmillian schaut sich zweifelnd um, sein Blick verweilt auf Noah.

    »Ich bin sicher, dass ich die Dinge mit der Zeit noch anpassen werde«, sage ich, »aber für den Moment, Ja.«

    »Ein Mensch und ein Halbmensch?«, fragt Maxmillian skeptisch. »Was für eine Botschaft soll das sein?«

    Ich hatte erwartet, dass sich jemand beschweren würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass es Larks Onkel sein würde. »Angel ist weg, sie ist zur selben Zeit verschwunden wie Judica. Wir kennen die Umstände noch nicht, aber es sieht nicht gut aus. Ich freue mich, dass Lark bereit ist, als neue Lebensmittelbeauftragte einzuspringen, auch wenn sie keine große Erfahrung darin hat. Wie ihr sicher verstehen werdet, brauche ich jemanden, dem ich absolut vertraue.« Seine Nichte ist zwar nicht zu hundert Prozent Evianisch, aber ich vertraue ihr mehr als jedem anderen.

    »Was ist mit Eurem Lieblingsmenschen?« Franco wirft Noah einen finsteren Blick zu.

    »Er ist mein neuer Verbindungsmann für menschliche Beziehungen.«

    »Die Position gibt es doch gar nicht«, protestiert Franco.

    »Veränderungen sind immer schwierig.« Ich halte inne, um das zu verinnerlichen. »Und obwohl ich nichts als Respekt vor Mutters Herrschaft habe, bin ich nicht Enora die Zweite. Ich bin Chancery Divinity Alamecha, und ich bin mit vielen von Mutters Politiken und Gesetzen grundlegend nicht einverstanden.«

    »Eure Mutter hat diese Gesetze nicht allein geschaffen«, argumentiert Franco. »Alle Evianischen Herrscher weltweit haben sich auf viele von ihnen geeinigt.«

    »Sie hatten sicher ihre Gründe, als sie sie einrichteten.« Ich schaue Franco in die Augen. Ich werde nicht zurückweichen, und ich werde nicht klein beigeben. »Und ich habe jetzt meine. Ihr kennt alle das Motto von Alamecha. Akzeptiere die Welt, wie sie ist, oder tue etwas, um sie zu verändern.« Ich breite meine Hände aus. »Jetzt bin ich an der Reihe, etwas zu tun, und ich werde vor nichts zurückschrecken, was getan werden muss, egal, wie umstritten es ist.«

    »Was genau wollt Ihr denn ändern?«, fragt Balthasar.

    »Ich werde viel ändern, aber einiges davon werde ich staffeln.«

    »Über Jahrzehnte?«, fragt Franco.

    Ich schüttle den Kopf. Manchmal vergesse ich, wie alt sie alle sind. Jahrzehnte, bitte. Es fällt mir schwer, aber ich rolle nicht mit den Augen. »Nein, über mehrere Wochen.«

    Inara, Larena, Balthasar, Franco und Maxmillian haben fast den gleichen grimmigen Gesichtsausdruck. Noah, Lark, Edam und Marselle, Gott segne sie, bleiben völlig ruhig. Frederick ist so weit weg, dass ich sein Gesicht kaum sehen kann. Er verhält sich so, als wäre er nicht einmal Teil meines Rates.

    »Freddy, setz dich an den Tisch. Ich schätze deine Meinung. Du bist nicht hier, um die Tür zu bewachen.«

    Sein Blick wandert von Balthasar zu Edam und dann wieder zu mir. »Mir ist nicht klar, was meine Rolle ist.«

    »Du warst der Sicherheitsleiter meiner Mutter. Du gehörst auch zu mir. Ich füge diese Position einfach zu meinem Rat hinzu, weil ich deine Meinung mehr schätze als den Schutz meines Körpers.«

    »Was genau ist meine Position?«, fragt Edam.

    »Ich entschuldige mich«, sage ich. »Ich hatte vergessen, dass ich eure offiziellen Positionen noch nicht bekannt gegeben hatte. Larena, kannst du sie mitschreiben?«

    Sie holt einen Stift aus ihrer Tasche und nickt.

    »Balthasar wird mein Kriegsherr sein. Ich habe die Kriegs- und Offensivvorbereitungen von den übrigen Sicherheitsprotokollen abgetrennt. Ich fürchte, bei all dem, was kommt, wird diese Position anspruchsvoll genug sein. Edam wird Balthasar als mein oberster Sicherheitsbeauftragter in allen Bereichen außer Kriegsangelegenheiten ablösen. Larena bleibt Kammerdienerin und wird weiterhin alle Details meines Haushalts verwalten, einschließlich des Palastes und all unserer anderen Residenzen. Inara wird als meine Verwalterin und vorläufig auch als meine politische Beraterin fungieren.« Ich hatte gehofft, Alora für diesen Posten vorzuschlagen, wenn sie sich bereit erklärt, nach Ni'ihau zurückzukehren, aber angesichts ihres jüngsten Verhaltens bin ich mir nicht sicher, wen ich fragen soll. »Lark wird meine Chefköchin sein, oder offiziell meine Lebensmittelbeauftragte. Maxmillian wird als Alamechas Betriebsleiter einspringen. Seine langjährige Erfahrung mit der Verwaltung der Interessen seiner eigenen Familie hat ihn bestens vorbereitet. Ich bin mir des Opfers, das er bringt, durchaus bewusst und schätze seine Bereitschaft, sich mir anzuschließen. Franco wird mein neuer Verwaltungschef sein, um die menschlichen Repräsentanten zu verwalten, die unsere Länder regieren. Marselle wird Angel als meine Geheimdienstchefin ablösen, aber ihr offizieller Titel wird Leiterin der Technologieabteilung lauten. Sie hat mir versichert, dass sie den Anforderungen beider Positionen gewachsen ist. Ihr habt alle gehört, dass ich für Noah eine neue Position als Verbindungsperson für menschliche Beziehungen geschaffen habe.«

    »Eine mutige und vielfältige Besetzung für deinen Rat«, bemerkt Inara, »und eine interessante Mischung aus Mutters Beratern und deinen eigenen. Würdest du uns jetzt über deine restlichen Pläne aufklären?«

    »Dies ist eine vorläufige Liste, aber für den Anfang werde ich unsere Gesetze und die der von uns beherrschten Nationen ändern, um den Menschen die gleichen Rechte zu gewähren wie den Evianern.«

    Franco springt von seinem Sitz auf. »Die große Mehrheit der Menschen weiß nicht einmal von uns. Schlagt Ihr vor, dass wir das ändern?«

    »Ich habe noch nicht entschieden, wie ich meinen Plan am besten umsetze, aber wir werden eine strenge Liste von Schutzmaßnahmen für Menschen aufstellen. Sie sind keine Wegwerfware, und es ist falsch, sie so zu behandeln. Unser Ziel war es immer, die Welt und ihre Ressourcen zu bewahren, aber wir haben die Verpflichtung gegenüber allen unseren Untertanen aus den Augen verloren, besonders gegenüber den Menschen und Halbmenschen.«

    Völliges Schweigen. Keine große Überraschung, aber dennoch enttäuschend.

    »Die meisten von euch haben nicht viel Zeit mit ihnen verbracht«, sage ich, »das muss geändert werden.«

    »Ich habe mehr als genug gesehen«, sagt Franco. »Sie sind unzuverlässig, gierig, selbstverherrlichend, gewalttätig und heuchlerisch.«

    »Entschuldigung, beschreibst du gerade Evianer? Oder Menschen?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Wir sind Menschen, weißt du. Und sie sind Evianer. Wir stammen von genau demselben Ort ab, und ich habe jede einzelne dieser Eigenschaften, die du erwähnt hast, mit Abscheu bei meinen Verwandten, meinen Freunden und meinen Feinden gesehen.«

    Inaras Augen weiten sich. »Willst du damit sagen, dass wir gleichberechtigt sind?«

    »Das ist genau das, was ich sage.«

    »Ihr irrt Euch«, sagt Balthasar. »Bei allem Respekt, das ist eine unhaltbare Position, die Ihr vertretet. Ihr seid erst siebzehn, und obwohl Ihr intelligent seid und äußerst vielversprechend, habt Ihr weniger Erfahrung mit Menschen als jeder andere von uns. Wenn du dir ihre Unterhaltung ansiehst, kannst du dir kein realistisches Bild davon machen, wie sie sich verhalten oder wer sie im Kern sind.«

    Ich schlage meine Hände auf den Tisch. »Ich begrüße den Dialog, aber ich lasse mich nicht bevormunden. Ich lasse mir von dir nicht sagen, dass meine Grundüberzeugungen falsch sind, schon gar nicht auf eine herablassende Art und Weise, die impliziert, dass mein Alter meine Meinung ungültig macht. Argumentiere mit mir über die Umsetzung, argumentiere über das Timing, aber sag mir nicht, dass Menschen Hunde sind. Vergleich sie nicht mit Kanonenfutter oder Bauern auf einem Schachbrett. Unterstelle nicht, dass sie unvollkommen sind, während wir unfehlbar sind. Das ist einfach nicht korrekt. Unsere Vorfahren sind alle gleich. Es ist nicht ihre Schuld, wenn sie einige genetische Deletionen erlitten haben, und es bedeutet nicht, dass sie keinen Wert haben!«

    Ich merke, dass ich schreie und mäßige meine Stimme. Mama hat nie geschrien. Wenn sie wütend wurde, verstummte sie und zwang ihre Gegner, das Gleiche zu tun. »Ich freue mich über euren Beitrag, aber in diesem Punkt werde ich nicht nachgeben. Noah ist hier, damit ihr mit einem Menschen interagieren könnt und seht, dass sie genauso sind wie wir.«

    Balthasar, Inara, Franco und Maxmillian sehen Noah an, als hätte ich einen Sack Müll auf dem Tisch deponiert.

    »Falls ihr glaubt, dass die menschliche Komponente die einzige große Veränderung ist, möchte ich euch sagen, dass die Evianische Gesellschaft auch auf andere Weise korrumpiert ist, und zwar in vielerlei Hinsicht, und ich beabsichtige, den Kurs an allen Fronten zu korrigieren. Aus diesem Grund wird es keine weiteren Verkäufe oder Käufe von königlichen Söhnen durch Alamecha geben, Punkt, aus.«

    Edam macht einen völlig ausdruckslosen Eindruck, aber seine Augen funkeln vor Begeisterung.

    Inara räuspert sich. »Das können wir für unsere Familie definitiv durchsetzen. Mutter war nicht gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen oder andere zu kaufen. Sie hat sich entschieden, daran teilzunehmen, und ihre Gründe dafür sind nach wie vor berechtigt. Wenn du einen weiblichen Erben zur Welt bringst, wie wird sie einen Gefährten auswählen, dem du vertrauen kannst?«

    »Meine Erbin, sollte ich das Glück haben, eine zu haben, wird heiraten, wen sie will, so wie ich es auch zu tun gedenke, ohne Rücksicht darauf, welche Familie ihn erzogen hat.«

    »Und was ist, wenn diese Erbin sich in einen Menschen verliebt, bei all den anderen Veränderungen, die du geplant hast?« Inara blickt Noah scharf an, und ich frage mich, ob sie nach meinem Erben oder nach mir fragt. Aber ich bin sicher nicht die erste Evianerin, geschweige denn die erste Alamecha-Erbin, die einen Menschen mag.

    Langsam scanne ich den Tisch und schaue jedem Ratsmitglied in die Augen. »Wie Lyssa? Wie meine Schwester Alora?« Ich versuche, meine Stimme zu zügeln, aber es gelingt mir nicht. »Ich verstehe und respektiere den Zweck der Anforderung, dass eine Herrscherin die jüngste Tochter sein muss. Es sorgt für eine möglichst lange Dauer der Herrschaft und auch für eine möglichst konstante Führung. Ich verstehe auch, dass es wichtig ist, die Blutlinie zu bewahren. Mein Erbe muss eine geeignete Person heiraten, die der siebten oder achten Generation so nahe wie möglich kommt. Sollte sie sich jedoch dafür entscheiden, abzudanken und einen Menschen zu heiraten, werde ich ihr die schönste Hochzeit ausrichten, die ihr je gesehen habt. Denn Herrscher über ein riesiges Gebiet von Untertanen zu werden, sollte man sich aussuchen können, nicht dazu gezwungen werden.«

    »Und Halbmenschen?«, will Lark wissen.

    »Sie werden in meinem Dienst und in dieser Familie willkommen sein. Immer.«

    »Wie steht es mit einem Viertel Evianer?«, fragt Maxmillian. »Wie steht es mit einem Achtel?« Er grunzt. »Ihr werdet die Linie mit diesem Unsinn degradieren. Alamecha wird innerhalb eines Jahrhunderts korrumpiert sein, und was Ihr als Gerechtigkeit empfindet, wird zu immer schwächeren Wächtern führen. Unsere Führung in allen Bereichen wird darunter leiden, wenn Ihr zulasst, dass Leute, die weniger wert sind, irgendwelche Positionen besetzen.«

    »Das sehe ich genauso«, stimmt Franco zu. »Diese Änderungen werden den Untergang von Alamecha, wie wir es kennen, bedeuten.«

    »Unsere Anforderungen für die Erlangung einer Stelle bleiben dieselben. Die beste der Optionen wird ausgewählt werden. Seid ihr besorgt, dass die Menschen die Evianer in ihrer Leistung übertreffen und dadurch für die Elitepositionen ausgewählt werden?«

    »Ich will damit sagen, dass sie die Infrastruktur mit ihren Petitionen und Beschwerden verstopfen werden. Denkt an meine Worte«, sagt Franco.

    Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Du sagst also, dass die Abwertung der Linie eine schlechte Sache ist.« Ich gestikuliere durch den ganzen Raum. »Alamecha verrottet durch Egoismus, Gier und Manipulation. Wenn ich also das Alamecha, das wir kennen, dem Untergang weihe, indem ich das Richtige tue, ist das für mich in Ordnung. Die Welt, die wir erschaffen, wird so viel mehr sein, und wir werden die Dinge nach und nach herausfinden.«

    »Du wirst heute nichts ankündigen, richtig?«, fragt Inara.

    »Ich werde bis nach der Amtseinführung nichts ankündigen«.

    Ein Chor von erleichterten Seufzern ertönt. Sie haben alle Zeit, mir diese Änderungen auszureden, bevor ich sie offiziell mache.

    Ich halte meine Hand hoch. »Ich begrüße euer Feedback in diesem Raum. Ich verlange sogar, dass ihr mir sagt, was ihr auf dem Herzen habt. Ich erwarte von meinem Rat absolute Ehrlichkeit. Aber wenn wir in der Öffentlichkeit sind, werdet ihr mich nicht infrage stellen. Wenn ihr euch gegen eine dieser Änderungen aussprecht, werdet ihr sofort entlassen. Und es damit nicht aufhört, betrachte ich es als Hochverrat. Ist das klar?«

    Um mich herum klappen Münder zu und Köpfe nicken.

    »Werdet Ihr einen Gemahl ernennen?«, fragt Larena. »Denn ich muss die Gemächer des Gemahls vorbereiten.«

    Ich schüttle den Kopf. »Noch kein Gemahl.«

    »Da Judica nicht mehr da ist«, sagt Inara, »ist Melina deine Erbin.«

    Mist. Daran hatte ich nicht gedacht.

    »Sie ist nicht … absolut zuverlässig.« Inara rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Es wäre klug, bald einen Gefährten zu benennen.«

    »Zur Kenntnis genommen«, antworte ich.

    »Was wollen wir mit Judica machen?«, fragt Franco.

    Ich habe sie gehen lassen, nachdem ich sie nicht töten konnte, und dann ist sie verschwunden. Ich habe keine Ahnung, ob sie geflohen ist oder entführt wurde, ob sie lebt oder tot ist. Ich weiß nicht, ob ich Suchtrupps aussenden oder mich auf einen Angriff vorbereiten soll.

    »Ich verlange Ehrlichkeit, und ich werde sie auch geben«, erkläre ich. »Ich habe wahrscheinlich einen Fehler gemacht, als ich ihr Leben verschont habe, und ich habe sicherlich einen Fehler gemacht, als ich sie nicht in einer Zelle festgehalten habe. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Ich werde viel Zeit mit Edam verbringen, um unsere nächsten Schritte zu planen, und mit Balthasar, um unsere militärischen Mittel zu besprechen, in Erwartung eines Gegenschlags meiner Schwester.«

    »Ihr gebt also zu, dass Ihr uns mit dieser unüberlegten Entscheidung den Weg zum Krieg geebnet habt?«, fragt Franco. »Und dennoch habt Ihr nicht die Absicht, den Kurs anderer, weitaus schlechterer Entscheidungen zu ändern?«

    Edam blickt finster drein, offensichtlich bereit, einzuspringen und mich zu beschützen. Aber ich brauche seinen Schutz vor meinem eigenen Rat nicht. Und wenn Franco mir das ins Gesicht sagt, werden andere genau das Gleiche denken. Ich ziehe jemanden, der mir seine Bedenken mitteilt, bei Weitem jemandem vor, der hinter meinem Rücken Zwietracht schürt.

    »Seit meine Mutter ermordet wurde, sind wir Kriegs-gefährdet. Hast du nicht gesehen, wie sich die anderen Familien die Finger leckten und nach Alamecha lechzten wie ein Wolf nach einem verletzten Reh?«

    Franco senkt seinen Blick.

    »Ich bin erst siebzehn, und ich bin nicht perfekt. Keiner von uns ist das. Ich werde mein Bestes geben, und ihr sagt mir, wenn ihr denkt, dass ich eine falsche Entscheidung treffe. Dann werde ich entscheiden, und wir werden alle damit leben.«

    »Da du keinen Gemahl ernennst«, sagt Marselle leise, »solltest du dich darauf einstellen, dass die anderen Familien unglaublich lästig sind und dir ihre infrage kommenden Söhne aufdrängen, bis du einen ernennst.«

    »Ja, die Botschafter am Hof werden wohl bald viel jünger und besser aussehen«, sagt Inara. »Dafür schon mal vielen Dank.«

    Ich hebe eine Augenbraue. »Wohl kaum. Sie haben alle ihre Söhne verkauft.«

    Inara schnaubt spöttisch. »Nicht ganz. Die Herrscherinnen verkaufen meist ihre Söhne, aber viele ihrer Geschwister nicht. Es wird also eine ganze Reihe von Söhnen anderer königlicher Familienmitglieder geben, die sich hervorragend eignen würden. Wenn du dich noch nicht entschieden hast, mach dich auf eine Parade von Männerfleisch gefasst.«

    Ich hoffe, sie übertreibt.

    »Ich denke, wir haben für heute genug besprochen. Ihr solltet alle herausfinden, was in euren jeweiligen Bereichen zu tun ist, und morgen früh treffen wir uns wieder, um die Amtseinführung vorzubereiten. Punkt sieben Uhr morgens.«

    Als ich aufstehe, springt auch Duchess auf. Edam folgt uns durch die Tür, die beiden Wachen, die draußen stationiert sind, folgen uns in einem Abstand von zehn Fuß. »Du hast das außergewöhnlich gut gemeistert.«

    »Glaubst du das wirklich?«

    »Auf jeden Fall«, sagt er. »Du hast dich nicht aus der Ruhe bringen lassen, und hast begonnen, Vertrauen aufzubauen. Ein hervorragender erster Schritt für eine neue Königin.«

    »Das ist gut zu hören, denn ich habe absolut keine Ahnung, was ich tue, und jetzt habe ich Panik, dass meine Veränderungen Alamecha wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lassen.« Ich erreiche die Tür zu Mamas Zimmer und bleibe davor stehen.

    »Du bist brillant, mutig und barmherzig«, sagt er, »und du wirst herausfinden, wie du diese Dinge zum Laufen bringst, ohne das zu zerstören, was deine Mutter erschaffen hat. Ich weiß, dass du das tun wirst.«

    Ich schlucke. »Ich hoffe, dein Vertrauen ist berechtigt.«

    »Ist es.« Edam greift kurz nach meiner Hand und lässt und lässt sie wieder los. »Gehst du in ihr Zimmer?«

    »Mhmm.«

    »Okay.« Edam lehnt sich gegen die Tür. »Nun, wenn wir schon mal draußen sind, können wir auch gleich ein paar Angelegenheiten besprechen.«

    Ich begegne seinem Blick. »Welche denn?«

    »Wenn Frederick der Leiter deiner Leibwache ist, ich aber für die Sicherheit der Insel zuständig bin, darf ich dann Wachen zu deiner Leibgarde hinzufügen?«

    Ich rolle mit den Augen. »Freddy wird sich gut um meine persönlichen Wachen kümmern.«

    Edams Blick brennt sich in meinen. »Gut ist nicht gut genug.«

    »Ihr beide seid aus dem gleichen Holz geschnitzt.« Ich werfe einen Blick auf die Wachen hinter uns und senke meine Stimme. »Er will bereits die Wachen aufstocken und die Anzahl der Wachen verdoppeln, die rund um die Uhr im Dienst sind. Er hat die Listen der Wachen analysiert, um sicherzustellen, dass die beiden Diensthabenden sich nicht ausstehen können. Er glaubt, das wird ihre Motivation und Wachsamkeit erhöhen.«

    Edam nickt. »Ich stimme zu. Ich bin gerne bereit, mich mit ihm abzusprechen und einige der besseren Männer aus meiner Truppe dafür abzutreten.«

    »Ach komm schon. Ich brauche keine zwei von euch.«

    »Offensichtlich fühlst du dich sehr sicher, wenn du im Flur stehst und zu nervös bist, um in das Zimmer deiner Mutter zu gehen.«

    Ich schließe die Augen und sehe ihren Körper auf dem Boden des Ballsaals liegen, das Blut strömt aus ihrer Nase und ihrem Mund und bildet eine Pfütze um sie herum. Und dann überflutet eine Welle der Erinnerungen mein Gehirn: Wie wir zusammen Kleider ausgewählt haben, Snacks auf ihrem Bett gegessen haben, während wir uns menschliche Fernsehprogramme ansahen, das gemeinsame Training in unserem privaten Innenhof. Die Erinnerungen strömen weiter und weiter und weiter.

    »Es tut mir leid, dass ich etwas gesagt habe«, murmelt Edam.

    »Es geht nicht darum, sich vor äußeren Bedrohungen sicher zu fühlen«, flüstere ich. »Ich vermisse sie so sehr, dass es weh tut, in ihr Zimmer zu gehen.«

    »Nimm dir Zeit«, sagt Edam. »Ich gehe nirgendwo hin.«

    »Du hast zu tun«, widerspreche ich.

    »Du bist wichtiger als all das.« Er nimmt meine Hand in seine und wir stehen einige Minuten lang gemeinsam vor Moms Tür.

    Dann, endlich, bin ich ruhig genug, um die Tür aufzustoßen und hindurchzugehen. Die massive Edelstahltür zum Heiligtum ihrer Aufzeichnungen in der Ecke ist größer als in meiner Erinnerung. Sie ist mehrere Meter breiter als ihr geräumiger Kleiderschrank, und das Eingabefeld vor der Tür winkt mir zu. Ich habe, was ich brauche, um einzutreten, aber ich habe es bisher immer aufgeschoben. Denn außer der amtierenden Herrscherin kommt niemand herein. Ich fühle mich nicht sehr herrschaftlich, aber das ist nicht das Problem, nicht wirklich.

    Sobald ich da reingehe, ist Mama wirklich weg.

    »Danke, Edam. Ich habe die Unterstützung gebraucht.«

    »Jederzeit, überall, gegen jeden«, antwortet er.

    Ich wünschte, er könnte mir hinein folgen und mir sagen, was ich tun soll. Mir helfen, den Papierkram durchzugehen. »Diesen Teil muss ich allein erledigen.« Ich gehe durch den Raum, bis ich vor der Bioscannerplatte für die großen Türen stehe.

    »Ich bin hier draußen und passe auf, dass du nicht gestört wirst.«

    »Danke.« Ich drücke meine Hand auf den Bioscanner, und eine größere Tafel erscheint in der Wand. Ich drücke Moms Staridium-Ring hinein. Dann gebe ich Moms Code ein. Divinity.

    Die Schlösser drehen sich und kommen schließlich zum Stillstand. Ich drehe das große vierzackige Rad und die Tür öffnet sich knarrend und ächzend. Als ich zurück zu Edam schaue, lächelt er mich an. »Du schaffst das schon.«

    Mehr noch als der Tod meiner Mutter, der Kampf und der Sieg über meine Schwester oder der Fund von Moms Ring ist der Gang in den Archivraum ein endgültiges Gefühl. Mom wird mich nie wieder trainieren, lehren oder unterrichten. Ich blinzle, als ich den Raum betrete. Ich bin darauf vorbereitet, dass er dunkel, fensterlos und mit Blei ausgekleidet ist. Meine Mutter hat mir von einigen Sicherheitsvorkehrungen für die Unterlagen erzählt, und sie klangen extrem, sogar übertrieben. Ich stellte mir den Raum als einen dunklen, trockenen, wetterlosen Ort vor. Wie zum Ausgleich für die Klimaregelung, den totalen Ausschluss von Sonnenlicht, die Abschirmung von Geräuschen, erstrecken sich auf beiden Seiten des langen Raumes fast blendend helle Lichter. Tausende und Abertausende von Büchern und Tagebüchern säumen die Wände, vom Holzfußboden bis zur zehn Fuß hohen Decke.

    Ich hätte diese Aufgabe wochenlang vor mir hergeschoben, aber wir haben keine wirklichen Hinweise auf Moms Mörder. Null. Was bedeutet, dass meine beste Hoffnung auf einen Hinweis genau hier liegt, in Moms eigenen Briefen und Notizen. Da ihre Beerdigung morgen stattfindet, gefolgt von meiner Amtseinführung, habe ich eine ausgezeichnete Gelegenheit, viele von denen zu konfrontieren, die bei ihrer Geburtstagsfeier dabei waren.

    Ich muss wissen, wo ich Druck ausüben muss.

    Ich setze mich also in ihren ledernen Ohrensessel und schlage das Tagebuch auf, das in der Mitte ihres Schreibtisches liegt. Nachdem ich mehrere Tage überflogen habe, stelle ich fest, dass sie erstaunlich viele Details über jeden Tag festhält. Am meisten überrascht mich, wie viel Zeit sie auf ihre Gefühle, ihre Pläne und ihre Hoffnungen verwendet. Von Zeit zu Zeit höre ich auf zu lesen, schließe meine Augen und stelle mir ihr Gesicht vor. Meine Erinnerungen, kombiniert mit ihren Aufzeichnungen, erwecken sie auf eine Weise zum Leben, wie ich es seit ihrem Tod nicht mehr erlebt habe. Dann erregt eine Passage meine Aufmerksamkeit.

    Ich habe den Verdacht, dass mich jemand vergiften will.

    Ich lasse das Buch fallen, als hätte es mich verbrannt. Sie hatte einen Verdacht. Natürlich wusste sie es, aber warum hat sie nichts unternommen? Warum hat sie es mir nicht gesagt? Warum hat sie nicht alle Quellen für ein mögliches Gift beseitigt? Ich zwinge mich, ihr Tagebuch wieder in die Hand zu nehmen.

    Ich kann mir natürlich nicht sicher sein. Job hat kürzlich ein Standard-Blutbild bei mir gemacht und nichts gefunden, aber ich fühle mich … suboptimal. Mein Appetit nimmt ab, ebenso wie mein Energielevel. Ich habe viel Zeit damit verbracht, die Berichte meiner Mütter, Großmütter und Urgroßmütter über ihre letzten Jahre zu lesen. Die meisten meiner Symptome sind auch typische Alterserscheinungen, aber ich bin noch nicht neunhundert. Wenn ich bereits altere, verheißt das nichts Gutes für Alamechas Blutlinie. Vielleicht ist jeder Verdacht auf Gift nur Wunschdenken. Vielleicht leide ich an keinem anderen Gift als dem Ticken der Zeit.

    Der nächste Eintrag ist auf zehn Tage vor ihrem Tod datiert.

    Ich werde also doch nicht vergiftet. Für meine Müdigkeit, meine Appetitlosigkeit und meine Körperschmerzen gibt es eine Erklärung. Eine Glückliche, um genau zu sein. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist etwas Seltsames und Wunderbares geschehen.

    Ich bin schwanger.

    Ich möchte es dem Vater sagen, aber ich weiß nicht, wie er es auffassen wird, und dann muss ich zu viele andere Dinge erklären. Vielleicht ist es besser, wenn ich ihn annehmen lasse, dass es nicht seins ist. Ich kann mich nicht einmal dazu durchringen, seinen Namen zu schreiben. Ich werde meine Zurückhaltung in dieser Sache später untersuchen. Aber im Moment bin ich so optimistisch wie schon lange nicht mehr.

    Es klingt schrecklich, aber ich freue mich am meisten auf dieses Baby, weil ich hoffe, dass es die Wunden zwischen Judica und Chancery heilen wird. Ihre Wut und ihre Unfähigkeit, miteinander auszukommen, schmerzt mich mehr als jede andere Wunde in meinem langen Leben. Ich würde fast alles geben, um ihre Beziehung zu reparieren. Eine neue Erbin würde sie beide befreien und die Folgen meiner Entscheidung, Chancery zu verschonen, beseitigen.

    Wenn es ein Mädchen ist, werde ich sie Sotiris nennen, denn sie könnte ihre Rettung sein.

    Die nächsten sechs Seiten sind herausgerissen worden. Ich suche überall auf ihrem Schreibtisch und in den Schubladen nach losen Seiten – ohne Erfolg. Warum sollte sie den Rest herausreißen? Das muss Mom gewesen sein, denn sie ist die Einzige, die Zugang zu diesem Zimmer hat.

    Ich finde die fehlenden Blätter nicht, aber ich bleibe vor einer gerahmten Papyrusrolle stehen. Die Prophezeiung.

    In einer Zeit großer Gefahr, in der das Leben von Frauen und Männern versagt, wird die Älteste den sicheren Tod überleben, um die Familien zu vereinen. Sie kommt in einer Zeit des Blutes und des Schreckens, in einer Welt, die von Seuchen und Kriegen überzogen ist. Sie wird über den Stein des Berges gebieten, sei er klein oder groß. Seine Macht wird die riesigen Heerscharen zerstören, die sich ihm entgegenstellen. Mit der Macht und Kraft Gottes wird die Älteste alles vernichten, was sich ihr in den Weg stellt, und meine Kinder zu einer Einheit vereinen. Nur durch ihr Blut kann der Stein dem Berg wiedergegeben werden. Zusammen mit der Kraft ihrer stärksten Unterstützer wird sie den Garten Eden öffnen, damit das Wunder Gottes auf die ganze Erde kommt und meine Kinder vor der völligen Zerstörung bewahrt.

    Völlige Zerstörung. Ich schließe meine Augen. Ich will damit nichts zu tun haben. Warum konnte Judica nicht vor mir geboren worden sein? Ich will nicht die Älteste sein, und ich will schon gar nicht alles zerstören, was mir im Weg steht. Aber ich fürchte, den ersten Punkt habe ich bereits erfüllt. Zumindest schienen alle zu glauben, dass der Kampf gegen Judica zu meinem sicheren Tod führen würde, und doch bin ich hier. Vielleicht bezog sich die Zerstörung auf die Bombe, die ich vor dem Einschlag in China bewahrt habe. Wäre das nicht schön?

    Irgendwie bezweifle ich das.

    Oder vielleicht war diese ganze Sache eine verrückte Wahnvorstellung, auf die sich die Leute zu Unrecht fixiert haben. Das würde eine Menge Druck wegnehmen … Vielleicht wird meine Herrschaft ereignislos und friedlich sein. Wenn das natürlich nicht stimmt, dann könnten meine drastischen sozialen und politischen Veränderungen alle scheitern. Meine Position als Herrscherin könnte ein gewaltiger Fehler sein, wenn ich nicht die Älteste bin, wie Mama dachte. Judica ist sicherlich besser ausgestattet, um die Dinge kompetenter handzuhaben.

    Wie alt ist diese Prophezeiung genau? Ohne darüber nachzudenken, nehme ich den Rahmen von der Wand und trage ihn zum Schreibtisch hinüber.

    Bevor ich ihn absetzen kann, um ihn genauer zu betrachten, flattert etwas von hinten auf den Boden. Ein weißer Umschlag.

    Ich beuge mich hinunter, um es aufzuheben, aber meine Hand hält über den Worten inne, die in der Handschrift meiner Mutter auf die Vorderseite gekritzelt sind.

    Chancery Divinity Alamecha

    2

    Mama hat mir zwei Briefe geschrieben? Oder war dies ein Rohentwurf, bevor sie den anderen an Alora geschickt hat? Wenn dies ein neuer Ratschlag ist, eine hilfreiche Information darüber, wie ich regieren soll, dann hätte ich wirklich schon vor Tagen hierherkommen sollen, vor meiner Konfrontation mit Judica oder meiner Wahl der Ratsmitglieder.

    Ich hebe den Umschlag auf, meine Finger streicheln das gepresste Papier. Es ist dick, als ob mehr als eine Seite drin wäre. Ich mache einen Platz in der Mitte von Moms Schreibtisch frei und setze mich hin, bevor meine wackeligen Knie mich endgültig im Stich lassen. Ich sollte ihn aufreißen. Ich habe so viele andere Dinge zu tun, dass ich Prioritäten setzen muss, aber ich kann nicht. Jetzt, wo es darauf ankommt, kann ich meine Finger nicht mehr dazu bringen, ihn überhaupt zu öffnen.

    Denn dies ist wahrscheinlich das allerletzte Mal, dass ich eine direkte Verbindung von meiner Mutter zu mir spüre. Das letzte Mal, dass sie mich berät oder anleitet oder mir hilft, irgendeinen Sinn aus dem Wirrwarr des Lebens zu ziehen. Ihre Beerdigung ist morgen früh, und dieser Brief fühlt sich an wie eine Hand aus dem Grab, eine letzte Gnadenfrist vor der erdrückenden Last, die es bedeutet, die erste Familie zu regieren.

    Was aber, wenn es das nicht ist? Was, wenn es nichts weiter, als ein Sitzplan für meine Party ist? Oder eine Liste von Dingen, für die ich härter trainieren muss, um sie zu lernen? Oder was, wenn es eine Abfolge von dummen Meilensteinen ist, wie z. B. Gehen oder das Beherrschen grundlegender melodischer Harmonien, und die Daten, an denen ich sie erreichen soll? Es könnte etwas Belangloses sein, etwas Unwichtiges, etwas, das keine Rolle spielt.

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