Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Rosablanche
Rosablanche
Rosablanche
eBook75 Seiten52 Minuten

Rosablanche

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Rosablanche, so heißt ein Gipfel in den Walliser Alpen. In seinem Erstlingswerk erzählt Matias Jolliet von einer einsamen Wanderung in den Bergen. Es ist die Geschichte eines Aufbruchs. Nachdem er mit sich selbst gerungen hat, folgt der Erzähler dem Ruf der Berge, lässt seinen Alltag und die Stadt mit ihrer Betrieb-sam­keit hinter sich, um sich ganz der Einsamkeit, der Weite des Raumes, den Launen des Wetters und den Gefahren des alpinen Geländes auszusetzen, sich von äußeren Zwängen zu befreien und in der Ursprünglichkeit des Gebirges zu sich selbst zu finden. Mehr noch als von einer Bergbesteigung handelt die Erzählung von einer inneren Reise – der Berg als Lebensschule.

Aus dem Französischen von Walter Pfäffli
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Mai 2022
ISBN9783906907628
Rosablanche

Ähnlich wie Rosablanche

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Rosablanche

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Rosablanche - Matias Jolliet

    1404 m

    Ich stehe am Wegrand, an einen großen, noch immer nächtlich kühlen Granitblock gelehnt, eine Tasse dampfend heißen Kaffees in der Hand, und nehme die tiefe Ruhe auf, die in der Dunkelheit herrscht. Der Saum des Waldes über mir ist ein undurchdringlicher Schatten, der die Obergrenze der verschlafenen Wiesen markiert, und aus dem Dorf unten, wo in einigen Fenstern bereits das Licht angegangen ist, steigen lilafarbene Rauchschwaden zu den letzten Sternen auf, die allmählich im Milchig-Blau eines klaren und friedlichen Himmels erlöschen. Was für ein Kontrast zu den dunklen, in Nebel gehüllten Bergmassen! Nichts rührt sich, alles ist wie in der Schwebe. Die Vögel, die mit der Morgendämmerung zu singen begonnen haben, sind verstummt. Der Wind hat aufgehört. Es gibt kein Geräusch, keine Bewegung mehr. Alle Lebewesen halten den Atem an.

    Mir ist, als hörte ich dort oben, in der Ferne, im ersten Morgenlicht, weit jenseits der Welt der Menschen, Stimmen, die leise reden, miteinander flüstern. Ihre Sprache ist diejenige der Berge, Gletscher, Flüsse und Wolken, und wie Nachtstaub breitet sich ihr Gemurmel in der Dämmerung des schlummernden Tals aus. Die Melodie klingt mir sanft und verführerisch in den Ohren, und wenn ich mich auf die Stimmen konzentriere und zu verstehen versuche, was sie sagen, schlüpfen sie mir, ungreifbar wie Traumgewebe, durch die Finger. Aber das hat keine Bedeutung. Ich lasse es, frage nicht, widerstrebe nicht. In sorgloser Lethargie versunken, gebe ich mich diesem Augenblick außerhalb der Zeit hin, der dahinrinnt wie eine lautlose Welle durch die Unendlichkeit.

    Plötzlich, Szenenwechsel, springt am Himmel ein Funke auf! Erschrocken drehe ich mich um und sehe, wie sich die Gratlinie der Berge auf der ganzen Länge entzündet hat, verwandelt in ein glühendes Flammenmeer. Lichtstrahlen werfen sich Tausende von Kilometern weit in die Atmosphäre hinein, ehe sie in einer weichen, kreisförmigen Bewegung sanft zur Erde zurücksinken. Mir gegenüber erwachen die höchsten Bergspitzen, recken sich, erröten wie in Glut, während auf der anderen Talseite ein Feuervorhang langsam herabkommt. Gebannt betrachte ich, unendlich kleiner Zuschauer des großen Lebenstheaters, von meinem Logenplatz in der ersten Reihe aus dieses Schauspiel, diese Lichtlawine, die alles hinwegfegt, was ihr im Weg liegt.

    Die kleinsten Halme, die hohen Stängel der Gräser, die Blumen und die niederliegenden Sträucher, die Flechten auf den Steinen, das Laub der Bäume, die Tannennadeln erwachen aus ihrer nächtlichen Starre, richten sich auf, um der Wiederkehr des Tages zu huldigen. Die Gesamtheit der Lebewesen rührt sich, blüht auf, treibt aus in einer stillen Symphonie. Sogar die mineralische Welt scheint aus ihrer Schlafstatt zu kommen und funkelt mit tausend Blitzen. Alles ist nur unmerkliches Zittern in dieser Welle des Lichts, die unermüdlich, Tag für Tag, über die Oberfläche des Erdballs gleitet. Alles ist nur ewiger Wiederbeginn.

    Die Tauperlen rollen zur Oberfläche der Erde, steigen als Dunst auf in die Luft und verwandeln sich unter der Liebkosung der ersten direkten Sonnenstrahlen in goldenen Nebel. Sie werden sich den Wolken anschließen, und eines Tages, wer weiß, nach langer Reise, den Flüssen und Ozeanen.

    Schon spürt man die Hitze, und wohlriechende Dämpfe der feuchten Erde, vermischt mit Düften süßlicher Säfte, steigen vom Boden auf. Alles verwandelt sich unter meinem Blick. Überall herrscht Dringlichkeit, es gilt keine Sekunde des Lebens zu verlieren. Im Rausch des tief einfallenden Lichts wirbeln Wolken von Insekten, Schmetterlingen und kleinen Mücken herum. Die Vögel beginnen wieder zu singen, in der Höhe läuten wieder die Glöckchen der Schafe, aus dem Tal erhebt sich der Gesang des Flusses, und im Himmel hallt ein durchdringender Schrei. Ein Schleier liegt mir über den Augen, während ein Frösteln die Wirbelsäule hochsteigt. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf geht, ist, wenn ich jetzt stürbe, vom Atem einer Lawine niedergemäht, die auf mich zukommt, fände man gewiss meinen Körper glücklich, entspannt und strahlend vor Freude. Das Bild macht mich schmunzeln. Der Lichttod wird warten. Still bedanke ich mich bei diesem außergewöhnlichen Schauspiel eines neuen Tages, der auf dem Planeten Erde anbricht, atme tief die frische Luft ein, schnüre die Schuhe mit einem Doppelknoten, packe die Thermoskanne ein und schultere den Rucksack, der gut zehn Kilo wiegt.

    1457 m

    Man muss tief in den dunklen Schichten des eigenen Wesens wühlen, um auf die kleine Flamme des Willens zu stoßen, die dort wie ein Bergkristall schimmert. Hat man sie gefunden, muss man sie mit den Händen zärtlich umschließen und behutsam mit dem Atem anfachen. Man muss mit ihr über seine Wandervorhaben sprechen, über die Gipfel, die einen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1