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Der Sherpa, du und ich
Der Sherpa, du und ich
Der Sherpa, du und ich
eBook319 Seiten4 Stunden

Der Sherpa, du und ich

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Über dieses E-Book

Als der Sherpa ihn das erste Mal sieht, wirkt der Bergsteiger wie ein Held aus einem Hindi-Film: ein Krieger, groß, stark und unverletzlich, in dessen Augen sich der Himmel spiegelt. Als der Autor das erste Mal vom Bergsteiger hört, ist dies dessen letztes Interview: Drei Wochen später ist «The Swiss Machine» tot, abgestürzt am Nuptse in Nepal. Er wird in einem buddhistischen Ritual im Himalaya eingeäschert. Einige Monate später – während einer eigenen Grenzerfahrung – tritt der Bergsteiger erneut in das Leben des Autors. Nun will er ihn kennenlernen und folgt dessen Spuren. Er ahnt nicht, dass er sich damit auf eine jahrelange Reise begibt. Hier, wo der Extremsportler als Alleingänger am Berg begeisterte, stößt er auf Ablehnung. Aber dort, wo dessen Alleinsein nicht verstanden wurde, trifft er auf den Sherpa Tenji. Dieser war dem Bergsteiger in dessen letzten zehn Jahren ein steter Begleiter und Freund geworden. Auch dem Autor wird Tenji zum Vertrauten und eröffnet ihm die Welt, in der er das Ziel seiner Reise findet. Doch was kommt danach?
Der Sherpa, der Bergsteiger und der Autor: drei Menschen, deren Wege sich jenseits des Vorstellbaren kreuzen – in einem Roman, der die Grenzen des Machbaren auslotet.
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum9. Okt. 2023
ISBN9783729624092
Der Sherpa, du und ich

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    Buchvorschau

    Der Sherpa, du und ich - Armin Biehler

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Vorstieg

    Tritt fassen

    In den Anfang gestürzt

    Ankommen, um wegzugehen

    Pizza in der Nordwand

    Meine Reise zu dir

    Der Schnee des Todes

    Getanztes Leben

    Der Bergtiger

    Die Witwe verwirft

    Tenji fährt Fahrrad

    Seelenflug

    Versprechen auf dünnem Boden

    Allein für mich

    Lawine der Gewalt

    Flucht in den Körper

    Gewürfelt um alles

    Die Göttin geliebt

    Meine Annapurna

    Allein im Selbst

    Aus dem Scheinwerferlicht getreten

    In die Schwäche gefallen

    Auf gutem Boden

    Der Hund

    Die Yakreise

    Ein schwarzer Blitz

    Leichte Asche

    Nachgang

    Über den Autor

    Über das Buch

    Armin Biehler

    Der Sherpa, du und ich

    Autor und Verlag danken für die Unterstützung:

    empty

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021‍–‍2024 unterstützt.

    © 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Thomas Gierl

    Korrektorat: Tobias Weskamp

    Umschlagfoto: Armin Biehler

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub: 978-3-7296-2409-2

    www.zytglogge.ch

    Armin Biehler

    Der Sherpa,

    du und ich

    Roman

    empty

    meinem Vater

    Vorstieg

    Wolkenfetzen tanzen im Wind. Die Luft streicht hart über die Bergkante. Im Auf- und Abschwellen der Winde ist weder Halt noch Orientierung möglich. Sie singen laut, schmettern ihre Fanfaren, und ihre Lust und Freude am Fabulieren flößt Respekt ein. Ihre Geschichte rennt dem Höhepunkt entgegen, weckt Neugierde und verdrängt die Angst. So bleibt das Staunen. Hinter den grünschwarzen Grasnarben nehmen die grauen, dunkel durchfurchten Felsgebilde Kontur an.

    Immer mehr öffnet sich der Blick. Noch ist das Weiß der waagerechten Schneebänder mit den Wolken verwachsen. Doch langsam setzen sich Eis und Fels gegen das unstete, flüchtige Wesen der Luftbilder durch. Nicht, dass dies ein Kampf wäre, nein, die Wand scheint sich bewusst nun Stück für Stück zu entblößen. Augenblicke, in denen ihre sonderbare Verletzlichkeit berührt, um schließlich immer klarere Form zu gewinnen. So offenbart der Berg sein inneres Wesen. Gefestigt im unmissverständlichen Blau des Himmels spendet er in aller Schönheit einen Segen. Hier lebt die Göttin. Stille bemächtigt sich der Situation. Alles Zaudern ist verworfen. In der gebotenen Ehrfurcht lässt sie sich in ihrem Namen fassen: Annapurna.

    Ihre Erhabenheit ist von einer Selbstverständlichkeit durchdrungen, mit der sie ein Lächeln schenkt. Ein Lächeln, das durchaus als Aufforderung zu verstehen ist, ihr näher zu kommen. An der höchsten Linie, der durchgehend weißen Kante entlang, wo darüber das Himmlische anfängt, zeigt sie ihren Körper. Hier entlangzugehen würde bedeuten, Unsterblichkeit zu erlangen. Und im Anblick dieses majestätischen Seins spiegelt sich das Wissen der Göttin, dass sie der unnahbarste Berg aller Berge ist. In diesem gigantischen Halbrund, ebenmäßig von der Wand der Wände begrenzt, bezeugt sie ihr Dasein in grenzenloser Weltabgeschiedenheit. Und die Gnade ihrer Hinwendung nimmt Gestalt an in den senkrecht abfallenden, endlos scheinenden Scharten vom Gipfelgrat hinunter, in den Seiten von massigen Sporen gefasst, um zum weltlichen Bergfuß hin die Landschaft zu ernähren. Sie, die Göttin der Ernte.

    Plötzlich gibt sie krachend ihre Zuwendung auf. Mit ihrer Lust, sich selbst genug zu sein, wechselt sie hemmungslos ihr Kleid. Ihr elegantes Nachtgewand aus gefrorener Nässe schmilzt in der aufsteigenden Wärme des Tages und versetzt das Felsgefüge in rasende Bewegung. Im Fallen schlagen Steine ihren unheimlichen Rhythmus in die Bergflanke und brechen Eisskulpturen von gigantischer Größe aus den Vergletscherungen. Sie zerbersten beim Aufprall und reißen in unzählige Fetzen zerfallende Schneefelder mit in die Tiefe. Eine Staublawine nach der anderen reibt mit zischenden Rufen über die Haut des Berges. Dem sich auszusetzen ist der Preis, der von denjenigen verlangt wird, die es wagen, hier einzusteigen.

    Diese scheinen abgeschlossen zu haben mit dem, was bisher war. Auch was kommen wird, kann sie nicht mehr berühren. Sie gehen in der Suche nach ihrem Weg in der Unsterblichkeit auf.

    Davon war ich weit entfernt, als ich mein Zelt am Bergschrund der Annapurna aufstellte, mich hineinlegte und in die Nacht hörte. Ich döste in der Vorahnung, was noch alles kommen könnte, vor mich hin.

    Tritt fassen

    Er ist noch ein Junge, als er ihn das erste Mal sieht. Als kleiner roter Punkt bewegt sich der Bergsteiger in den Felsmassen. Die Situation hat etwas Unwirkliches. Der Onkel des Jungen begleitet als Koch diesen Versuch einer Erstbesteigung und hat seinen Neffen als Gehilfen mitgenommen.

    Obwohl der Bergsteiger in seiner grellen Farbe in den Felsen wie ein Fremdkörper wirkt, strahlt er Sicherheit aus, als wisse er genau, wo ihn seine Route entlangführt. Doch der Küchengehilfe fragt sich, was der Bergsteiger hier macht, allein. Er ist ihm fremd, und er denkt sich, dass dieser wohl im Auftrag der Menschen in seinem Land hierhergekommen ist. Weil sie dort solche Berge nicht haben, besteigt er sie hier. So will der Fremde ihnen ein Stück davon mitbringen. Er hat gehört, dass dieser bei sich zu Hause dafür sehr bewundert wird.

    Der Bergsteiger greift nach einer Felskante und zieht sich daran hoch. Sein Gesichtsausdruck spiegelt äußerste Konzentration wider, und sein offener Blick sucht nach Halt im Labyrinth der Felsen. Über ihm öffnet sich ein weites Schneefeld, das steil in einen Trichter mündet. Er hält auf einem Vorsprung an und schlägt mit großer Kraft die Eispickel in den Schnee, um zu prüfen, ob ihn das dunkelblaue Eis halten wird. Zufrieden nimmt er Fahrt auf und sprintet mit einer erstaunlichen Leichtigkeit diesen steilen Hang hinauf. Einem Mantra gleich wiederholt er den Ablauf der Pickelschläge mit den abwechselnd nachrückenden Beinen. Die harten kurzen Schläge ins aufspringende Eis im Wechsel mit dem langgezogenen Knirschen der haltfindenden Steigeisen an seinen Füßen geben den Rhythmus. Er fühlt sich offensichtlich wohl.

    Dem Jungen aber kommt diese Landschaft bösartig vor. In der Nacht ist es bitterkalt. Aber am Tag scheint die Sonne grell. Ihre Wärme verbrennt alles. An diesem Ort ist keine Ruhe. Von Tag zu Tag vermisst er die Klostermauern mehr und mehr. Diese haben ihm bis vor Kurzem noch Geborgenheit gegeben. Er war schon als Kind in ein Kloster eingetreten, sechs Tage zu Fuß entfernt vom Haus seiner Eltern. Ihm war dieser Weg vorgegeben, als jüngster von sechs Geschwistern. Früh schon hat ihn das Leben Buddhas angezogen. Immer wieder erzählte ihm seine Großmutter die Geschichten des Prinzen Siddhartha. Deshalb gab es für ihn nur einen Wunsch: Mönch zu werden. Aber heute findet er sich widerwillig an dieser Stelle, wo so viele aus seiner Familie stehen. Sie bringen Touristen auf die Gipfel. Allein wären diese verloren. Und er kennt die endlosen Witze darüber, die sich seine Leute erzählen, wenn sie unter sich sind.

    Der Bergsteiger kommt hoch oben an einem Felsband an. Er klettert in den weiterführenden Kamin. Mal für Mal verschwindet er in den Gesteinsblöcken, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Schließlich ist der rote Punkt nicht mehr zu sehen, und als ob es ihn nie gegeben hätte, steht die Wand in ihrer Unzugänglichkeit da. Im letzten Licht des Tages zeichnen sich die Konturen der Felsformationen aufs Schärfste ab.

    Doch für den Jungen sieht der Fremde nicht aus wie einer dieser hilflosen Touristen. Er ist wie ein Schauspieler aus diesen Hindi-Filmen. Groß, stark, unverletzlich. Ein Krieger, in dessen blauen Augen sich der Himmel spiegelt.

    So berichtete es mir Tenzing Sherpa, der Junge von damals. Gerufen wird er Tenji wie so viele andere Tenzing Sherpa. Wie die zu unterscheiden seien, wollte ich wissen. Ich erinnere mich, dass ich ihn unsicher fragte, ob er denn noch einen anderen Namen habe. Er schien mich nicht zu verstehen, er sei doch der Tenji. Bei denen, die sich für Berge interessieren, der Tenji mit dem Everest ohne Sauerstoff. Und auch der Tenji aus dem Dorf Sanam Gudel im Kreis Mahahulung, dem Bezirk Solo Khumbu, der Provinz Nummer 1 in Nepal. Alle, die ihn kennen, wüssten schon, welcher Tenji gemeint sei, da solle ich mir keine Sorgen machen. Und er lächelte. Ich lächelte ebenfalls, aber mehr aus Verlegenheit, diese Selbstverständlichkeit nicht zu begreifen.

    Später erfuhr ich, dass die Sherpa ihren Kindern oft den Namen des Wochentages geben, an dem sie geboren wurden. Das war bei Tenji jedoch nicht der Fall. Tenzing heißt in seiner Sprache «Beschützer Buddhas». Als ich Tenji stolz mein Wissen mitteilte, lachte er und meinte, es sei gut, dass es so viele Tenzing gebe. Buddha könne nie genug Schutz haben. Sein Name sei ihm Verpflichtung, und wie viele andere Tenzing komme auch er dieser nach. Dazu gebe es viele Möglichkeiten auf ganz unterschiedlichen Wegen.

    In dieser Gleichheit entsteht die Vielfältigkeit der Menschen, die sich im selben Namen verbunden bleiben. Es ist nicht eine einzelne Person, die herausragt, sondern sie sind in ihrer Gesamtheit eingebunden und somit unverwechselbar. Die Verschiedenheit unter Gleichen zählt. So legte ich mir die Situation zurecht.

    Mit dem allgemein gehaltenen Nachnamen Sherpa unterstreiche er seine generelle Zugehörigkeit zur weitverzweigten Volksgruppe der Sherpa. Früher seien keine Nachnamen nötig gewesen. Seine Großeltern hätten das so gemacht, als sie sich in ein Namensregister eintragen mussten. Er sei ein Sherpa, aber nicht alle Sherpa seien auch wirklich Sherpas, gibt er mir noch mit auf den Weg.

    Ich begriff: In dieser Umgebung bist du allein nicht zu begreifen. Das macht einen großen Unterschied zu meinem Selbstverständnis und der Art, wie wir zueinanderstehen, dort wo ich herkomme. Als ich das verstanden hatte, war es möglich, diese Geschichte zu finden. Eine Geschichte der Freundschaft zwischen dem Bergsteiger, der sich als «The Swiss Machine» einen Namen gemacht hatte, und einem Nepali Tenzing Sherpa, den viele im zu kurzgegriffenen Verständnis seines Nachnamens als Träger sehen. Aber ohne Tenji könnte ich diese Geschichte nicht erzählen, dafür bin ich ihm sehr dankbar. Als ich ihn kennenlernte, öffnete sich der Blick zu den Menschen, in die Landschaft und Orte, wo sich alles abspielte. So wuchsen vielfältige Tenjis zu diesem einen zusammen. Sie bedingten einander und waren wiederum nicht ohne den westlichen Bergsteiger zu denken, und dieser nicht, ohne Tenzing Sherpa zu fühlen.

    Das ist meine Geschichte, sie begann vor fünf Jahren.

    An einem Mittag im April hatte ich zum ersten Mal die Stimme des Bergsteigers gehört. Im Radio war er eingeladen, von seinem kommenden Vorhaben im Himalaya zu berichten, einer großen Überschreitung am Everest-Massiv. Es sprach ein Mann, dessen konzentrierte Art mir gefiel. Die Entschiedenheit, mit der er sein Ziel anging, war in einen Realismus eingebettet, der mich beeindruckte. Hier redete kein Abenteurer, sondern ein fokussierter Leistungssportler. Aber es blieb mir auch nicht verborgen, dass er im Unterton meinte, sich für seine Tätigkeit rechtfertigen zu müssen. Oder anders betrachtet: Es war ihm hörbar daran gelegen, sich zu erklären. Er beschrieb, wie er mit seiner Geschwindigkeit das Risiko minimiere, seine Erfahrung ihn schütze, seine körperliche und mentale Stärke Resultat eines harten Trainings sei und er sich als Teil der Geschichte des Alpinismus begreife.

    Er wollte verstanden werden, und als ihn der Reporter fragte: «Sie haben Achttausender in Rekordzeit auf schwierigsten Routen bestiegen und vielfach erlebt, wie die Berge ihre Opfer forderten. Gibt es etwas, was Sie sich nicht trauen?», zögerte er keine Sekunde, und ohne Umschweife hörte ich seine klare Antwort: «Eine Familie zu gründen.»

    Ich dachte: Du, das kann doch nicht wahr sein, was macht dir an der Aussicht, Verantwortung in einer Familie zu übernehmen, mehr Angst als auf Achttausender zu steigen? Ich schaltete das Radio aus und mich streifte abschließend der Gedanke, er werde wohl noch einige Klettereien vollbringen müssen, bis er diese Frage beantworten könne.

    Dazu kam es nicht. Zwanzig Tage später war der Bergsteiger tot. Ausgerutscht an der Südwestflanke des Nuptse, einem Nachbargipfel des Everest, und tausend Meter tief ins Tal des Schweigens gefallen. Es war ein Sonntag. Die Sonne ging mitten in unserer Stadt hinter dem spitzen Kirchturm auf, und der Morgen präsentierte sich vielversprechend in klarem Blau. Ich lag noch im Zelt auf unserer Dachterrasse – und jetzt ertappe ich mich dabei, mich rechtfertigen zu müssen. Nein, bin eigentlich kein Asket, schlafe auf einer großen, bequemen Matratze unter einer Anzahl Bettdecken, die der Jahreszeit angepasst ist, und habe eine Nachttischlampe im Zelt. Aber ich mag es einfach, wenn frische Luft meine Nase kitzelt. Gut, im Winter, bei richtig kalter Temperatur, brauche ich manchmal etwas Überwindung, um die Bettdecken zurückzuschlagen und aufzustehen.

    Das war an diesem Morgen nicht der Fall, als sich mein Mitbewohner bemerkbar machte und fragte, ob ich es schon mitbekommen hätte, «The Swiss Machine» sei abgestürzt. Wie sollte ich? Er hingegen ist Sportkletterer. Seine einarmigen Klimmzüge bei uns im Türrahmen machen nicht nur mir erheblichen Eindruck, sein tägliches Training ist eisern. Er hatte den Bergsteiger an einem Vortrag gesehen, und sogar in seiner Szene hatte dieser durchaus Geltung. Respekt war ihm sicher, obwohl er deutlich älter war und in Bedingungen kletterte, an denen jene, die stundenlang über einen bestimmten Bewegungsablauf am Fels fachsimpeln können, kein Interesse haben. Deren Routen heißen «Ravage», auf Deutsch «Verwüstung», oder «Anarchia» und sind im Mittelgebirge des Jura zu finden, nicht in der Annapurna-Südwand im Himalaya. Dennoch war mein Mitbewohner ergriffen, mitgenommen, aufgewühlt, und auch mir ging die Nachricht nahe. Ich schaute mir umgehend nepalesische Medien an, und mich schockierte die detaillierte Schilderung, wie ein Körper, der tausend Meter auf einem Eisfeld nach unten rutscht, Stück für Stück wie auf einer Küchenraspel zerlegt wird. Trotzdem werde in diesem Fall der Leichnam geborgen und nach Kathmandu geflogen, las ich. Danach nahm mein Tag seinen Lauf, und am Abend war mir dieser tödliche Absturz zum Ereignis geworden und weit in den Hintergrund gerückt. Ich schien ihn vergessen zu haben.

    Im gleichen Frühjahr, einen Monat später, kam ich von einer atemberaubenden Fahrradfahrt in Teheran in mein kleines Hotel im Süden der Stadt zurück. Hier war ich abgestiegen, im Stadtteil der Ärmeren gleich beim Bahnhof, wo von riesengroßen Plakaten Ruholla Chomeini links vom Haupteingang in die Ferne blickte. Rechts davon suchte sein Nachfolger als geistiges Oberhaupt und Revolutionsführer Ali Chamenei den Blickkontakt zu den Reisenden auf dem Platz.

    Der Portier nahm mir, als sei das ganz selbstverständlich, mein Velo ab, und ich ging die Treppe hoch der Dusche entgegen. Mein langärmliges dunkelblaues Hemd und die langen schwarzen Hosen zeigten mit weißen Salzringen und großflächig verteiltem frischen Schweiß die Spuren meiner Verausgabung: die Valisar-Straße, das Objekt meiner Begierde, und der alltägliche Weg Tausender auf Motorrädern, Autos, in Bussen und Lastwagen. Diese Transversale führt auf achtzehn Kilometern vom Süden schnurstracks, zeitweise sechsspurig, in den Norden der Stadt, wo sie sich in einer episch langgezogenen Kurve in Form einer Allee sanft nach Osten zum Tajrish-Platz neigt. Bei einem Höhenunterschied von sechshundert Metern. Oben, wo die Reichen wohnen, hatte ich mir zur Belohnung ein sündhaft teures Eis geleistet.

    Ich fuhr einen Starrlauf: ein Gang, und nie aufhören zu pedalieren, hoch wie runter. Fahrräder waren bis vor hundertdreißig Jahren so, sind es heute auf der Bahn noch. Und seit einiger Zeit wieder auferstanden als Fixis im Fahrradkurierwesen. Ich trat einen unlackierten, rohen Stahlrahmen und hielt einen steilabfallenden, verchromten Keirin-Rennlenker. So genannt nach einer japanischen Bahnraddisziplin, dem Kampfsprint. Dieser Lenker erwies sich als Segen, erlaubte er mir doch, mich beim Hinunterfahren in schmalste Lücken zu stürzen. Manche auf ihren Mopeds und Motorrädern blieben so zurück. Ich drückte mich zwischen Bussen und Autos millimetergenau vorbei an die Spitze vor zur roten Ampel. Wenn die Ampel auf Grün schaltete, stürmte erst der Pulk von Motorrädern los. Jetzt galt es, blitzschnell zu beschleunigen und die Geschwindigkeit zu halten, um nicht von der sich hinter mir aufbauenden Autowelle überrollt zu werden. Der Sprint führte manchmal über ein, zwei Kilometer, bis ich in der Aufstauung an der nächsten Ampel wieder sicher verschwinden konnte. Ich gebe zu, dass es mir nicht möglich war, die Valisar in einem Zug durchzufahren, zu hoch war das verlangte Maß an Konzentration im massiven Verkehrsaufkommen und der Kraftaufwand bei oft über fünfzig Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit. Aber ich hatte es sehr genossen, mich ganz allein unter den Motorisierten zu bewegen, ein Fremdkörper zu sein, der trotzdem seinen Platz beanspruchte. Ein rasender Tanz im Verkehr.

    Nun waren die Satteltaschen gepackt, und am nächsten Tag wollte ich los nach Norden ans Kaspische Meer.

    Seit elf Stunden war ich unterwegs, erst im Nordwesten der Stadt auf einem Pass mit dem Blick zurück hinunter nach Teheran. Von hier aus war sogar der Moloch mit seinen rund neun Millionen Menschen fassbar. Das Licht der Morgensonne und die zahllosen Schattenwürfe ließen das Häusermeer ungewöhnlich ausgeglichen und ruhig erscheinen. Nach einigen Kehren hinunter, wobei meine Trittfrequenz einer Nähmaschine in höchster Auslastung glich, fand ich am Anfang eines Sees meine Straße in Richtung Nordwesten. Ich hatte geahnt, dass es so kommen würde: Stunden steter Steigung. Ich war bereit.

    Im Wiegetritt schraubte ich mich Stück für Stück hoch, der Belag war bestens, schwarz und aufgeheizt von der gleißenden Sonne. Autos waren schon lange nicht mehr unterwegs, spätestens ab dort, wo ein massiver Erdrutsch die Fahrbahn weggedrückt hatte und ich mein Rad über die weitflächigen Steinhaufen getragen habe. Ich sah meinem Schatten auf dem Asphalt bei der Bewegung zu und meinte, den Beginn eines Sonnenstiches zu spüren.

    Auf der gegenüberliegenden Seite des langgezogenen breiten Tals waren die Bergrücken schneebedeckt. Sie waren fast viertausend Meter hoch. Ich stieg vom Rad, suchte nach Orientierung und fand in einiger Entfernung die Passhöhe im direkten Gegenlicht. Wunderte mich, dass ich nicht im Vollbesitz meiner Kräfte war, aber das Velo zu schieben wäre mir ungewohnt vorgekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass der Dizim-Pass – wo mich die beiden Herren vom Bahnhof erneut begrüßen sollten, diesmal auf Blech gemalt, festgeschraubt an einem starken Gerüst mit dem Hinweis auf das internationale Skigebiet – dreitausendzweihundertsechzig Meter über dem Meeresspiegel liegt.

    Dort oben würde ich in etwas mehr als zwei Stunden ankommen. Die Winde würden stark blasen und sich an den Felskanten brechen. In Ostwestrichtung würde sich eine nächste Bergkette zeigen. Allerdings nicht mehr in der Höhe, von der meine Aussicht über sie hinweg in die dahinterliegenden Täler ging. Diese wiesen nach Norden, fielen in den Dunst, in dem das Kaspische Meer zu vermuten war. Erschöpft würde ich einen einigermaßen geschützten Platz für mein Zelt finden. Ohne Probleme in einen tiefen Schlaf fallen und am nächsten Tag jauchzend die steilsten Serpentinen halb fallend, halb fahrend hinuntertaumeln. Die Sonne würde mit unmissverständlicher Klarheit Schnee und Eis auf der Straße schmelzen, und ich würde glücklich sein.

    Doch vorerst stand ich hier am späten Nachmittag mit dem suchenden Blick zur Passhöhe neben meinem Fahrrad: dem Monstre, und sammelte meine Kräfte. Da fiel mir der Bergsteiger ein, ganz beiläufig einfach so. Ich war keinesfalls überrascht oder verwundert. Ich nahm es einfach zur Kenntnis. Die Eingebung hatte ihren Platz beansprucht und gleich gefunden. Sie formte Gedanken, die von einer Gewissheit unterlegt waren, dass sie sich nicht mehr verflüchtigen würden. Was war das für ein Mensch, was bewegte ihn, was verknüpft mich mit ihm? Fragen, die mir eine eigene Antwort abverlangten. Ich stieg auf, ohne Druck zu verspüren, sie gleich finden zu müssen. Im Gegenteil. Beruhigt fuhr ich los, fand meinen Tritt.

    Das war die Einladung für ein Zwiegespräch, das ich ohne Zweifel in aller Selbstverständlichkeit annahm. Der Beginn der Beziehung mit dem tödlich verunglückten Bergsteiger. Sie sollte die nächsten Jahre andauern.

    Wieder zu Hause wusste ich nicht, was ich machen sollte. Wer war dieser Mensch, und was habe ich mit ihm zu tun? Einzig war mir klar, dass ich diese Gedanken, die Eingebung auf der Passstraße Rd 425, die ich aus dem iranischen Elbrozgebirge mitgenommen hatte, ernst nahm.

    Eine erste Rundsicht schreckte mich ab. Zweihunderteinundneunzigtausend Links brachte die Suchmaschine ans Licht. Verlautbarungen unzähliger Medien in allen audiovisuellen oder getexteten Arten lagen vor mir. Auch wenn ich die Suchergebnisse auf die deutsche Sprache eingrenzte, blieb die Überforderung. Sollte ich mich für gewisse Leitmedien entscheiden und von diesen aus in die Tiefe gehen? Nein, die Abneigung blieb bestehen. Ich gestand mir ein, dass mich das mediale Bild, eine Mischung aus Profisportler und bodenständigem Bergler, eigentlich nicht interessierte. Ich war zögerlich und spürte einen inneren Widerstand, diesen Menschen in aller medialen Breite ausgewalzt vor mir zu sehen, so dass kein anderer Blickwinkel auf ihn Bestand haben konnte. Aber es war seine Angst davor, «eine Familie zu gründen», die bei mir hängengeblieben ist, und im Kontrast dazu sprach das mediale Bild wenig von Angst, höchstens von Strategien zur Risikominimierung am Berg. Folgerichtig wollte ich mich bei seiner Familie melden. Nur wie? Und wie damit umgehen, dass erst ein halbes Jahr vergangen war, seit der Tod den Eltern, den Geschwistern und der Ehefrau Sohn, Bruder und Ehemann entrissen hatte?

    Meine Unsicherheit war unbegründet, und ich staunte, denn eine mögliche Kontaktaufnahme war auf einer digitalen Kondolenzseite in aller Klarheit geregelt. Die Familie bat, von direkten Anfragen abzusehen, sie werde von einer Medienagentur vertreten, die zu kontaktieren sei. Froh darüber, mich auf vorgespurtem Weg bewegen zu können, schilderte ich mein Anliegen und beschrieb, wie ich dazu gekommen war. Außerdem erwähnte ich, mir sei das Ungewöhnliche meiner Absicht, den verstorbenen Alpinisten nach dessen Tod kennenlernen zu wollen, durchaus bewusst. Und ich betonte, den Trauernden keinesfalls zu nahe treten zu wollen. Nach einigen Wochen kam eine höfliche Nachricht des Mediensprechers, mein Anliegen sei an die Familie weitergeleitet worden und man bitte mich um Geduld, bis die Antwort eintreffe.

    In diesem Zusammenhang fiel mir auf: Der Bergsteiger wurde von einer Agentur vertreten, die sich die «persönliche Begleitung von führenden Wirtschaftspersönlichkeiten der Schweiz» auf die Fahne geschrieben hat. Der Inhaber war Diplomingenieur und hatte jahrelang als Wirtschaftsjournalist gearbeitet. Nun ging es um «Communication & Reputation Management». Eine Welt, in der das äußere Bild der Klienten gerade auch in Krisensituationen gesichert und gesteuert werden soll. Wieder war ich in die mediale Sphäre geraten und begriff, dass «The Swiss Machine» eine Marke war. Ein Produkt, das sich am Markt zu behaupten hatte. Und wahrscheinlich würde in der Agentur von «Brand» gesprochen. Das kam mir fremd vor.

    Nur wenig später nach dem Kontakt mit dem Mediensprecher traf eine Antwort der Witwe ein. Sie freue sich darüber, dass ihr Mann mich inspiriert habe. Leider sehe sich die Familie in ihrer unmittelbaren Trauer nicht imstande, sich mit mir zu treffen. Sie bitte um Verständnis, und ich könne mich in einem Jahr wieder melden.

    Ich war fast ein wenig erleichtert, was mich erstaunte. Aber unbewusst genoss ich es, so genug Raum zu haben, mich erstmal allein mit diesem Menschen auseinanderzusetzen. Mir Zeit zu geben, klar zu werden: Was für ein Verhältnis entsteht zwischen uns? Warum ließ er mich nicht los, und wieso ließ ich das zu? Wovon würde ich ausgehen, wenn ich dereinst seine Angehörigen treffen sollte?

    Natürlich meldete ich mich ein Jahr später wieder bei der Frau des Bergsteigers, nicht ohne zu schildern, was ich in der Zwischenzeit unternommen hatte. Sie reagierte freundlich

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