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Buch der Wohnungen
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eBook293 Seiten3 Stunden

Buch der Wohnungen

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Über dieses E-Book

Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir »Ich« sagen? Sind wir ein Leben lang dieselben? Lassen wir nicht immer etwas zurück, wenn unser Leben eine Wendung nimmt? Und wo bleibt all das? In den Wohnungen, in denen wir gelebt haben? Bewahren sie die Erinnerung an uns und an die, die vor uns darin lebten, an gedachte Gedanken, ungedachte, nicht zu Ende gedachte? Andrea Bajani erzählt in seinem virtuos gebauten Roman aus dem Leben eines Mannes – anhand der Wohnungen, in denen er lebte: von seinen Freundschaften, von einer Ehe, in die er sich geflüchtet hat, von vielen Verletzungen, der Entdeckung von Sex und Poesie und davon, wie er sich befreit hat, von einer Familie, die sich selbst zu zerstören drohte. Von Wohnung zu Wohnung geht es, hin und her in der Zeit: Der Mann ist der junge Liebhaber einer verheirateten Frau in einer Provinzstadt, er ist das Kleinkind, das in einer römischen Wohnung einer Schildköte nachkrabbelt, er ist Ehemann in einer Wohnung in Turin, Bohemien in einer Mansarde in Paris und erfolgreicher Geschäftsmann in einem Londoner Hotel, er ist der Junge, der in einer Ferienwohnung vom Vater verprügelt wird, und der Student, der auf einer Matratze übernachtet. Und manchmal jemand, der einfach die Tür einer leeren Wohnung hinter sich zuzieht.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum13. Okt. 2022
ISBN9783311703723
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    Buchvorschau

    Buch der Wohnungen - Andrea Bajani

    In Memoriam

    A.A.F.

    Xaver antwortete, dass das Zuhause weder ein Wäscheschrank noch ein Vogel im Käfig sei, sondern die Gegenwart des Menschen, den man liebe. Und dann sagte er zu ihr, dass er selbst kein Zuhause habe, oder anders gesagt, dass er es in seinen Schritten, seinem Gang, seinen Reisen habe. Dass sein Zuhause dort sei, wo unbekannte Horizonte sich öffneten. Dass er nur leben könne, wenn er von einem Traum in den anderen, von einer Landschaft in die andere schreite.

    Milan Kundera, Das Leben ist anderswo

    1.

    Souterrainwohnung, 1976

    Die erste Wohnung hat drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Bad. Der Raum, in dem das Kind schläft, das wir der Einfachheit halber Ich nennen werden, ist in Wirklichkeit eine Abstellkammer mit einer Liege. Sie ist ein wenig feucht, wie übrigens die ganze Wohnung. Sie hat kein Fenster, ist aber gemütlich und nah an der Küche. Das Geschirrklappern, das regelmäßige Tock-Tock des Messers auf dem Schneidebrett, das laufende Wasser im Spülbecken gehören wahrscheinlich zu Ichs frühesten Erinnerungen, auch wenn er sich nicht daran erinnert. So, wie er sich auch nicht an das dumpfe Geräusch beim Schließen des Kühlschranks erinnert oder an den ruckartigen Widerstand, wenn man ihn aufmacht. Es ist die kleine Polyphonie der Küche: ein Schlagzeug aus Metall mit Kontrapunkten von Keramik, Wasserstrahl, Kühlschrankbrummen und Rattern der Abzugshaube überm Herd.

    Die Wohnung liegt unter Straßenniveau. Um sie zu betreten, muss man eine Wendeltreppe ins erste Untergeschoss hinuntersteigen oder den Lift nehmen. Im Eingang, in dem ein roter Läufer zur Treppe hinführt, riecht es ganz anders als im Untergeschoss, wo sich durch die Feuchtigkeit ein Kellergeruch in den Räumen ausgebreitet hat. Im Übrigen befinden sich die Keller auf der gleichen Ebene wie Ichs Wohnung und außerdem noch zwei massive Holztüren, hinter denen nicht näher bekannte Familien leben.

    Aber nicht die ganze Wohnung liegt unter Straßenniveau. Das Esszimmer, die Küche, das Bad und die Schlafzimmer gehen nämlich auf zwei Innenhöfe hinaus. Esszimmer, Küche und Bad zur einen Seite, Schlafzimmer zur anderen. Diese Innenhöfe oder Betongärten befinden sich in der Mitte einer Anlage von fünf- oder sechsstöckigen Mehrfamilienhäusern, die in den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurden.

    Tritt man in den Hof hinaus, hebt man unwillkürlich den Kopf. Ichs Großmutter – ab hier Oma – vollzieht jeden Morgen dasselbe Ritual: Sie geht hinaus, reckt den Hals und schaut senkrecht zum Himmel, um zu sehen, wie das Wetter ist. Dann geht sie wieder hinein.

    Drinnen in der Souterrainwohnung hat man den Eindruck, draußen sei es immer bewölkt. Die Fenster zu den beiden Betongärten lassen kaum Tageslicht in die Zimmer. Deshalb knipst man beim Betreten der Wohnung im Flur eine Lampe an.

    In dieser Dunkelheit macht Ich seine ersten Bewegungen. Gegenstände und Möbel werfen Schatten auf den Fußboden, die ausufern und die Wohnung überschwemmen; sie erklimmen Tische, Fensterbänke, die Obstschale aus Keramik, die immer mitten auf dem Tisch steht. Ich lernt, sich zwischen diesen Schatten zu bewegen, danach zu treten, von ihnen überwältigt zu werden. Wenn er durch die Wohnung krabbelt, verschwindet er manchmal in einem Schatten oder lässt nur eine Hand oder einen Fuß draußen, die einsam im Hellen bleiben: Ich wird von der Dunkelheit in Stücke gehackt, lässt Teile von sich auf dem Teppich liegen.

    In der Souterrainwohnung werden die Lichter nur zum Schlafen gelöscht oder wenn man ausgeht: Der Raum wird der Dunkelheit, seinem natürlichen Element, zurückgegeben. Vier Schlüsselumdrehungen, Stimmen auf der Treppe und dann Stille. An dem Punkt lösen sich die Schatten gänzlich von den Gegenständen, lassen sich zu Boden fallen, unterwerfen jeden Zentimeter, erobern die Wohnung.

    In dem Hof, auf den Küche, Bad und Esszimmer hinausgehen, lebt Schildkröte. Sie lebt vorwiegend hinter den Blumentöpfen oder in ihrem Panzer zurückgezogen. Selten sieht man sie ins Offene kommen. Nur wenn Oma hinaustritt, läuft sie ihr plump quer durch den Hof entgegen; sie klopft mit ihrem Bauchpanzer mehrmals auf den Boden, die immer gleiche Rhythmik ihrer Fröhlichkeit. Oma hebt sie hoch und spricht mit ihr; sie zappelt mit den vier runzeligen Beinchen in der Luft und probt so mit Omas Hilfe den Flug zwischen den hohen Häusern, die den Himmel in ein Viereck zwingen. Dann kehrt sie hinter die Blumentöpfe zurück, das Salatblatt mitschleifend, das Oma ihr gebracht hat und das sie nach und nach vertilgen wird, indem sie es mit ihrem Hornschnabel zerpflückt, bis nichts mehr übrig ist.

    Schildkröte ist das erste Tier, dem Ich sich in der Souterrainwohnung gegenübersah. Und außerdem ist Ich der einzige Mensch – abgesehen von Oma –, dem Schildkröte ihren Kopf zeigt und aus dem Panzer entgegenstreckt.

    Ich besucht sie im Hof, er weiß, wo sie zu finden ist: Im Eiltempo krabbelt er quer durch den Betongarten zu ihr hin, mit der jeden Tag rascheren Kadenz seiner Knie. Die Begegnung findet immer hinter den Blumentöpfen statt. Ich schlägt mit flachen Händen auf den Panzer von Schildkröte, ein aufgeregtes, festliches Getrommel. Dieses Stammesgetrommel – Ich thront auf dem Boden auf seiner weichen Windel – ist vermutlich das erste Ritual, das Ich vollzieht. Ich schlägt rhythmisch auf den Panzer, und Schildkröte streckt den Kopf heraus.

    Schildkröte ist auch das erste Lebewesen, das Ich sich zum Vorbild nimmt: Im Gegensatz zu fast allen anderen Kindern, die jede Art von Grünzeug verabscheuen, verlangt Ich unweigerlich Kopfsalat zum Essen. Auch die Fortbewegungsart ist bei Schildkröte abgeschaut: lange Augenblicke der Unbeweglichkeit in den versteckten Ecken der Wohnung, gefolgt von unvermittelten Beschleunigungen im Flur.

    Wenn die beiden sich von Angesicht zu Angesicht auf dem Boden treffen, lacht Ich immer laut. Dann nähert er sein nacktes Füßchen dem Maul von Schildkröte und stupst mit dem großen Zeh an ihren Kopf. Ichs großer Zeh und Schildkrötes Kopf haben die gleiche Form, und deshalb ist Ich überzeugt, dass sein Kopf im Fuß sitzt. In der Vorstellung seiner ersten Lebensjahre ist Ich also eine Schildkröte mit zwei Köpfen. Ich und Schildkröte begrüßen sich durch die Füße des Kindes.

    Die Souterrainwohnung befindet sich auf einem der sieben Hügel Roms.

    Auf dem Gipfel des Hügels schieben jeden Tag zwei Soldaten der italienischen Armee eine Kanone aus den Befestigungen heraus. Schlag Mittag feuern sie eine Salve auf Rom ab. Die Anwesenden klatschen dieser Inszenierung Beifall – die italienische Armee, die auf ihre Hauptstadt schießt. Häufig bringt das Getöse die Kinder zum Weinen, während die Eltern ihnen vergeblich die Bedeutung dieser Fiktion zu erklären versuchen und den Unterschied zwischen dieser und der Wirklichkeit. Die Explosion hört man kilometerweit, ihre Druckwelle überrollt das Panorama, dasselbe, auf das es auch die Fotoapparate der dort anwesenden Personen hartnäckig abgesehen haben.

    In der Souterrainwohnung leben Vater, Mutter, Schwester, Oma. Und Ich.

    2.

    Ofenwohnung, 1998

    Die Grundsteinlegung war der Erwerb des Fernsehapparats, der nun auf einem Kachelboden in Cotto-Optik steht. Es ist ein Elektrogerät kleinen Formats – 14 Zoll steht auf der Verpackung –, hat aber die Macht, die Menschen zu sich herunterzuziehen: Ich legt sich auf den Boden, zur Seite gedreht wie ein Etrusker auf dem Sarkophag, und betrachtet den hellen Bildschirm.

    Gekauft hatte er das Gerät aus purem Instinkt, Jahrmillionen der Evolution der Spezies, zusammen mit den Genen erworbenes Wissen. Da er sich in Turin immer noch kaum auskennt, ist er in das einzige Geschäft für Elektrogeräte gegangen, das ihm einfiel, weil er zehn Monate lang jeden Tag mit der Straßenbahn daran vorbeigefahren ist: Es ist in der Peripherie, an der Auffahrt zur Stadtautobahn, und verkauft Fernseher, Mixer, Waschmaschinen und vieles mehr, alles im Schaufenster ausgestellt wie eine Landschaft der Effizienz.

    Ichs Busfahrt zu seinem ersten Zuhause als junger Mann mit Examen war also ein erhebendes Ritual. Er ist mit dem Panasonic-Karton in den 55er eingestiegen, hat sich bei allen für die Ausmaße entschuldigt und auf die sperrige Verpackung verwiesen. Sobald ein Platz frei wurde, hat er den Karton auf den Sitz gestellt und blieb daneben stehen, um ihn zu bewachen. An der zwölften Haltestelle, gezählt nach dem schnaufenden Geräusch beim Öffnen der Türen, ist er ausgestiegen, mit dem Karton unter dem Arm dreihundert Meter zu Fuß gegangen und dann vier Stockwerke hinaufgelaufen.

    Aus dem Blick seines Mitbewohners – Eigentümer der Wohnung, ein Mann um die sechzig, unzweifelhaft das Abbild eines persönlichen Schiffbruchs – sprach heimlicher Jubel und überzeugter Tadel: Er will die Gebühr nicht zahlen, will keinen Ärger, weiß aber, dass er von der Anschaffung profitieren wird. An die Tür gelehnt hat er zugesehen, wie Ich den Fernseher aus dem Styropor genommen, ihn auf den Boden gestellt und den Knopf gedrückt hat. Im ersten Sender, den er hereinbekam, erschien eine gut gekleidete Sprecherin und war die einzige weibliche Präsenz in jenem Zimmer.

    Dass es ein vorübergehendes Zuhause ist, erkennt man eindeutig am Fehlen eines Schranks in Ichs Zimmer, obwohl seit seinem Einzug schon eineinhalb Monate vergangen sind. Der offene Koffer neben dem schmalen Bett dient ihm als Kommode für seine Kleider. Außerdem gibt es weder eine klare Abmachung noch einen gültigen Vertrag zwischen ihm und dem Mitbewohner. Das Geld wird formlos an jedem Monatsende übergeben, und ansonsten ist die einzige Bedingung die, dass er Dienstagnachmittags bis zum Abendessen wegbleibt, um dem Besitzer seinen wöchentlichen Homosex zu gestatten.

    Was Ichs sexuelle Betätigung angeht – so die unausgesprochene Vereinbarung –, hat er das ganze Wochenende zur Verfügung, wenn der Mitbewohner verschwindet und aufs Land fährt.

    Dieses Zusammenleben wird nicht lange dauern, das ist beiden klar, genau wie beiden klar ist, dass das Zurückdenken daran schöner sein wird, als es jeden Tag zu leben. Es gibt nämlich zwischen ihnen keine andere Beziehung als das Teilen der Fächer im Kühlschrank und eine diskrete, sterile Höflichkeit. Was sich an Leben abspielt, ist vor allem das Leben in den Zimmern. Der Rest der Wohnung zählt nicht: eine enge, fensterlose Küche – sie hat nur eine vergitterte Luke zum Treppenhaus – mit einem Tisch, an dem nur einer essen kann. Und ein Flur, fast ganz verstellt von einem Ölofen, der einzigen Wärmequelle. Das Badezimmer gleich daneben ist der wärmste Ort der Wohnung.

    Wegen des Ölofens findet das Leben in den Zimmern bei offenen Türen statt. Die Alternative ist eine Privatsphäre bei Raumtemperatur; aber es ist Januar, draußen fällt der erste Schnee, der zuerst für Weihnachten und dann für Neujahr versprochen worden war. Die Dächer von Turin sind weiß, auch der Bahnhof, zwei Blocks von der Wohnung entfernt, ist mit Schnee bedeckt, was die Pfiffe der ein- und ausfahrenden Züge dämpft. Kurz, die Privatsphäre besteht aus zwei Pullovern und Zähneklappern.

    Deshalb hat Ich an den Fingern seiner Handschuhe die Spitzen abgeschnitten. Im eisigen Zimmer wärmt er seine Fingerkuppen, indem er auf die Tastatur des Computers hämmert, den er von einem Freund geerbt und im letzten Moment vor dem Abfallcontainer gerettet hat. Es ist ein alter 286, eine ausgestorbene Gattung, die nicht mehr produziert wird, er ist schwerfällig, lahm, visualisiert sehr wenig und sehr langsam. Aber es ist sein erster PC, und deshalb kann keine Kälte die Tragweite dessen schmälern, was Ich die Revolution nennt, den Putsch, der den Fernseher, auf dem Fußboden an den Pranger gestellt, zum Tode verurteilt hat.

    Daher haben die Fenster auf der Straßenseite gegenüber jeden Abend – und später zur Nachtzeit – diese Szene vor sich: einen unter Pullovern begrabenen jungen Mann, manchmal mit Mütze über den Ohren, der hektisch auf den Tasten eines Computers herumhämmert, installiert auf einer aufgebockten Spanplatte, die für den Stuhl zu hoch ist. Das Ganze mitten im Schneegestöber, das den Anblick von Weitem verwischt, falls denn wirklich jemand hinschaut.

    Was man ganz sicher nicht sehen kann, ist die Diskrepanz zwischen Ichs Vehemenz und dem Hinterherhinken der Technologie; zwischen seinem Tippen eiliger Wörter und der Trägheit des Bildschirms, der lange weiß bleibt, verblüfft und überanstrengt, bis er sie alle zugleich zeitversetzt wiedergibt, wenn Ich schon aus dem Satz heraus ist und die Hände in einer Denkpause innehalten. Die Finger über den Tasten erhoben, sieht er die Wörter in einer Reihe auf der weißen Fläche erscheinen, geordnet in gerader Linie voranschreiten, um dann zur nächsten Zeile zu springen und erst anzuhalten, wenn es ein Punkt vorschreibt. Hiernach liest Ich – nun verblüfft und gerührt –, was sie alle zusammen da vorn in Habachtstellung ihm in der Eiseskälte zu sagen gekommen sind.

    3.

    Familienwohnung, 2009

    Die Familienwohnung besteht aus drei Zimmern und Küche. Der Flur ist halbdunkel. Ein Tischchen rechts von der Eingangstür lädt dazu ein, automatisch die Schlüssel abzulegen. Die Kacheln aus gelb-grau gesprenkelter Graniglia am Boden reichen hinten bis in die Küche hinein.

    Zwei Zimmer gehen vom Flur ab, das Esszimmer und das Schlafzimmer von Ich und Ehefrau, beide mit Parkett. Im Esszimmer steht ein schlichtes Bettsofa mit sandfarbenem Bezug. Seine Linie ist so unauffällig, so gewöhnlich, dass man es sofort vergisst, nachdem man es gesehen hat, als wäre es gar nicht da. Gegenüber der Fernseher. Sonst gibt es über diesen Raum wenig zu sagen: ein Tisch, Platte kirschrot lackiert, vier Stühle, auf zwei Seiten angeordnet, potenziell für sechs Leute zum Essen erweiterbar.

    Hinten ein Fenster mit Aussicht auf eine Terrasse auf der Straßenseite gegenüber, wo sich im Sommer ein altes Ehepaar zum Mittag- und zum Abendessen einfindet; im Winter dient sie als Abstellraum. Hinter der Terrasse der Alpenbogen. Bei der ersten Wärme öffnet Ich das Fenster und verbringt dort viel Zeit, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt. Ab und zu kommt der Kopf von Töchterchen hinzu. Manchmal nur ganz kurz, manchmal bleibt sie neben ihm stehen. Sobald jemand auf der Terrasse erscheint, winkt Töchterchen zum Gruß mit der Hand, ohne etwas zu sagen; eine Hand, auch sie stumm, aber liebenswürdig, winkt zurück. Es ist nun schon eine lange Gewohnheit, die sich nie in eine Beziehung verwandelt und nie zu einem verbalen Gruß geführt hat, aber immer freundlich geblieben ist. Eine Angelegenheit, für die allein die Hände zuständig waren.

    Rundherum Wohnhäuser aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, über die Straßen verteilt solides Bürgertum, Konditoreien, am Sonntag Süßigkeiten, Restaurants mit gut, aber unauffällig gekleideten Familien. Zweihundert Meter vom Turiner Hauptbahnhof entfernt.

    Das Zimmer von Ich und Ehefrau ist das größte der Wohnung – etwa dreißig Quadratmeter –, aufgeteilt in einen Schlaf- und einen Wohnbereich. Ein Ehebett mit hellem Holzrahmen steht im hinteren Teil neben einem Fenster mit französischem Balkon. An den Bettseiten je ein hölzerner Würfel, das Design erinnert an Obstkisten, aber für eine zahlungskräftige, postrurale Klientel neu gestylt. Ichs Nachttisch erkennt man an den unordentlich gestapelten Büchern, ein wackeliger Turm. Mehrere aufgeschlagene Bände liegen umgedreht auf dem Boden, wie Libellen in Wartestellung. Weitere Libellen sind über die Wohnung verteilt, auf den Sofalehnen, auf dem Küchentisch.

    Der sogenannte Wohnbereich des Schlafzimmers besteht faktisch aus dem Schreibtisch von Ehefrau: darauf farbige Textmarker, ein Korb mit Scheren und Büroklammern, Hefte, Laptop und Drucker. Auf der Platte rosa und gelbe Klebezettel.

    Das letzte Zimmer ist das von Töchterchen.

    Die Mattglastür ist immer geschlossen. Durch die Scheibe würde man, auch wenn man näher träte, wenig sehen, nur vier Streifen Tesafilm an den Ecken eines Plakats, das fast die gesamte Fläche bedeckt. Es ist ein Poster, das Töchterchen vom Bett aus betrachten kann; von draußen sieht man nur die Rückseite. Ihr Zimmer ist nur als ein Innen gedacht: Das Draußen ist ein umgekehrtes Innen, die Welt von der Seite der Nähte.

    Wenn die Kleine in die Schule geht, bleibt das Zimmer offen. Ehefrau geht hinein und räumt auf, Ich hält gewöhnlich an der Schwelle inne, kann aber schwerlich vermeiden hineinzuschauen. Am Fußboden die gewohnten gelb-grauen Graniglia-Kacheln. Das Bett steht an der Wand. Davor ein weißer Schrank mit zwei Türen, die, wie moosbewachsen, von oben bis unten mit Aufklebern und ein paar Fotos bedeckt sind. Eins mit zwei Freundinnen, eins mit Vater von Töchterchen. Auf einem Bord daneben Stöße von Schulbüchern und ein Foto zusammen mit Ich, Arm in Arm, das höchstwahrscheinlich Ehefrau geknipst hat. Insgesamt ist es schon ein richtiges Zimmer, kein Kinderzimmer mehr.

    Gegenüber die Küche, wenige Quadratmeter Graniglia. Drei Einbaumodule, Farbe Kirschrot, oben und unten, eindeutig an diesen Raum angepasst. Die Arbeitsfläche endet unvermittelt, die Schnittkante offenbart die Spanplatte. Dazwischen steht der Herd mit dem Umluft-Backofen. Auf der Seite gegenüber ein Tischchen mit drei Stühlen. An der Wand hängt eine kleine Tafel mit Töchterchens Wochenplan, unterteilt in Spalten für die Tage und Zeilen für die Stunden.

    Draußen der Blick auf die Garagen und Wohnungen, die zu den umlaufenden Balkonen der anderen Häuser hinausgehen. Dahinter die Hügel. Ein Küchenmodul ist wegen Platzmangel auf den Balkon verbannt worden und dient als Abstellkammer.

    Allgemeiner gesagt: Aus der Möblierung der Familienwohnung kann man leicht schließen, dass hier zwei Einrichtungen zu einer dritten verschmolzen wurden. Leicht lassen sich die Stücke zuordnen – was Ich gehört, was Ehefrau und Töchterchen –, leicht kann man rückschauend die zwei ursprünglichen Wohnungen rekonstruieren, die zwei in einem Experiment zusammengefügten Leben.

    Deshalb verbringt Ich viel Zeit am Tisch sitzend oder auf dem Sofa. Vor allem, wenn er schlecht gelaunt ist oder sie gestritten haben, was übrigens nicht oft passiert: Seine alten Möbel sind sein Botschaftsgebäude, dorthin zieht er sich zurück. Auf dem Sofa kauert er sich zusammen, zieht die Fersen hoch, nicht einmal die Füße sollen den Boden berühren. So verharrt er, bis er sich besser fühlt, dann steht er auf und bewegt sich wieder durch die Wohnung. Sehr oft kommt allerdings Ehefrau zuerst auf ihn zu, um Frieden zu schließen, und dann öffnet Ich die Botschaftstür. Er rückt beiseite, erlaubt, dass sie sich aufs Sofa setzt, heißt sie mit dem Blick willkommen. Wenn

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