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Sekandert - Königliches Blut: Band 1
Sekandert - Königliches Blut: Band 1
Sekandert - Königliches Blut: Band 1
eBook770 Seiten10 Stunden

Sekandert - Königliches Blut: Band 1

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Über dieses E-Book

Vier Schicksale, eng miteinander verwoben ...

Die Welt Sekandert ist gespalten: Die Argols mit ihren katzenartigen Augen werden von den Menschen als Kreaturen des Bösen diffamiert und verfolgt. Während der junge Argol Kralle mit den Anfeindungen der Menschen zu kämpfen hat und stehlen muss, um zu überleben, schwelgt Prinzessin Adrale hingegen im Luxus. Doch ihr Gemahl behandelt sie wie eine Gefangene und noch dazu quälen sie mysteriöse Visionen.
Unterdessen schlägt sich die Sklavin Alyssa durch ihr aussichtsloses Leben als Arenakämpferin. Zum Scheitern verurteilt, und doch mit einem Funken Hoffnung: ihrer verborgenen Kraft.
Und dann kehrt Donavan zurück. Der verrückte Königssohn. Verstoßen, blutdornsüchtig, unberechenbar. Niemand kennt seine wahren Motive, doch seine Pläne könnten alles verändern ...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum4. Nov. 2023
ISBN9783910761032
Sekandert - Königliches Blut: Band 1

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    Buchvorschau

    Sekandert - Königliches Blut - Finja Stoldt

    Über das Buch

    Vier Schicksale, eng miteinander verwoben ...

    Die Welt Sekandert ist gespalten: Die Argols mit ihren katzenartigen Augen werden von den Menschen als Kreaturen des Bösen diffamiert und verfolgt.

    Während der junge Argol Kralle mit den Anfeindungen der Menschen zu kämpfen hat und stehlen muss, um zu überleben, schwelgt Prinzessin Adrale hingegen im Luxus. Doch ihr Gemahl behandelt sie wie eine Gefangene und noch dazu quälen sie mysteriöse Visionen.

    Unterdessen schlägt sich die Sklavin Alyssa durch ihr aussichtsloses Leben als Arenakämpferin. Zum Scheitern verurteilt, und doch mit einem Funken Hoffnung: ihrer verborgenen Kraft.

    Und dann kehrt Donavan zurück. Der verrückte Königssohn. Verstoßen, blutdornsüchtig, unberechenbar. Niemand kennt seine wahren Motive, doch seine Pläne könnten alles verändern ...

    Die Ära der Menschen

    Auszug aus dem Buch über die Entstehung der Welt

    Und Okala sah, dass Mesus ihr eine schöne Welt geschaffen hatte, und sie lachte beglückt. Sie wollte also sein Weib sein und von da an nannte man sie Mann und Frau. Bald wurde Okala schwanger und gebar Mesus zwei Söhne. Der Erstgeborene hatte schwarzes Haar und seine Augen waren tiefrot. Okala taufte ihn auf den Namen Uqura. Der zweite trug blondes Haar und die Augen glänzten stahlgrau. Mesus gab ihm den Namen Eiwe. (…)

    Und mit der voranschreitenden Zeit wurde Mesus schwach und grau. Er ließ seine Söhne kommen und sagte: »Schaut nur auf euren Vater. Jetzt bin ich ein alter Mann. Meine Tage sind bald gezählt, aber ihr seid jung und stark. Ich will einen Nachfolger erwählen, der meinen Platz als Weltenwächter einnimmt.«

    Uqura fühlte sich seiner Sache sicher und sprach: »Das sei wohl ich, liebster Vater. Ich bin der Erstgeborene.«

    Aber Mesus schüttelte den Kopf und verkündete: »Die Welt soll nur geführt werden von einem tauglichen Mann. Um dies zu prüfen, werdet ihr in einem Wettstreit gegeneinander antreten. Erschafft mir beide ein neues Wesen für die Welt und derjenige, der es besser macht, soll mein Nachfolger werden.«

    So zogen sich die Brüder zurück, um ihrer Aufgabe nachzugehen. Eiwe setzte sich an einen Fluss und dachte lange und sehr gründlich nach. Er sprach zu sich: »Mein Wesen soll voller Stärke sein, aber dennoch gütig. Es soll intelligent sein und die Welt einnehmen, aber es soll sie nicht unterjochen. Mein Wesen soll lieben können, aber das Böse nicht dulden.« Dann brach er den Ast einer Weide und schnitzte die Umrisse seines Wesens. Er sprach ihm Leben ein und sein Wesen regte sich. Voller Stolz betrachtete Eiwe seine Schöpfung und holte Mesus. Der lobte seinen Sohn und war zufrieden.

    Uqura aber wusste nicht, wie er die Aufgabe seines Vaters bewältigen sollte, denn er dachte nicht gründlich nach und war sehr ungeduldig. Auf seiner Lichtung stapfte er auf und ab und fluchte voller Wut. Bald schlich er sich an den Fluss und beobachtete Eiwe. Er sah, welch ein Wesen er geschaffen hatte und er sah auch, wie sehr es Mesus gefiel. Also ging er zurück zu seiner Lichtung und wollte ein ähnliches Wesen schaffen, aber er tat es voll Eifersucht und Bosheit. Er sprach dem Wesen Leben zu und es wurde so schlecht wie Uquras Absichten. Aber Uqura bemerkte das nicht und rief seinen Vater.

    Mesus sah Uquras Schöpfung und die Schlechtigkeit in seinem Wesen und er rief: »Du hast nicht gerecht gespielt! Du hast deinen Bruder nachgeahmt, und du hast sein Werk schlecht gemacht! Du bist kein würdiger Herrscher über meine Welt!« Mesus überreichte also Eiwe sein Amt. Uqura wurde sehr zornig und verlangte nach einem neuen Versuch, aber Mesus gewährte ihm diesen nicht.

    Dann sprach Mesus zu Eiwe: »Siehe, dein Wesen braucht eine Gefährtin«, und Eiwe schnitzte ihm ein Weib. Doch als er ihr Leben zusprach, flüsterte Uqura böse Worte in den Zauber und verdarb einen Teil ihrer Seele. Mesus bemerkte Uquras Missetat und war so erzürnt darüber, dass er ihn auf ewig ins dunkle Reich verbannte, auf dass er es niemals verlassen sollte. Uqura schrie und kreischte, aber er konnte seinem Schicksal nicht entkommen.

    Bevor Uqura aber hinabfuhr, setzte er sein Wesen in Mesus’ Welt und flüsterte ihm ein: »Vermehre dich und werde mächtig! Vernichte die Wesen meines Bruders und befreie mich aus meinem Gefängnis!« Und er ging hinab und sah von da an nie wieder das Licht.

    Eiwe sprach zu dem Weib: »Uqura hat dich verdorben. Aber ich will gnädig zu dir sein. Widerstehe dem Bösen und lasse dich nicht verführen. Dann will ich deiner Seele vergeben. Gibst du dich aber dem Teil hin, den Uqura dir gegeben hat, so wird deine Seele auch in seinen Händen enden. Wenn du brav und gut bist, so wirst du deinem Mann Söhne schenken. Bist du aber unartig und schlecht, so soll dein Erstgeborenes eine Tochter werden.«

    Zu dem Manne sprach er: »Dein Weib ist verdorben, also sollst du über sie herrschen. Liebe sie, aber stecke dich nicht mit ihrer Schlechtigkeit an. Halte ihre Bosheit im Zaum, damit sie nicht in Uquras Reich gehen muss. Nimm die Welt als deine, aber vernichte sie nicht durch deine Gier.« Und so entließ er die ersten Menschen in die Welt. Und Mesus starb und nach ihm Okala und Eiwe nahm den Platz seines Vaters ein. (…)

    1. Der Ring

    Kralle

    Die sternlose Nacht war schwarze Tinte. Menschen seien blind bei Nacht, hieß es. So wenig Vorteile es gab, in diesem Land nicht als Mensch geboren zu sein, hatte Kralle ihnen immerhin die Sehkraft voraus. Seine Stiefel verursachten keine Geräusche, während er durch die Ruinen der Unterstadt schlich. Der kalte Vorfrühlingswind heulte um die zerfallenen Häuser und zerrte an seinem Mantel. Er schlug seinen Kragen hoch und zog sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Laub und altes Papier fegten durch die leeren Straßen. Ein fauliger Geruch trieb ihm in die Nase, der Geruch nach Verwesung. Vor ihm verteilte sich ein Geröllhaufen über die gesamte Straßenbreite. Eines der alten Häuser schien der Schwerkraft vollends nachgegeben zu haben.

    Vorsichtig kletterte er über die steinernen Bruchstücke und huschte weiter. Bedrohlich ragten die Häuser links und rechts über ihm auf, in vielen klafften große, schwarze Löcher in den Wänden, einigen fehlten die Dächer. In diesem Viertel lebte niemand, nicht einmal die Ärmsten der Armen. Höchstens verirrte sich mal ein Obdachloser hierher, um in den Ruinen einen Unterschlupf für die Nacht zu finden, und bei Tag trieben sich die berüchtigtsten Gestalten der ganzen Unterstadt hier herum. Zu dieser Nachtzeit konnte Kralle niemanden entdecken und erfühlen, bis auf ein paar wilde Hunde irgendwo rechts von ihm, aber die schienen zu schlafen.

    Vor einem freistehenden Haus nahe der Bahnschienen hielt er inne und lauschte. Bis auf den fernen Schrei eines Kauzes und das Wehen des Windes blieb alles ruhig. Er überquerte die Straße und öffnete das Gartentor. Es quietschte leise. Hier unten quietschte und klapperte alles. Gab man nicht Acht, stürzte eine Ruine in sich zusammen, wenn man ihr nur ein wenig zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Doch selbst verglichen mit den besser erhaltenen Häusern der Unterstadt wirkte dieses Haus wie eine Villa. Statt Brettern verfügte es über richtige Glasscheiben in den Fenstern. Und nur in zwei von ihnen prangten Sprünge. Kralle strich über das kalte Metall des Türschlosses. Es sah einfach zu knacken aus. Zu einfach. Jedenfalls dafür, dass die Bewohnerin angeblich diesen wertvollen Ring besaß, den der Schmuggler Panes um jeden Preis wollte.

    Er zog einen behelfsmäßigen Dietrich aus einem gebogenen Nagel aus der Manteltasche und stocherte mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem im Schloss. Schon nach wenigen Sekunden sprang es auf. Er schlüpfte in den Hausflur.

    Lautlos schlich er durch das Erdgeschoss, öffnete jede Tür und spähte in die dahinterliegenden Räume. Kaum Licht drang durch die geschlossenen Vorhänge, doch es genügte ihm, um die groben Umrisse zu erkennen. Wohnstube, Küche, Baderaum. Hier würde sie ihn bestimmt nicht verstecken. Jedenfalls hätte er das nicht getan, hätte er diesen Ring besessen, und sein Instinkt täuschte ihn nur selten.

    Er blickte die Treppe hinauf. Die Bewohnerin des Hauses schien zu schlafen, ihre Aura fühlte sich langsam an. Obwohl er nicht viel wog, knarrte die erste Stufe der Holztreppe, als er seinen Fuß daraufsetzte. Aufmerksam horchte er. Alles blieb still. So behutsam er konnte, erklomm er Stufe für Stufe und atmete erst auf, als er das obere Geschoss erreichte.

    Neben dem Flur gab es nur einen Raum. Vorsichtig öffnete er die Tür. Grelles Licht stach in seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Alarmiert versteckte er sich hinter der Wand.

    Nach wie vor regte sich nichts. Langsam wagte er einen weiteren Blick in den Raum. Das Licht, eigentlich nur ein Glimmen, stammte von einem roten Schimmerstein, der auf einem kleinen Tisch in einer Ecke lag. Sanft pulsierte das Licht des Kristalls. Fast vergaß Kralle seine eigentliche Mission. Ein echter Schimmerstein, faustgroß, und das hier! Den konnte er nicht einfach hierlassen.

    Weiterhin gab es einen Schreibtisch, auf dem mehrere Bücher lagen, einen dunklen Holzschrank und eine schmale Pritsche, auf der er die Gestalt einer schlafenden Frau erkannte. Sie musste mindestens hundert Jahre alt sein. Ihr schrumpeliges Gesicht erinnerte an zerknittertes Papier und ihre weißen Haare waren so ausgedünnt, dass sie kaum noch welche besaß. Sie schnarchte leise, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter der rauen Decke.

    Er trat in das Zimmer und wühlte alle Schubladen und Fächer des Schrankes und die des Schreibtisches durch. Dort fand er nichts, also wandte er sich der schlafenden Frau zu. Behutsam kniete er sich vor ihr Bett und zog die Decke ein Stück herunter, bis die faltigen Hände auf ihrer Brust zum Vorschein kamen. Er lächelte. Panes hatte recht behalten. Der Ring an ihrer rechten Hand war mit Abstand der schönste, den er jemals gesehen hatte. Geformt wie eine sich um den Finger schlängelnde Echse erschien er beinahe lebendig. Golden glitzernd strahlte er einen gelblichen Schein aus. Vermutlich reflektierte er nur das Licht des Schimmersteins. Die Echse öffnete ihr Maul weit, als würde sie ein Brüllen ausstoßen. Zwei auf Hochglanz geschliffene, grüne Smaragde stellten ihre Augen dar, die so echt aussahen, dass sie ihn zu beobachten schienen.

    Die Frau seufzte im Schlaf und regte sich etwas. Ganz sachte nahm er ihre zerknitterte Hand. Die Berührung ließ ihn erschaudern. Sie schwang anders, als er es bei Menschen kannte. Schneller und kraftvoller. Er löste ihre Hand aus der anderen. Stück für Stück, ruhig und langsam, streifte er den Ring über ihren Finger. Er bewegte ihn über das Gelenk, als sie sich wieder regte. Dabei entglitt ihm ihre Hand. Sie murmelte etwas und drehte ihm den Rücken zu. Lautlos knurrte er. Er beugte sich über sie herüber, um abermals an ihre Hand heranzukommen. Blind tastete er nach ihren Fingern, dem kühlen Metall.

    Triumphierend hielt er den Ring vor sein Gesicht. Er steckte ihn sich an den Finger und betrachtete ihn. Auf seiner dreckigen Haut wirkte er völlig fehl am Platz.

    Er stand auf, schnappte sich im Gehen den Schimmerstein und verfrachtete ihn in die Innenseite seines Mantels. In der Dunkelheit schlich er in den Flur, schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppe ebenso leise, wie er gekommen war, herunter.

    Vor ihm flammte eine Öllampe auf.

    »Gib ihn mir sofort zurück, wenn du lebend aus diesem Haus herauskommen willst!«

    Er erstarrte. Sie stand direkt vor ihm – barfuß, im Nachthemd und hellwach. Ihre aufgerissenen Augen funkelten im Schein der Lampe, ihr feines Haar stand zu allen Seiten ab. Ihre Hände sahen aus wie Krallen und ihr Gesicht war eine wutverzerrte Fratze, auf der das gelbe Licht unruhig tanzte. Ihre Falten wurden lebendig, krabbelten wie Käfer auf ihren Zügen herum.

    Ohne länger zu zögern machte Kralle auf dem Absatz kehrt und raste die Stufen wieder hinauf, zurück ins Schlafzimmer. Hinter ihm krachten Schritte auf die Treppenstufen. Er hastete zum Fenster. Ehe er es erreichte, stürzte sie in den Raum und baute sich breitbeinig hinter ihm auf. Einen kurzen Moment starrte Kralle sie nur fassungslos an. Sie konnte nicht so schnell sein für ihre klapprige Statur! Obwohl ihn das Grauen packte und er nichts als fort von hier wollte, versagten seine Beine. Er schien am Boden festzukleben, während sie einen Schritt näherkam. Drohend hob sie ihre Hände. Die Adern auf ihrer Stirn traten hervor und zogen ein verästeltes Muster über ihr Gesicht.

    »Ich sage es dir noch ein letztes Mal, elendiger Dieb: Gib mir den Ring zurück, oder du stirbst!«

    Ihre Worte gaben ihm die Kontrolle über seine Beine zurück. Er eilte die letzten zwei Schritte zum Fenster, schnappte sich einen Blumentopf und schlug damit die Scheibe ein. Die Frau kreischte auf. Er widerstand dem Reflex, sich die Ohren zuzuhalten, kletterte auf die Fensterbank und sprang. Kurz war er schwerelos.

    Schmerz flammte in seinen Füßen auf. Er stürzte nach vorn und fing seinen Sturz mit den Händen ab. Der raue Pflasterstein zerschnitt seine Handflächen. Ein ohrenbetäubender Knall und ein heller Blitz. Erschrocken drehte er sich um. Über ihm klaffte ein riesiges Loch in der Mauer. Hellrotes Licht drang aus dem Zimmer, doch es schien kein Feuer zu sein. Steine stürzten um ihn herum zu Boden. Splitter trafen ihn. Schützend hielt er sich die Arme über den Kopf. Atemlos sprang er auf und rannte davon. Er hastete die Straße hinunter, um eine Kurve und hinein in dunkle Gassen. In dieser Dunkelheit würde sie ihn nicht finden.

    Er blieb stehen und unterdrückte seine stoßartige Atmung. In seinen Ohren pochte das Blut. Sein Herz schlug wie wild. Hinter sich hörte er stampfende Schritte.

    »Verdammt noch mal«, wisperte er und huschte weiter.

    Vor ihm tauchte ein Stapel Kisten auf. Er kroch dahinter, zog den Kopf ein und grub seine Finger in das raue Holz. Während er stumm zu Foedynac betete, lauschte er den näherkommenden Schritten. Die seltsame Aura der Frau näherte sich wie eine unsichtbare Wand, umfing ihn. Er hielt den Atem an.

    Die Schritte wurden langsamer … und hielten ein. Sie stand direkt vor den Kisten.

    Totenstille.

    Ein hämisches Lachen ertönte. »Komm heraus, ich kann dich riechen!«

    Vorsichtig lugte er über die Kisten. Die Frau lauerte witternd wie eine Raubkatze in der Gasse. Rechts versperrten Trümmerteile den Weg. Der einzige Weg führte an dieser Frau vorbei. Was war sie? Ein Monster? Seine lautlosen Flüche galten seiner eigenen Dummheit. Vor lauter Panik hatte er sich selbst in diese Zwickmühle gebracht.

    In die Kisten, die ihn verbargen, fuhr Leben. Als habe sie ein starker Windstoß gepackt, polterten sie zu beiden Seiten weg. Kralle fuhr hoch. Schutzlos stand er dieser Kreatur gegenüber.

    Sie fletschte ihre braunen Zahnstummel und ballte ihre Krallenhände. »Hier versteckst du dich also, Dieb!« Mit Hass in den Augen trat sie auf ihn zu. Zum Verschwinden war es längst zu spät.

    Denk nach, denk doch nach!

    »So, mein dummer, sehr, sehr dummer Dieb«, fauchte die Alte. »Möchtest du, dass ich meinen Ring aus deinen toten Fingern zurückhole, oder gibst du ihn mir freiwillig? Wenn du das tust, bereite ich dir ein schnelles Ende. Wenn nicht, wird diese Angelegenheit schmerzhafter für dich.« Mit ihren langen Fingernägeln strich sie an seiner Kehle entlang und pustete ihren fauligen Atem in sein Gesicht. Er wollte wegrennen, doch sein Körper bewegte sich nicht. Nur sein Herz raste in der Brust.

    Die Frau grinste. »Du willst ihn mir nicht zurückgeben? Dann soll es so sein.« Sie hob ihre Arme.

    Endlich überwand er seine Starre. Er zog sein Schießeisen aus dem Hosenbund und hielt der Kreatur den Lauf gegen die Stirn. Zitternd lag seine Hand am Abzug.

    Die Frau grinste immer noch. »Du willst mich erschießen? Nur zu.«

    Kralle drückte ab. Der Schuss klingelte in seinen Ohren, der Rückschlag fuhr hart in seine Hand. Beinahe ließ er die Waffe fallen. Der Kopf der Alten zuckte zurück. Ein dunkelroter Fleck erschien auf ihrer Stirn. Sie stolperte zurück und wischte sich beinahe überrascht einen Bluttropfen aus dem Auge. Wann fiel sie endlich tot zu Boden? Niemand überlebte so eine Verletzung!

    Langsam blickte sie auf, sah ihm in die Augen und lächelte wieder. Das konnte nicht wahr sein! Hastig kramte er in seiner Manteltasche nach mehr Munition. Mit seinen zitternden, verschwitzten Fingern bekam er keine Patrone zu fassen.

    Die alte Frau fuhr sich nochmals über die Stirn, verschmierte das Blut auf ihrer Haut. Strauchelnd setzte sie einen Fuß vor den anderen.

    Kralle fuhr herum und rannte dem Ausgang der Gasse entgegen. Über die Schulter blickte er zurück. Die Alte machte einige Schritte in seine Richtung, hielt inne und schwankte. Sie riss die schlotternden Arme hoch, um das Gleichgewicht zu halten. Endlich fiel sie auf die Knie.

    Kralle blieb stehen, wühlte abermals in der Manteltasche und zog eine Patrone heraus. Er stockte. Es musste die Aufregung sein. Was er sah, konnte nicht real sein. Es war schier unmöglich! Die erhobenen Hände der Frau glühten hellrot. Ein Lichtblitz flammte auf. Etwas traf ihn wie ein Ziegelstein am Kopf.

    Hämmernder Schmerz an seiner Schläfe.

    Stöhnend hob er den Kopf. Die Welt schien verzerrt, es dauerte einen Moment, bis er wieder scharf sehen konnte. Auf allen Vieren bewegte sich diese Kreatur auf ihn zu, ihr Gesicht blutverschmiert.

    Er sprang auf und stolperte nach hinten. Der Ring! Wo war der Ring? Gehetzt drehte er sich um sich selbst. Da lag er, nur wenige Schritte entfernt. Die Alte krabbelte darauf zu. Kralle sprang nach vorn und schnappte ihn. Kreischend riss die Frau die Arme hoch, in ihren Handflächen dieses rote Glühen. Kralle wollte wegrennen, aber Schwindel überkam ihn. Er schwankte. Schwarze Schatten huschten an ihm vorbei, schwärzer noch als die Nacht. Fremde Stimmen drangen an sein Ohr, flüsterten ihm Dinge zu, die er nicht verstand.

    Renn weg!

    Seine Beine versagten. Undeutlich sah er die Kreatur vor sich, doch sie wirkte verschwommen, als befände sie sich hinter einer schmutzigen Glasscheibe. Ihre Augen weiteten sich. Ihr Blick huschte hin und her.

    »Wo bist du? Wo bist du?« Ihre Stimme klang verzweifelt, in ihren Augen lag Verwirrung.

    Er schüttelte den Kopf und wankte zurück. Bei Foedynac, was geschah hier? Die Welt um ihn herum verdunkelte sich weiter, die Farben verschwanden, alles nur noch schwarz …

    »Du kannst dich nicht ewig verstecken!« Die Stimme klang von weit her, kaum noch zu verstehen.

    Ein Stoß an seinem Rücken. Hinter ihm eine Hauswand. Schlagartig klärte sich sein Kopf.

    Die Kreatur kniff die Augen zusammen und riss die leuchtenden Hände hoch. »Da bist du!«

    Er drehte sich um und rannte, so schnell er konnte. Hinter ihm ertönte ein Kreischen.

    Weg, nur weg!

    Immer wieder drehte er sich um. Die Kreatur folgte ihm nicht.

    Endlich erblickte er vor sich die Laternen des Argolviertels und ließ die verlassenen Ruinen hinter sich. Die Häuser sahen hier nicht viel besser aus, aber zumindest musste man nicht stets in Sorge sein, dass einem der Boden unter den Füßen wegbrach oder eine Mauer auf den Kopf fiel. Er zügelte seine Schritte und atmete tief durch. Trotz der späten Stunde herrschte Trubel auf den Straßen, in einem Hauseingang hockten einige Argols rauchend und trinkend zusammen und grölten schiefe Lieder. Nur einige Schritte weiter saßen ein paar Jungen um ein kleines Feuer mitten auf der Straße und brieten Ratten an Stöcken. Aus manchen der Fenster drang noch Licht, die lautstarken Stimmen eines Mannes und einer Frau tönten aus einem von ihnen.

    Ein Besoffener torkelte Kralle entgegen, in seiner Hand eine halbvolle Bierflasche. Der Mann blieb schwankend stehen, zog seine Mütze vom Kopf und breitete die Arme aus. »Der König der Straßen«, grölte er. »Dass ich dich hier mal treffe! Wo kommst’n her, so spät nachts?«

    Kralle verdrehte die Augen und versuchte, ihm auszuweichen, aber der Mann schlang einen Arm um seine Schultern und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht an ihn. Kralle schwankte. Mit voller Wucht traf ihn eine Geruchsmischung aus Alkohol, Schweiß und Urin. Angewidert wandte er den Kopf ab.

    »Na, hast ein paar Menschen abgezogen? Was haste denen abgenommen? Gold? Silber? Diamanten? Kann ich mal seh’n?«

    »Bin nur auf dem Heimweg«, brummte Kralle und versuchte, den Kerl von sich zu schieben, aber dieser klammerte sich an seinen Mantel.

    »Willst nach Hause?«, lallte er. »Da musste aber vorher noch mit mir bei Graubach vorbeischauen, hä? Komm, hast dir doch noch ’n Bier zur Nacht verdient.«

    »Lass mal.« Der Schreck saß noch viel zu tief, er wollte nur nach Hause. Etwas energischer drückte er den Mann von sich.

    »Waas?«, rief dieser. »Ne, ne, so kommste mir nicht davon …«

    »Hey, Parlo«, brüllte einer der Jungen vom Lagerfeuer. »Lass Kralle los. Komm lieber her, kriegst auch eine Ratte.« Er winkte mit einem Stock, an dessen Spitze verkohltes Rattenfleisch hing. Endlich ließ der Kerl von Kralle ab und wankte auf die Kinder zu. Kralle richtete sich den Mantel und huschte weiter. Den restlichen Weg begegneten ihm nur wenige Leute und diese ließen ihn in Ruhe.

    Endlich erreichte er die Dachsburg. Gerade noch war er überzeugt gewesen, sein Zuhause niemals wieder zu sehen, aber hier stand er, am Leben. Ob diese Kreatur noch lebte? Natürlich nicht! Einen Kopfschuss überlebte niemand.

    Tief atmete er durch. Vorsichtig zog er seine Beute aus der Manteltasche. In der Dunkelheit der Nacht sah er, dass der Ring tatsächlich leuchtete. Götter, war er froh, wenn er dieses Ding morgen loswurde. Er beeilte sich, von der Straße zu verschwinden. Durch ein Loch in der kahlen Hecke gelangte er in den Garten des alten Anwesens, der heute eher einem Wald glich. Mittlerweile verdeckten Efeu und andere Kletterpflanzen das Haus gänzlich. Von dem ehemaligen Prunk der alten Vorstadtvilla ließ sich heute nicht mehr viel erkennen. Er kämpfte sich durchs Gestrüpp bis zu einer mächtigen Kastanie. Zwischen ihren Wurzeln kniete er sich hin, fegte eine Schicht trockener Blätter zur Seite und öffnete eine Holzklappe in der Erde. Er sprang hinein und schloss die Klappe hinter sich.

    In dem niedrigen und dunklen Tunnel konnte nicht einmal er noch etwas erkennen. Gebückt huschte er den Tunnel entlang, strich über die trockene Erde zu beiden Seiten und hörte Sandkörner auf die Erde rieseln. Am Ende des Tunnels öffnete er eine weitere Klappe und kletterte in den einzig begehbaren Teil des Erdgeschosses, der gerade einmal drei mal zwei Schritte maß. Um ihn herum befanden sich Trümmer. Die höheren Geschosse des Hauses ruhten darauf. Er fand es stets erstaunlich, dass ihnen trotz zahlreicher Winterstürme noch nicht die Decke auf den Kopf gefallen war. Lediglich ein leichtes Schwanken und Knirschen verriet manchmal die instabile Lage ihres Heimes. Vielleicht hielten einzig die Ranken und Kletterpflanzen das Haus noch zusammen.

    Mit schweren Beinen stieg er die schiefe Holztreppe in den oberen Teil des Gebäudes hinauf. Der Rest seiner Bande schlief in den vielen Zimmern, also machte er dabei keinen Lärm. Die Treppe in den zweiten Stock schleppte er sich ebenfalls hoch und erklomm als letztes eine Leiter zum Dachboden, dem größten Raum in der Dachsburg. Aber er besaß nicht so viel, um den ganzen Platz zu füllen. Lediglich ein kaputtes Regal mit seinen Habseligkeiten in einer Ecke, einen kleinen, runden Tisch mit einem Stuhl in der anderen und eine dünne Matratze, die an der gegenüberliegenden Wand von der Bodenklappe aus auf den Dielen lag. Gespannte Tücher über seinem Lager sollten Ungeziefer wie Ratten oder Spinnen fernhalten und schützten zumindest ein wenig vor Kälte. Den Kamin konnten sie auch im tiefsten Winter nicht anzünden; ein rauchender Schornstein erschien einer gesuchten Diebesbande etwas zu auffällig.

    Er zog seine Stiefel aus, schleuderte sie achtlos davon und legte seinen samtenen, grünen Mantel über die Stuhllehne. Seine Mütze schnippte er auf den Tisch. Zwischen den Tüchern um sein Bett tauchte ein Gesicht auf. Muschel sah ihn mit ihren großen, türkisfarbenen Augen an. Dunkelblonde Locken umrahmten ihr Gesicht. Sie lächelte. Es ließ sein Herz dahinschmelzen. Er lächelte zurück.

    »Kralle«, wisperte sie. Bei ihr war er nicht der König der Straßen. Auch nicht der beste Dieb der Stadt, sondern einfach nur er. Ihr Anblick beruhigte sein noch immer hüpfendes Herz. Er atmete hörbar aus.

    Muschels Augen verengten sich. »Warst du was trinken?«

    »Was?« Ihm entfuhr ein Lachen. »Nein, ich hatte … eine Art Zusammenstoß mit einem Besoffenem.«

    Muschel grinste. »Ach so, das erklärt den Geruch.« Ihre Augen weiteten sich. »Hast du ihn?«

    Kralle behielt Hemd und Hose an, sonst fror er noch, kroch in das provisorische Zelt und schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke. Er zog den Ring hervor und zeigte ihn ihr. »Er leuchtet. Metall sollte eigentlich nicht leuchten.«

    Muschel nahm ihm den Ring ab und betrachtete ihn von allen Seiten. Sanft beleuchtete der Stein ihr Gesicht. Sommersprossen sprenkelten ihre hellen Wangen und mit ihren ovalen Pupillen ähnelte sie einer Katze kurz vorm Sprung. Vor Staunen vergaß sie, ihren Mund zu schließen. »Oh, ich hatte nicht gedacht, dass er so schön ist. Die Echse sieht ja aus, als würde sie leben. Aber du hast recht – dass er leuchtet, ist nicht normal.« Sie gab ihn ihm zurück. »Lief alles reibungslos?«

    Kralle prustete los. »Reibungslos? Na ja … Die Besitzerin hat versucht, mich zu töten und das hätte sie auch beinahe geschafft.«

    Muschel stützte sich auf seine Brust und strich ihm eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was? Du hast doch erzählt, sie sei uralt.«

    »Das stimmt auch.« Er schüttelte den Kopf und betrachtete seine Hände. »Ist das hier ein Traum?«

    Muschel zwickte ihn in seinen Arm. »Nein und wenn doch, dann bin ich darin gefangen. Warum fragst du so etwas?«

    Er schüttelte sich. »Weil ich es einfach nicht glauben kann, was dort geschehen ist. Willst du wissen, was ich denke?«

    Muschel zupfte ungeduldig an seinem Ärmel. »Schon die ganze Zeit! Spann mich doch nicht länger auf die Folter!«

    Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich glaube, sie war eine Hexe!«

    So wie sie es immer tat, wenn sie etwas nicht glaubte oder erstaunlich fand, zog sie die Augenbrauen hoch. »Eine Hexe?«

    In schnellen Worten erzählte er von seinen Erlebnissen. Seinen seltsamen Schwindelanfall ließ er weg. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen um ihn machte.

    »Es gibt keine Hexen oder Zauberer mehr in diesem Königreich«, entgegnete sie. »Livon hat sie alle vernichten lassen.«

    »Weiß ich doch, aber ich weiß auch, was ich gesehen habe. Vielleicht hat er eben nicht alle erwischt.«

    »Und du hast sie getötet?«

    Er schluckte. »Ich glaub schon.«

    Muschel fuhr ihm durchs Haar und lächelte aufmunternd. »Dann soll sie uns nicht weiter interessieren.«

    Kralle wickelte den Ring in einen Stofffetzen ein. Das Bündel verfrachtete er weit weg von ihrem Bett. Er konnte es kaum erwarten, ihn morgen loszuwerden. Egal, was Muschel sagte, um ihn zu beruhigen, geheuer war ihm die Sache überhaupt nicht.

    »Ich habe noch etwas«, sagte er.

    Muschel richtete sich neugierig auf. »Echt?«

    »Ja.« Kralle stand auf und zog den Schimmerstein aus seiner Manteltasche. Rötliches Licht breitete sich im Zimmer aus. Vorsichtig nahm Muschel den Kristall in beide Hände und drehte ihn hin und her, während Kralle zurück unter die Decke kroch.

    »Hast ja gute Beute heute Nacht gemacht. Willst du ihn verkaufen?«, fragte Muschel mit glänzenden Augen.

    »Nein. Er ist für dich. Ein Geschenk.«

    Muschel lächelte und küsste ihn auf die Wange. »Danke schön. Morgen überlege ich mir einen Ehrenplatz dafür.«

    Sie platzierte den Stein auf dem Boden und legte Kralles Mantel darüber. Dunkelheit hüllte sie ein.

    »Hältst du es immer noch für schlau, mit Panes Geschäfte zu machen?«, murmelte sie, während sie sich an ihn kuschelte und ihren Kopf auf seine Schulter legte.

    »Ich hab es noch nie für schlau gehalten. Aber er verspricht einen guten Preis. Das Geld können wir gebrauchen.«

    »Hoffen wir, dass er sein Versprechen auch hält.«

    Wenig später atmete sie langsam und regelmäßig. Kralle blieb trotz seiner Erschöpfung noch lange wach. Zu viele Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher. Als er irgendwann doch einnickte, zuckte er wieder hoch. Er hatte doch irgendwas Schnüffeln gehört?

    2. Spiele

    Ally

    Die Jubelrufe der Zuschauer klangen in Allys Ohren wie das Kreischen von hungrigen Geiern. Sie schallten so laut, dass sich Relas Geschrei kaum noch von ihnen unterscheiden ließ. Aber Rela jubelte nicht. Ihre Schreie klangen spitz und schrill. Ally hockte im Schatten der Steinmauer. Sie ließ Sand durch ihre zitternden Finger rieseln und zwang sich hinzusehen.

    Die heiße Mittagssonne schien grell auf die Arena und brachte den Sand zum Strahlen. Die Zuschauer, die in Scharen auf den erhöhten, runden Tribünen saßen, spannten Schirme gegen die Sonne über sich auf oder sie warfen sich Jacken und Stoffe über den Kopf. Einige der feinen Damen wedelten sich mit spitzenbespannten Fächern Luft zu. Die meisten Menschen schienen sehr darauf bedacht, ihre kostbaren Gewänder nicht mit Schweißflecken zu ruinieren, aber sie schwitzten alle. Ally rümpfte die Nase. Wie sehr schwitzende Menschen nur stanken!

    Rela lag in der Arena auf dem Bauch und strampelte mit Armen und Beinen, vergebens. Staubwolken stiegen auf. Auf ihrem Rücken saß ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen und wilden, zu allen Seiten abstehenden Locken. Sie stieß ein irres Lachen aus.

    Ally ballte die Fäuste. »Komm schon, Rela. Mach irgendetwas.«

    Das Mädchen griff in Relas Haare und entlockte ihr einen weiteren Schrei. Am liebsten wollte Ally aufspringen und in die Arena eilen, um Rela von ihrer mordlustigen Gegnerin zu befreien, doch das nützte keinem etwas. Sie würde erschossen werden und Rela trotzdem sterben. Das Mädchen warf den Kopf zurück, zeigte die spitzen Eckzähne und fauchte. An ihr gab es nichts argolisches mehr. Sie glich einem wilden Tier, das ihre Beute riss.

    »Komm schon, Rela«, murmelte Ally wieder, obwohl sie allmählich jegliche Hoffnung verlor. »Komm schon. Hör auf, da herumzuliegen und zu schreien. Tu doch irgendwas!«

    Das irre Mädchen zog ein langes, schmales Messer aus ihrem Gürtel und rammte es in Relas oberen Rücken, direkt ins Herz. Ihre Aura zerplatzte, zerstob in tausend Einzelteile und verflüchtigte sich. Rela schrie ein letztes Mal und erschlaffte für immer. Ally schluckte. Das Mädchen ließ grinsend von ihr ab. Das Publikum brach in tosenden Applaus aus. Mit gerecktem Kinn und noch immer grinsend breitete das Mädchen die Arme aus und drehte sich in alle Richtungen. Die Menschen jubelten und klatschten lauter, ihr Gegröle schmerzte in Allys Ohren.

    Dreckig und staubig lag Relas Körper zu Füßen ihrer Mörderin. Blut färbte ihr knappes, zerfetztes Hemd und sickerte in den Sand. Ihre zerzausten, dunkelbraunen Haare verdeckten ihr Gesicht.

    Ally schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Der Tod war nur der Schlüssel zu einer anderen Welt. Vielleicht kam Rela jetzt in eine bessere, schönere als diese.

    Ally blickte wieder auf. Das irre Mädchen sah ihr ins Gesicht. Sie grinste immer noch, neigte leicht den Kopf und ließ ihre Augen sprechen. Komm heraus aus dem Schatten, damit ich mit dir genau dasselbe machen kann.

    Ally hielt dem Blick stand und verzog keine Miene. Sie würde keine Angst zeigen.

    Hinter ihr ertönten Schritte. Schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen kam Othar auf sie zu und hockte sich neben sie auf den Boden. Er strich sich die verklebten, hellblonden Locken aus der Stirn. Schweißtropfen rannen sein schmales Gesicht herunter. Sein Hemd erschien braun vom Staub und unter den Achseln zeichneten sich nasse Flecken ab. Sein säuerlicher Gestank drang in Allys Nase. Sie hielt die Luft an.

    Othar rang nach Atem. »Hast du … das gerade gesehen?«, keuchte er. »Diese Göre hat sie umgebracht. Unsere Rela. Wie entsetzlich!«

    Ally schwieg.

    Othar schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich habe noch nie eine bessere Kämpferin gesehen. Sie wird es dir wirklich schwer machen.«

    Ally schwieg noch immer und beobachtete zwei Jungen, die den Körper ihrer toten Freundin von dem Sandplatz schleiften. Man würde sie wahrscheinlich irgendwo verbrennen, doch Othar ging bestimmt nicht mit ihr zur Bestattung.

    Dieser tippte mit seinen schwieligen Fingern auf ihre Brust. »Du bist auch ein wahres Talent, das weißt du, oder? Die beste Kämpferin, die ich je besaß. Ich will, dass du sie erledigst. Diese Kreatur da draußen verdient es nicht, zu leben. Außerdem gehört sie zu einem meiner größten Rivalen und er soll niemals siegen!«

    Ally fehlte die Lust, einen teilnahmsvollen Gesichtsausdruck zu mimen. »Ich gebe mein Bestes«, murmelte sie.

    Othar raufte sich die Haare. »Nein! Du wirst nicht nur dein Bestes geben, du wirst gewinnen! Wir sind pleite, hast du vergessen? Wir brauchen diesen Gewinn!« Er beugte sich verschwörerisch vor und fügte hinzu: »Damit kommen wir unserem Haus am Fluss ein ganzes Stück näher. Stell dir das nur mal vor – du musst nur noch diese eine hier besiegen und noch zwei oder drei, und danach brauchst du nie wieder in die Arena.« Er lächelte und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Dann leben wir friedlich in unserem Haus und du kannst einfach die Seele baumeln lassen. Ich werde dich einfach als Haushaltshilfe melden, dann bist du keine Kämpferin mehr. Du könntest nach dem Aufstehen eine Runde im Fluss schwimmen und dann ein köstliches Frühstück genießen und dich von Dienern verwöhnen lassen, die ich extra für dich einstellen werde. Du wirst leben wie eine Prinzessin. Stellst du dir das nicht wunderbar vor?«

    Ally rümpfte die Nase. Als ob. Sie kannte ihn seit ihrem elften Lebensjahr und immer noch, fünf Jahre später, besaß er so wenig Geld, dass er sich meistens nicht einmal eine Unterkunft leisten konnte.

    Langsam schob sie seine Hände weg und stand auf. »Deine Reden kannst du dir sparen. Egal, wie viele Kämpfe ich noch gewinnen werde, wird das Geld niemals für dein Haus am Fluss reichen, weil du es immer, immer, immer versäufst! Abgesehen davon will ich gar nicht wie eine Prinzessin leben. Ich werde dieses irre Mädchen trotzdem besiegen. Nicht für dich und dein dämliches Haus, sondern für Rela. Hast du das verstanden?«

    Othar stand ebenfalls auf und rieb sich über das Gesicht. »Na schön, dann viel Glück in der Arena«, murmelte er kleinlaut. »Und glaub mir, ich werde um dich weinen, wenn du heute auch noch stirbst.«

    Ally kam fast das Frühstück wieder hoch. Bevor sie etwas erwidern konnte, tauchte ein Mann hinter ihnen im Gang auf und bedeutete Ally mit einer fuchtelnden Handbewegung, dass sie hinausmusste. Zeit zum Blutvergießen.

    Sie atmete tief durch und trat aus dem Schatten auf die sandige Fläche. Die Hitze schlug ihr wie eine Wand entgegen. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Die Zuschauer raunten aufgeregt, als sie Ally erblickten. Immerhin befand sie sich schon in der dritten Stufe und hatte sich in den Vorrunden der Spiele gut geschlagen. Das irre Mädchen war nur in der fünften Stufe, aber wenn sie heute gewann, standen ihre Chancen gut, ebenfalls aufzusteigen. Sie hockte auf der anderen Seite der Arena und trank mit großen Schlucken Wasser aus einem Tonkrug. Dort, wo Rela gestorben war, färbten Blutstropfen den Boden rot. Allys Herz begann wild zu pochen. Sie presste die Zähne zusammen.

    Rache.

    In der Mitte der Arena kniete sie sich hin, ohne ihre Gegnerin aus den Augen zu lassen. Diese stellte den Krug beiseite, stand auf und stolzierte auf sie zu. Drei Schritte entfernt kniete sie sich hin, auf ihren Lippen ein überhebliches Lächeln.

    »Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen wir zum spannendsten Teil dieses Tages. Dem Finale«, verkündete mit quäkender Stimme der Kampfrichter Enad Knapp, ein berühmtes Gesicht bei Kinderkämpfen. Er stand am Rand des Platzes unter einem Sonnenschirm und trug einen lilafarbenen, mit schrill grünen Federn verzierten Hut. Seltsame Hüte schienen ihm zu gefallen, Ally kannte ihn nicht anders.

    »Unsere Finalistinnen der heutigen Spiele sind Alyssa Dorma von Othar Sourke und Nummer Fünf von Edden Broin. Während Alyssa ihre Gegner meisterhaft geschlagen, aber verschont hat, hat die Kämpferin von Broin heute bereits drei Leben auf dem Gewissen.« Enad Knapp fasste in allen Details jeden Zweikampf dieses Tages zusammen, aber Ally hörte nicht mehr zu. Knapp redete immer viel zu viel, er sollte mal seinen Namen ändern. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Gegnerin und versuchte, Schwachstellen herauszufinden, die ihr später vorteilhaft sein konnten. Sie probierte es zunächst mit Provokation.

    »Sie haben dir nicht mal deinen Namen gelassen?«, säuselte sie. »Nur noch Nummer fünf? Kein Wunder, dass du gerne jeden töten möchtest, der dir über den Weg läuft. Das würde ich auch tun, wenn ich du wäre.«

    »Halt dein vorlautes Maul oder ich schneide dir als erstes deine Zunge heraus!« Die blauen Augen des Mädchens blitzten.

    Nur nicht so freundlich!

    Ihre Augen kamen Ally seltsam vor. Sie waren zu blau und die ovalen Pupillen nur hauchdünne Striche. Außerdem fühlte sie sich unangenehm an, ihre Aura wirbelte schnell und chaotisch um sie herum. Blutdorn. Nicht gut. Der Glaube, unbesiegbar zu sein, machte Leute auf Blutdorn aggressiv und gefährlich. Eigentlich durften Kämpfer keine Drogen einnehmen, um ihre Leistung zu steigern, aber das interessierte sowieso keinen. Hauptsache, das Publikum bekam einen spektakulären Kampf.

    Ally spürte den rauen Sand unter ihren nackten Füßen und die brennende Sonne auf ihrem Kopf. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Enad Knapp beendete seinen Vortrag. Er nahm einen Schlägel in die Hand und ließ ihn auf einen mächtigen Gong niedersausen. Ein durchdringender Ton erdröhnte und hallte an den steinernen Tribünen wider. Das Publikum jubelte.

    Sofort sprang ihre Gegnerin auf und stürzte sich auf Ally. Im letzten Moment rollte sie sich weg und kam auf die Füße. Das irre Mädchen geriet ins Taumeln. Schnaufend drehte sie sich zu Ally um, die noch immer im Staub hockte. Mit einem Schrei griff sie abermals an. Ally hob schützend die Arme vor ihren Oberkörper und ihr Gesicht, wich zurück und duckte sich unter den schnellen Schlägen des Mädchens hinweg. Sie spürte nur Lufthauche. Das Mädchen drängte sie knurrend zurück, in den Augenwinkeln sah Ally den Rand der Arena näherkommen.

    »Du bist feige«, zischte das Mädchen und schlug zu. Krachend schmetterte ihre Faust auf Allys Unterarmknochen. Ein Kribbeln fuhr durch Allys Körper, das nicht vom Schmerz herrührte, sondern von der Berührung an sich. Der Blutdorn in ihren Adern schien das Mädchen regelrecht aufzuladen. Ally biss die Zähne zusammen und ließ ihre Deckung weiterhin oben.

    Das Mädchen lachte, hell und laut. »Du bist genauso feige wie deine Freundin. Mach es mir doch nicht so leicht. Wenn du so weitermachst, ist das hier das langweiligste Finale in der Geschichte der Spiele!« Sie holte wieder aus. Ally wich dem Schlag aus und erwiderte nichts. Diese Taktik kannte sie.

    Das Mädchen grinste. Während sie zu einem weiteren Schlag ausholte, gab sie ihre Deckung für einen winzigen Moment auf. Ally machte einen Satz nach vorn und schlug ihr so fest sie konnte ins Gesicht. Der Wangenknocken des Mädchens knirschte unter ihren Knöcheln. Das Mädchen keuchte auf, blinzelte und wankte einen Augenblick. Ally nutzte ihre Benommenheit und legte mit einem festen Schlag in ihre Rippen nach. Stöhnend taumelte das Mädchen zurück. Bebend hob sie ihre Arme. Ally packte sie an beiden Handgelenken und rammte ihr das Knie in den Bauch. Das irre Mädchen krümmte sich zusammen und stöhnte. Wutentbrannt funkelte sie Ally an. Sie krallte sich mit den Fingern in Allys Hemd und entwand ihren anderen Arm.

    Ein Brennen durchzuckte Allys Wange. Warmes Blut rann ihr Gesicht und ihren Hals hinunter. Grinsend hob das irre Mädchen ihre scharfen Fingernägel. Hastig stieß Ally ihre Gegnerin fort.

    Wachsam umkreisten sie sich. Das Publikum raunte, trommelte mit den Füßen auf die Holzplanken. Ein Chor rief Allys Namen. Sie wischte sich das Blut und den Schweiß aus dem Gesicht und stürmte mit geballten Fäusten los.

    Das Mädchen wich ihrem Schlag gegen den Kopf aus und zückte im gleichen Augenblick ihre lange, tödliche Klinge. Ally duckte sich weg. Schmerz explodierte an ihrer Schulter. Das Publikum raunte. Verdammt! Sie zwang sich, den Schnitt nicht anzusehen. Es fühlte sich an, als müsse er übel aussehen. Tief atmete sie durch. Sie durfte nicht schwach werden.

    Ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen, zog sie ebenfalls ihr Messer, eine schmale, gebogene Klinge, die ein wenig aussah wie eine zündelnde Kerzenflamme. Das Blut rann ihre Brust hinunter und durchnässte ihr Hemd. Der Schmerz legte sich wie ein Summen über ihre Gedanken, verschleierte ihre Sicht und schwächte ihre Konzentration. Sie bemühte sich, ihn zu verdrängen, während sie sich in Stellung brachte.

    Schreiend stürzte sie sich auf das Mädchen. Sie wollte der Irren die Klinge in den Bauch rammen! Sie wollte sie am Boden liegen sehen! Wollte sie bluten sehen!

    Ihre Gegnerin setzte sich mit großen Schritten in Bewegung. Ally hob ihr Messer. Das Mädchen sprang ab und drehte sich in der Luft. Es fühlte sich an, als würde Ally mit voller Wucht gegen eine Wand laufen. Die Welt drehte sich, ein Aufprall gegen ihren Rücken. Er presste ihr die Luft aus den Lungen. Die gleißende Sonne blendete sie.

    Das Mädchen erschien über ihr und blockierte mit den Knien ihre Hände. Sie schnappte sich Allys Messer und warf es fort. Ally wand sich, aber sie saß fest. Das Gesicht des irren Mädchens schwebte dicht über ihrem.

    »Du arme Kleine.« Ihre Stimme klang zuckersüß, dennoch lag eine unverhohlene Drohung darin. »Jetzt wirst du sterben, wie deine erbärmliche Freundin. Wirst du genauso schön schreien oder bist du zu stolz dafür? Ich glaube, als erstes werde ich dir die Augen ausstechen.« Lachend hob sie ihr Messer über Allys Gesicht.

    Ein letztes Mal versuchte Ally, sich zu befreien, aber vergeblich. Sie erntete nur mehr Gelächter von dem irren Mädchen.

    »Vergiss es«, zischte sie, »es ist aus. Du bist tot.«

    Noch nicht. Eine Sache gab es noch, die sie retten konnte. Es war Zeit für ihren Trumpf, ihren besonderen Trick. Ally schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Viel Zeit blieb ihr nicht, möglicherweise nicht einmal mehr Sekunden.

    »Komm, komm, komm zu mir«, flüsterte sie, vergaß das Gewicht ihrer Gegnerin über sich, hörte nicht mehr ihr Gelächter und das tosende Publikum.

    Das ist ein Traum.

    Es zählte nur ihr Herzschlag und das Fließen ihres Blutes. Diesen Kampf durfte sie nicht verlieren. Sie musste Rela rächen.

    Sie kamen. Aus dem sandigen Boden drangen sie in ihre Hände ein, in ihre Füße, in ihren Nacken. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Ally riss die Augen auf und erkannte ein weißes Blitzen dicht über ihrem rechten Auge. Das irre Mädchen hielt inne und riss unmerklich die Augen auf. Ruckartig zog Ally ihre Hände unter den Knien des Mädchens hervor und stieß sie gegen ihre Brust. Die Energie aus dem Boden machte Allys Arme kräftig und den Stoß heftig. Das Mädchen keuchte erschrocken auf. Mit dem Rücken zuerst landete es auf dem Sand. Ally sprang auf und setzte sich auf ihren Oberkörper, ehe sie sich wieder aufrappeln konnte. Sie klaubte dem Mädchen das Messer aus den Fingern.

    »Ich werde dir nicht die Augen ausstechen. Ich will, dass du mein Gesicht siehst, wenn du stirbst.« Ally schwang das Messer und schnitt Relas Mörderin die Kehle durch. Blut quoll hervor, rann ihren Hals hinab und versickerte im Sand. Die Menge tobte, aber das hörte Ally kaum.

    Beinahe überrascht starrte ihre Gegnerin sie an, während sie ihre letzten, gurgelnden Atemzüge tat. Ihre Augen verloren den Glanz und ihr Kopf kippte auf den Boden.

    Achtunddreißig.

    Sonst kam sie sich vor wie ein Monster, wenn sie jemanden töten musste. Heute durchflutete sie grimmige Befriedigung, während sie das blutverschmierte Gesicht des irren Mädchens betrachte. Argola hin oder her, manche verdienten es nicht besser.

    Langsam erhob sie sich und ließ ihren Blick über die Zuschauer schweifen, die sich von den Plätzen erhoben und ihr zujubelten. Ihr, der Siegerin des Kampfes. Die Schmerzen an ihrer Schulter pochten immer schlimmer, drangen allmählich vollends in ihr Bewusstsein. Und auch die Schnitte auf ihrer Wange brannten. Vorsichtig zog sie das dunkelrot gefärbte Hemd herunter und begutachtete ihre Schulter. Vor lauter Blut erkannte sie nicht, wie tief der Schnitt war.

    Enad Knapp dackelte zu ihr in die Arena, die grünen Federn seines Huts wippten im Takt seiner Schritte. Er zog sich einen Handschuh an, nahm ihre blutige Hand und stieß sie in die Luft. »Applaus für Alyssa Dorma!«

    Das Klatschen der Menge klang wie heftiger Regen, der gegen eine Fensterscheibe prasselte. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Othar eilte aus dem Schatten des Tunnels unter den Tribünen und baute sich mit geschwollener Brust und einem breiten Grinsen im Gesicht neben Ally auf.

    Nachdem Ally eine ganze Weile das Gebrüll und Geklatsche über sich ergehen lassen musste, trat feierlich ein junges Mädchen in einem weißen Spitzenkleid zu ihnen. Sie trug einen prall gefüllten Sack, der bei jedem Schritt klimperte. Sie reichte ihn an Knapp weiter.

    »Das Preisgeld für die Siegerin beträgt dreißig Zenn«, verkündete er.

    Ally stutzte. Dreißig? Das war viel zu viel. Sie hätte höchstens zwanzig gewinnen dürfen, zumal sie zu zweit angetreten und die Chancen auf einen Sieg dadurch erhöht waren. Es sei denn …

    »Alyssa hat uns mit ihrer Leistung alle überzeugt. Mit den heutigen Spielen steigt sie in die zweite Stufe auf.«

    Es dauerte einen Moment, bis Knapps Worte ihren Verstand erreichten. Zweite Stufe. Othar strahlte und machte Anstalten, sie zu umarmen. Er zog seine Arme aber angewidert wieder zurück, immerhin bedeckten sie Dreck, Schweiß und Blut.

    »Zweite Stufe«, rief er. »Das heißt, fortan bekommen wir vierzig Prozent des Eintrittsgeldes, wenn wir gewinnen! Das ist fantastisch!« Dankend nahm er das Geld an, hielt es hoch und erntete weiteren Applaus.

    Ally sagte nichts. So viel hatte sie noch nie gewonnen. Mehr als zehn, manchmal fünfzehn Zenn gab es in den meisten Fällen nicht. Aber hier in Eoriver, einer Hochburg der Kinderkämpfe, durfte es sie eigentlich nicht überraschen. Hier gab es hunderte, wenn nicht gar tausende Menschen, die vernarrt in die Spiele waren und nicht wussten, was sie mit ihrem Geld anfangen sollten. Stumm stand sie da und wartete, bis die Leute mit dem Applaudieren aufhörten und langsam die Tribünen verließen.

    »Komm, ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte Othar. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen und steuerte auf einen fetten Mann zu, der im Schatten der sandigen Fläche stand. Mit einem Seidentuch tupfte er sich den Schweiß von seinem roten Gesicht. Auf seinem Kopf sprossen nur noch wenige Haare und seine Gewänder sahen, soweit Ally das beurteilen konnte, ziemlich teuer aus. Der dunkelrote Stoff seines Jacketts schien aus Samt zu sein und silberne Fäden durchzogen es. Er blickte Ally mit glänzenden Augen an. Ein wenig so, wie Othar gerne Wein ansah oder Ally ein Stück Kuchen, wenn sie eines bekam.

    »Das ist Herr Katur. Er hält sehr viel von deinem Können«, erklärte Othar. »Er ist sogar schon zu anderen Orten gereist, wenn er wusste, dass du dort antrittst. Hier in Eoriver hat er seinen Wohnsitz und würde uns beide gern zu sich nach Hause einladen, richtig?«

    Der fette Mann nickte heftig, wobei sich sein Kinn mehrmals hintereinander in Falten legte. »Oh ja, das ist richtig. Hier bei uns gibt es die Tradition, dass nach den ersten Spielen im Jahr ein Fest gefeiert wird, zu dem alle Anhänger und Zuschauer eingeladen sind. Dieses Jahr fiel die Wahl auf mich als Gastgeber, und es wäre doch wunderbar, wenn auch die Siegerin des heutigen Kampfes dabei wäre. Selbstverständlich könnt ihr auch bei mir und meiner Frau wohnen, solange ihr in der Stadt bleibt. Es wäre uns eine Ehre, euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen.« Erwartungsvoll schaute er Ally an.

    Ein Fest? Seit ihrer frühesten Kindheit war sie nicht mehr auf einem Fest gewesen und an das konnte sie sich kaum erinnern. Ob es dort wohl Kuchen gab? Auch die Aussicht auf ein weiches Bett und ein Dach über dem Kopf klang verlockend. Tagelang hatten Ally, Rela und Othar nur in einem schäbigen Pferdewagen gelebt, während sie durch die Wüste zu dieser Stadt gefahren waren.

    Othar klopfte Herrn Katur auf die Schulter. »Na klar. Wir nehmen das Angebot sehr gerne an. Nicht wahr, Ally?«

    Sie nickte und versuchte ein Lächeln.

    Katur klatschte in die Hände. »Na dann, kommt mit. Wir fahren nach Hause. Bis zum Fest bleiben noch einige Stunden Zeit, bis dahin zeige ich euch das Haus und ihr könnt euch frisch machen und etwas essen.«

    Ally befühlte vorsichtig ihre heiße Schulter und folgte den beiden Männern durch einen zweiten Tunnel aus der Arena hinaus. Sie blickte sich noch einmal um. Hinter ihr schleiften die zwei Jungen die Leiche des irren Mädchens aus der Sonne.

    3. Prinzessin Revell

    Adrale

    »Ist er nicht ein richtiger Wonneproppen, mein Kleiner?«, plapperte Herzogin Elena Gowais und kniff ihrem Sohn in die Wange.

    Prinzessin Adrale nickte und zog innerlich eine Fratze. »Ein hübscher Wonneproppen.« Hilfesuchend warf sie einen Blick zu ihrem Ehemann. Charmant lächelnd scherzte er mit seinem älteren Cousin, doch ein genauerer Blick offenbarte die Konversation als gestelzt und erzwungen. So wie Adrale schien keiner der Anwesenden es sonderlich angenehm zu finden, miteinander zu sprechen. Doch die höfische Etikette erforderte es so. Den König beschäftigten heute zu wichtige Angelegenheiten, um die Familie seines Neffen Herzog Campis Gowais begrüßen zu können. Darum fiel diese Aufgabe seinem ältesten Sohn und dessen Ehefrau zu.

    Die kleine Gesellschaft saß in einem Salon am Teetisch. Der Kamin brannte und strahlte angenehme Wärme aus. Die späte Nachmittagssonne kämpfte sich immer wieder durch schwere Wolken und erhellte den Raum gelegentlich durch die halb zugezogenen Spitzengardinen.

    »Die Geburt war nicht einfach.« Elena seufzte. »Er wollte einfach nicht auf die Welt. Er ließ sich so viel Zeit, dass die Ärzte schon glaubten, sie müssten ihn aus meinem Bauch herausschneiden. Aber dann kam er doch noch.« Sie kicherte entzückt. »Und nun seht ihn Euch an. Prachtvoll, nicht wahr? Der kleine Mann wird eines Tages zu einem stattlichen Herrn heranwachsen!«

    Das mochte sein, aber vor allem brauchte er eine Brille. Das Kind schielte schon jetzt, als habe es einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Adrale nippte an ihrem Tee und lächelte mit schmerzenden Wangen. Bedauerlicherweise konnte sie trotz ihres Status nicht wählen. Sie musste bei diesem elendigen Treffen dabei sein, obwohl ihr hundert andere Dinge einfielen, die sie lieber getan hätte. Durch Campis Gowais Adern floss zwar königliches Blut, doch er besaß nur einen einfachen Herzogstitel und wenig Reichtümer. Die einzige Absicht dieser Leute schien zu sein, durch ihren Besuch die Beziehungen zur Königsfamilie zu stärken, um irgendwelche Privilegien zu erhalten.

    »Ach, ich bin ja so glücklich, dass ich nun endlich in den Genuss kommen durfte, Mutter zu sein. Es ist wirklich ein Segen«, fuhr Elena fort und zwirbelte eine blonde Locke.

    Adrale wollte am liebsten die Augen verdrehen und laut stöhnen. Bei Eiwe, diese Frau quasselte seit einer Stunde, und jeder zweite Satz handelte von ihrem Wunderkind. Sehnsüchtig warf sie einen Blick auf die Wanduhr über dem Kamin. Siebzehneinhalb. Wann war dieses Treffen endlich vorbei?

    »Das kann ich mir vorstellen«, antwortete sie. »Ich kann es kaum erwarten, bis es bei mir so weit sein wird.« Ihr Magen zog sich allein beim Gedanken daran zusammen.

    Verschwörerisch lächelnd beugte Elena sich vor und senkte die Stimme, damit die Herren nicht lauschten, obwohl diese ohnehin vertieft in ihre Gespräche schienen. »Wie ist es denn bei Euch?« Ungeniert betrachtete sie Adrales Bauch, der sich kein bisschen wölbte. Adrale war schon immer zu dürr gewesen und entsprach damit nicht gerade dem Idealbild der Frau mit weicher Haut und runden Kurven. Ihren Gemahl schien das nicht zu stören. Im Gegenteil: Er liebte ihre Gestalt.

    »Ich bin nicht in Umständen.« Adrale fuhr über ihren Ohrstecker, das Zeichen ihrer Ehe, und warf ihrem Ehemann verstohlen einen Blick zu. Dieser lauschte mit vermutlich gespieltem Interesse einer Ausführung von Herzog Gowais über seine Weinplantagen.

    Sie hatte es sich nicht ausgesucht, Eadon Revell zu heiraten. Ihr Vater wollte sie schon seit Langem an der Seite des Kronprinzen sehen. Vor zwei Jahren hatte er sie an den Hof des Königs geschickt, all ihrem Betteln und Flehen zum Trotz. Damals war sie erst fünfzehn gewesen. So sehr sie ihren Vater auch liebte, für das, was er ihr damit angetan hatte, würde sie ihn ihr Leben lang verfluchen.

    Die Herzogin kicherte wieder. »Seid Ihr sicher? Es wird eine große Freude für Euch und Euren Gemahl sein, wenn Ihr es erfahrt.«

    Adrale atmete tief durch. Dennoch konnte sie die Ungeduld in ihrer Stimme nicht ganz vermeiden. »Ich bin mir doch sehr sicher.«

    Allmählich verschwand Elenas Lächeln. »Oh nein, macht Euch keine Sorgen! Eure Hochzeit ist schließlich noch nicht lange her.« Kurz blitzten ihre Augen verächtlich. Adrale versuchte, es zu übersehen. Sollte die Frau doch denken, was sie wollte.

    Elena richtete den Spitzenkragen ihres hellblauen Kleids. »Ich war drei Jahre lang mit meinem Gemahl verheiratet und fürchtete schon, ich sei krank und könne ihm niemals ein Kind schenken. Doch dann kam dieser Brocken hier.« Sie wuschelte ihrem Sohn überschwänglich durch das feine Haar. »Habt noch ein wenig Geduld, dann wird es auch bei Euch so weit sein.« Mit einem spitzen Unterton fügte sie hinzu: »Glücklicherweise seid Ihr keine dieser Frauen, die nur heiraten, weil sie ein Kind austragen und sich vor den Konsequenzen fürchten, die sie sonst erwarten. Ich halte solche Geschöpfe für eine Schande, weil sie Eiwes Gesetz nicht achten wollen. Furchtbar, wie sie sich anbiedern und den heiligen Bund der Ehe brechen, nur um etwas … Aufregung zu bekommen! Diese Frauen haben keine Ehre und sie erlangen sie auch nicht zurück, wenn sie sich noch schnell vermählen, obwohl es längst zu spät ist.« Mit ihren langen Fingern schnappte sie sich einen Keks aus der Gebäckschale und führte ihn zum Mund. Während sie kaute, schaute sie verträumt aus dem Fenster.

    Unter dem Tisch ballte Adrale die Fäuste. Vor ihrem inneren Auge sprang sie auf und ging dieser feinen Dame an die Gurgel. Elenas entsetzter Blick musste sicher wunderbar anzuschauen sein.

    Bleib ruhig, Adrale. Ignorier es einfach.

    Tief atmete sie durch. »Kennt Ihr denn derartige Frauen? Ich umgebe mich jedenfalls nicht mit solch verdorbenen Seelen.« Diese Frau bekam von ihr nicht, was sie wollte. Die Herzogin wollte doch nur hören, dass Adrale nichts weiter als ein ehrenloses Flittchen war, die nicht auf ihre Hochzeit hatte warten können. Zurück in der Heimat würde sie ihren Freundinnen erzählen können, sie habe sie ja persönlich getroffen, die sogenannte Hure des Prinzen und all die Gerüchte über sie seien wahr. Adrale kämpfte schon seit einer ganzen Weile mit diesem unrühmlichen Ruf, den sie ihrem damals noch nicht Gemahl verdankte. Hatte er sich anfänglich noch darum bemüht, ihre Treffen zu verheimlichen, so war mit der Zeit jegliche Diskretion flöten gegangen.

    Elena schnappte nach Luft. »Natürlich nicht! Ich kenne diese Frauen nur vom Hörensagen.« Mit erhobener Nase und einem »Tss« drehte sie sich zu ihrem Mann um.

    Adrale atmete auf. Wie oft hatte sie sich derartige Sticheleien anhören müssen? Als Eadon ihr öffentlich einen Antrag gemacht hatte, war das Geflüster zu einer Welle der Beleidigung angeschwollen. Sie habe ihn mit schändlichen Mitteln verführt, ihn vielleicht sogar verzaubert, warum sonst hätte ein Königssohn eine Schlampe wie sie zu seiner Frau gemacht?

    »Darf ich mich nach Neuigkeiten aus der Stadt erkundigen?«, fragte Herzog Gowais, während er mit den Ringen an seiner Hand spielte. »Mir kam zu Ohren, die Stadtwache hätte kürzlich zweihundert neue Männer eingestellt. Die Argols in den Elendsvierteln scheinen ein wahres Problem zu sein.«

    Eadon nickte, während er an den goldenen Manschetten seines schwarzen Seidenhemds fummelte. Unmerklich zog er die Stirn in Falten. »Allerdings. Sie kommen aus allen Richtungen, regelrecht in Scharen. Nicht verwunderlich – aus dem Neuen Reich werden sie vertrieben, wenn nicht getötet und im Westen finden sie wegen der großen Dürre kein Essen und Wasser mehr, also machen sie sich auf den Weg in diese Stadt, und warum? Weil es sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass Scola ein hervorragendes Zuhause für Diebe und Kriminelle bietet.«

    »Da war es die richtige Entscheidung, die Stadtwache aufzustocken. So kann es schließlich nicht weitergehen!« Gowais Stimme klang eine Spur zu bewegt.

    »Ja, es war meine Entscheidung.«

    »Ach, tatsächlich?« Der Herzog beugte sich vor und riss interessiert die Augen auf. »Wirklich,

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