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Der Leselebenstintensee: Roman
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eBook382 Seiten5 Stunden

Der Leselebenstintensee: Roman

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Über dieses E-Book

Gibt es einen Leselebenstintensee? Das glaubt eine Gruppe von Buchpersonen, die in die Buchberge aufbricht, um den See zu finden. Kann man dort am Buchwelthimmel vielleicht sogar die Nasen spitze des Verfassers sehen, der vornübergebeugt am Schreibtisch sitzt und diese Geschichte gerade schreibt?
Im Roman "Der Leselebenstintensee" will die Gruppe unter Anleitung eines Lesers endlich herausfinden, wie sie alle zu ihrem buchweltlichen Leben, ihrer Bibliobiographie kommen. Dabei helfen ihnen Figuren aus dem "Zauberberg" von Thomas Mann, die sich dank ihres speziellen Romanthemas und ihres Aufenthaltes in den Buchweltbergen bereits in buchweltlichen Seinsfragen aus kennen …
In diesem nachgelassenen Roman des im März 2020 verstorbenen großen deutsch-georgischen Autors spielt er noch einmal anhand des Lebens von Buchpersonen die großen Schicksalsfragen durch. In einem Nachwort erläutert Jörg Sundermeier die Hintergründe von Margwelaschwilis Werk.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Aug. 2021
ISBN9783957325082
Der Leselebenstintensee: Roman

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    Buchvorschau

    Der Leselebenstintensee - Giwi Margwelaschwili

    Riskantes Bergsteigen im buchweltlichen Hochgebirge

    Da zogen sich einmal mehrere Buchweltpersonen – das sind jene Personen, die in Büchern leben und durch ihre Leser lesend belebt werden – wetterfeste Kleidung an, nahmen Rucksäcke auf und wanderten den Fluß ihres Leselebens immer höher und höher hinauf. Solch eine gewagte Expedition war in der ganzen Buchwelt bis dahin noch nie unternommen worden. Aber diese waren wagemutige Burschen, und zudem brannten sie auch vor Neugier, an die Quelle ihres Daseins zu kommen, ihren Ursprungsort zu erschauen.

    Das Steigen ging zuerst, ganz entgegen ihrer Vermutung, immer leichter, je weiter sie gelangten. Die Quelle, von der sie wußten, daß sie auf dem Gipfel des Gebirges gelegen war, in dem sie kletterten, schien alle in der Gruppe magnetisiert zu haben. Von einer bestimmten Höhe ihres Weges an setzten sie ihre Füße nämlich immer unbeschwerter auf das lesestoffliche Gestein und kamen immer schneller voran.

    »Vielleicht sollten wir umkehren«, dachte der Bergführer beklommen. Doch das war wohl schon unmöglich. Denn alle anderen, die da mit ihm kletterten, waren von der Idee, an die Quelle ihres Daseins zu kommen, wie besessen. Es gab kein Zurück.

    Obwohl es so flott vorwärtsging, war dem Bergführer nicht sehr wohl zumute, er wußte ja schon, daß dieser Quellenbesuch – wenn er zustande käme – für sie alle unheilvoll ausgehen würde. Aber da er mit den anderen nicht – noch nicht – wieder darüber streiten wollte, schwieg er lieber. Wenn man im Dorf auf ihn gehört hätte, wäre diese Expedition unterblieben. Oder er hätte ihr ein anderes Ziel gesetzt. Das reale Gebirge war groß und mit den schönsten Gipfeln geschmückt (er hatte sie alle erklommen und kannte sich in diesen Bergen aus wie kein anderer). Aber nein! Man wollte diesmal in die irrealen Berge ziehen und auch noch auf ihren höchsten lesestofflichen Peak. Vergeblich hatte er immer wieder und mit den heftigsten Worten davor gewarnt, hatte protestiert und darauf hingewiesen, daß die lesestofflichen Berge von niemandem, besonders nicht von Buchpersonen, zu ersteigen seien, da sie ja auch aus Lesekörperstoff bestünden und diese stoffliche Identität so ein Unternehmen zu dem gefährlichsten mache.

    »Wir gehören zwar der lesestofflichen Organik an«, hatte er gesagt. »Und das lesestoffliche Gebirge, wohin ihr wollt, ist anorganisch, aus steilen Felswänden und Halden zusammengefügt. Aber dieser Unterschied wiegt die Ähnlichkeit, die zwischen uns und jenem Gebirge besteht, nicht auf. Im Gegenteil! Er läßt sie einen verheerenden Einfluß auf uns nehmen, wenn wir uns erdreisten, unseren Fuß in dieses Gebirge zu setzen. Das könnt ihr mir glauben, ich spreche aus Erfahrung. Ja, ich bin einmal allein dort gewesen, weil es mich interessiert hat, zu sehen, wie das Bergsteigen in den lesestofflichen Felswänden ist. Jetzt hört mir mal alle gut zu! Ich habe feststellen müssen, daß es für buchpersönliche Alpinisten nichts Schwierigeres gibt, als in solchen Bergen zu klettern. Die lesestoffliche Identität zwischen uns und dem Gestein dort bewirkt, daß wir uns von jedem Felsen, jedem Abgrund, jeder Nische an einer Bergwand – und sei der Weg hin zu ihr auch noch so halsbrecherisch zu begehen – angezogen fühlen und keine kleine Anstrengung notwendig ist, um dieser fatalen Zugkraft zu widerstehen. Selbst ich alter Alpinist hatte große Mühe, mit heiler Haut aus diesen Bergen herauszukommen. Wie wollt ihr das schaffen? Ihr seid noch nicht mal dort und steht – würde ich jedenfalls sagen – schon völlig im Bann des lesestofflichen Magnetismus, den diese Berge erzeugen. Daß ihr so leidenschaftlich darauf fixiert seid, sie zu besteigen, ist der klare Beweis dafür. Überlegt euch die Sache lieber noch einmal, ehe es zu spät ist! Ich sage euch: Mit dieser Kletterpartie nehmt ihr vermutlich viel zu viel auf eure Schultern.«

    »Laß dir wegen uns nur keine grauen Haare wachsen!«, lautete die Antwort der Leute auf seine sorgenvollen Mahnungen. »Uns wird im lesestofflichen Gebirge nichts passieren. Wir werden ja unseren Leser mit dabeihaben. Na, und der liest uns durch alle Schwierigkeiten, die sich beim Klettern ergeben könnten, ganz leicht und tadellos hindurch. Der ist unsere Leselebensversicherung. Da kann nichts schiefgehen. Was? Du hast das nicht gewußt? Du kennst den Leser noch gar nicht? Dann wird es aber Zeit, daß wir ihn dir vorstellen. Er ist ein prächtiger Kerl und wird dir sehr gefallen. Wie? Du glaubst nicht, daß der Leser uns im Notfall helfen könnte? Daß er das Unglück passieren lassen müsse? Na, hör mal! Weißt du denn nicht, daß Leser Realpersonen sind, die sich Buchpersonen vorstellen können, wie, wo und wann sie wollen? Selbst wenn die Bücher es anders bestimmen, wenn sie ihren Buchpersonen ein fatales Ende verschreiben, können ihre realen Leser die Sache umdenken, sie sich anders und für die Buchpersonen günstiger vorstellen. Ihre reale Einbildungskraft befähigt sie dazu. Das genügt vollkommen, damit unsereinem nichts mehr geschieht. Nun enthält aber unser Buch, unser Text, nichts, was für uns unvorteilhaft wäre. Das hat uns der Leser hochheilig versichert und auch sein Ehrenwort darauf gegeben. Was willst du also? Uns steht eine gefahrlose Expedition in das lesestoffliche Gebirge bevor, wir werden Panoramen zu sehen bekommen, die zuvor kein Buchweltmensch gesehen hat. Und daß wir den Gipfel erklimmen werden, ist völlig sicher.«

    Auf diese Rede hatte der Bergführer wieder mit warnenden Argumenten reagiert. »Für uns Buchpersonen sind reale Leser die unzuverlässigste Adresse«, lauteten seine Worte. »Das ist besonders heute so, wo in der realen Welt viel weniger gelesen und sehr viel mehr ferngesehen wird. Was macht ihr, wenn der Leser, der so viel Gutes versprochen hat, euch mitten in den lesestofflichen Bergen im Stich läßt, nur weil ihm eure Kletterei zu langweilig geworden ist? Von einem solchen ist jede unangenehme Überraschung zu erwarten. Wer wird euch, wenn ihr dann, allein gelassen, in dem lesestofflichen Felsen hängt, wieder sicher herunterbringen? Niemand. Ihr würdet dort also immer weiter hängen bleiben müssen. Zum Weiterklettern fehlte euch wegen eures Schwindelgefühls und der fatalen Anziehungskraft der Abgründe um euch herum der Mut. Ihr müsstet alle hilflos weiterbaumeln und – weil dazu ja auch Kräfte notwendig sind, die bei Überbeanspruchung jedem einmal ausgehen müssen – zum Schluß einer nach dem anderen in die Tiefe und in den Tod stürzen. Wollt ihr das riskieren? Aber weiter! Ihr seid ganz von der Idee besessen, an den Ursprungsort eurer Existenz zu kommen, an eure Leselebensquelle, die, wie ihr behauptet, auf dem höchsten Gipfel des lesestofflichen Gebirges liegt. Wer hat euch das gesagt? Euer Leser, nicht wahr? Nun, ich kenne ihn nicht, noch nicht, und kann mir deshalb kein Urteil über diesen Herrn erlauben. Aber ich glaube, daß er nicht die Wahrheit spricht. Wir sind Buchpersonen, und unsere Leselebensquelle, unser Ursprungsort, kann an keinem Gebirgssee liegen. Jetzt könnt ihr mir sagen: ›Warum nicht? Wir vermuten diese Quelle doch nicht irgendwo, sondern auf dem Gipfel des lesestofflichen Gebirges. Ist das nicht gerade der Punkt, der am besten zu ihr paßt? Und fließt das Leseleben nicht wie jeder andere Fluß von bergigen Höhen in Niederungen hinunter? Ist es nicht zuerst ein enger, wilder Bergbach und später schon ein umso viel breiterer und langsamerer Strom?‹ Das ist eine sehr – ich würde sogar sagen: zu – poetische Auffassung unseres buchpersönlichen Daseins, liebe Freunde, sein metaphorisches Bild, das vielleicht geeignet ist, einen realen Leser auf uns neugierig zu machen, dem man aber als Buchperson nicht trauen darf, denn tatsächlich entspricht ihm nichts. Die Vision eures Leselebens als ein zu Tal stürzender Bergfluß könnt ihr vergessen. Denn sie stimmt einfach nicht. Als Buchpersonen sind wir – wenn man schon unbedingt darauf bestehen will, daß wir einem nassen Element entsprungen sind – aus Tinte geboren, und die fließt in der realen Welt nicht irgendwelche Bergwände hinunter, sondern steht in einem Tintenfaß auf einer waagerechten und breiten Fläche, unter der man sich die Platte des Schreibtisches vorzustellen hat, an dem unser Autor, Schöpfer oder Dichter – nennt ihn, wie ihr wollt – gesessen hat, als er uns ausdachte und aufschrieb. Wo wollt ihr also hin? Das, was ihr sucht, nämlich eure Geburtsstätte, ist bestimmt nicht auf dem Gipfel des lesestofflichen Gebirges zu vermuten. Ihr riskiert, wenn ihr überhaupt bis dorthinauf gelangt, eine grobe Enttäuschung. Und daß unser Autor sich Alpinisten ausgedacht haben sollte, um sie auf den höchsten Gipfel des lesestofflichen Gebirges zu schicken und das auch noch mit einem bergsteigenden Leser in ihrem Team, halte ich für höchst unglaubhaft. Auf solche Schnapsideen kommt kein auch nur halbwegs seriöser Dichter. Wie gefährlich der lesestoffliche Granit für buchpersönliche Bergsteiger sein kann, welche auf ihm entlangklettern, muß, wenn ich, eine einfache Buchperson, das weiß, ein Dichter, der – wenn er normal ist – die volle Verantwortung für alle seine Buchfiguren trägt, sich wohl selbst sagen können. Außerdem wäre noch die genaue Funktion des Lesers in eurer Mannschaft festzulegen. Habt ihr das getan? Habt ihr den Herrn überhaupt gefragt, wie er mit von der Partie sein wird, als Buch- oder als Realperson? Natürlich nicht. Auf diese Frage seid ihr nicht gekommen, und jetzt, wo ich sie stelle, zeigt ihr ganz verständnislose, abweisende Gesichter. Dabei ist sie die denkbar wichtigste, gerade im Zusammenhang mit der Expedition, die ihr vorhabt. Denn ist der Leser bei euch eine Buchperson, so dürft ihr keine Hilfe von ihm erwarten, wenn in den Bergen etwas schiefgeht. Dann ist er für alle Gefahren, die von dem lesestofflichen Gestein für Buchpersonen ausgehen, ebenso anfällig wie ihr, kann er ebenso leicht in sie hineinstolpern und ihr Opfer werden wie jeder andere in eurem Team. Dann kann der Leser in keiner Notsituation, die sich in dem Gebirge ergibt, euer Retter sein. Das könnt ihr getrost vergessen. Wird er aber als Realperson eure Expedition in die lesestofflichen Berge begleiten, bleibt er nur ihr realer Leser, also jemand, der an ihr teilnimmt, ja, aber nicht direkt mit dabei ist, niemals direkt mit dabei sein kann. Denn reale Leser sind in dem, was sie lesend beleben, beseelen und verwirklichen, niemals unmittelbar präsent. Selbst bleiben sie in ihrer realen Welt, und was von ihnen bis in unsere Leselebenssphäre durchkommt, ist bestenfalls ihr realer Lesergeist. Was so ein Geist kann, ist: uns lesen. Die Kraft, irgendwelche Veränderungen in unseren Gedichten und Geschichten zu erwirken, besitzt ein Lesergeist nicht. Ja, er kann sich Veränderungen denken, sie sich sogar plastisch vorstellen. Aber diese Gedanken und Vorstellungen bleiben ganz bei ihm. Bei uns, liebe Freunde, kommen sie nicht an. Bei uns kann so ein Geist nur die Ursache der buchthematischen Entwicklung unserer Geschichten oder Gedichte sein. Sein Lesen ist die Antriebskraft für alle Geschehnisse in unseren Texten, der erste und letzte Beweggrund all unserer Leselebensschicksale in der Buchwelt. So ergibt es sich, daß euer vielgepriesener Lesergeist (da er euch ja nur lesen kann) immer bloß imstande ist, euch eurem textlich-schriftlich festgelegten Schicksal zuzuführen, also das, was in dem Buch eures Leselebens über euch entschieden wurde, auch leselebensmäßig an euch sich vollziehen zu lassen. Wenn das etwas Schlechtes ist, und gerade das scheint mir, wie schon gesagt, hier der Fall zu sein, muß euer Leser es mit euch geschehen lassen, ja er muß – da er euch ja lesend in alles, was euch textlich erwartet, also auch in euer Unglück, hineinzieht – an eurem Verderben mitschuldig werden. Jetzt könnt ihr noch denken: ›Unser Leser ist ein guter Mann und wird uns nicht in etwas Schlechtes hineinlesen, auch selbst wenn dieses Schlechte uns textlich verschrieben ist und er es lesend mit uns geschehen lassen müßte.‹ Ich kenne euren Leser nicht, noch nicht. Und werde mich deshalb hüten, hier ein moralisches Urteil über ihn zu fällen. Aber ich kann euch versichern, daß es unter den realen Lesern keinen einzigen gibt, der sich beim Lesen rücksichtsvoll gegenüber den Buchpersonen verhält, die ihm in seinen Büchern begegnen, der zum Beispiel bei einer dort nahenden Leselebensgefahr aus Sorge um die Buchpersonen nicht mehr weiterliest, der die Lektüre abbricht, weil er nicht will, daß diesen Personen textlich etwas zustößt. So fürsorglich verhalten sich reale Leser grundsätzlich nicht. Hier nun zu denken, sie wären deshalb bösartig und nur darauf aus, uns in leselebensgefährliche Situationen zu versetzen, uns zu quälen, ihren sadistischen Gelüsten vor buchweltlichen Schreckensbildern freien Lauf zu lassen, ist natürlich auch nicht richtig. Nein, reale Leser lesen so passiv, weil sie grundsätzlich nichts vom Leben in ihrem Lesestoff wissen, weil sie glauben, es bei ihrer Lektüre nur mit subjektiven, also von ihnen selbst erzeugten Vorstellungsbildern zu tun zu haben, mit bloßen Leserhirngespinsten, in denen alles Schreckliche nur Fiktion ist und nichts wirklich passiert. Die Realperson des Lesers ist bibliobiologisch völlig ungebildet, hat nicht den geringsten Begriff von der Leselebenswelt und ihren eigenen Gesetzlichkeiten. Wenn ihr euer Leseleben von den Entscheidungen dieser Person im lesestofflichen Hochgebirge abhängig machen wollt, so ist das ein völlig sinnloses Vorhaben, denn sie kann darüber gar nichts entscheiden, da ihr jedes echte, bibliobiologische Verständnis für unsere Probleme völlig abgeht. So! Jetzt wißt ihr meine Meinung über das alpinistische Abenteuer, in das ihr euch begeben wollt, und ich will nur hoffen, daß ihr klug genug seid, sie anzunehmen und euch die ganze schiefe Sache mit dem Leser in eurem Team noch einmal gründlich zu überlegen.«

    Das war der kleine warnende Vortrag des Bergführers. Daß er sie damit beeindruckte, läßt sich nicht sagen.

    »Ach du!«, ließ gleich jemand von den Männern hören. »Was wir uns auch immer ausdenken, du mußt es uns versalzen. Du willst immer alles besser wissen und es so haben, wie du es willst. Diesmal wird nichts daraus. Diesmal geht alles nach unserem Wunsch und Willen. Das soll nicht heißen, daß wir prinzipiell gegen dich eingestellt wären. Wir kennen deine Meriten und schätzen dich. Was ich dir jetzt sagen werde, ist bestimmt auch die Ansicht aller Freunde. Wenn du willst, kannst du dich uns anschließen, kannst du in die lesestofflichen Berge mitkommen und dabei sein, wenn wir dort auf die Suche nach unserer Federlebensquelle gehen. Aber über die Expedition wirst du nichts mehr zu entscheiden haben. Ihr Leiter wird nämlich diesmal ein anderer sein.«

    »Doch nicht etwa der Leser?«, fiel der Bergführer dem Redenden hier fragend ins Wort. »Ist er der Chef der Truppe?«

    »Jawohl!«, kam ihm gleich die trotzige Antwort entgegen. »Hast du was dagegen?«

    »Na, und ob!«, rief der Bergführer ganz entrüstet. »Wie kann ein Leser bei Buchpersonen, die er liest, jemals das Kommando übernehmen? Sowas hat es in der ganzen Buchwelt noch nie gegeben. Das ist völlig unmöglich, ein Schwindel, wie er in keinem Buche steht. Seid ihr denn völlig verrückt geworden, euch auf sowas einzulassen? Ja, wißt ihr denn nicht, wie solche absurden Experimente gewöhnlich ausgehen?« Und als die anderen ihn daraufhin nur befremdet und ärgerlich anstarrten, fuhr der Bergführer fort: »Es geht dann so aus, daß der Leser an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiß, wo’s lang geht, daß er sich in seinem Lesestoff völlig verrannt und verirrt hat. Wenn das eintritt, wird es um euch alle geschehen sein. Der Leser verwirft dann nämlich eure ganze Expedition als seinen eigenen mißratenen lese- und schreiberischen Einfall. Ja, ihr habt richtig gehört. Ich sagte ›schreiberisch‹, denn jetzt ist mir klargeworden, daß euer Leser auch euer Schreiber ist, derjenige, der sich diesen absurden Ausflug in das lesestoffliche Gebirge ausgedacht hat und daran schreibt. Wohlgemerkt: Er schreibt bis dato immer noch an der Sache. Das Manuskript ist bei ihm immer noch in der Mache. Dieser saubere Herr weiß also noch nicht, wie alles enden wird, und zieht euch einfach mit sich ins Ungewisse. So ist das und nicht anders!«

    »Sagst du!«, murrten gleich welche ärgerlich gegen seine Behauptungen. »Aber wir sehen das anders. Auf uns macht der Leser den Eindruck eines Mannes, dem man voll vertrauen kann. Er hat sich ja ausgewiesen, hat Papiere vorgelegt, aus denen hervorgeht, daß er ein sehr erfahrener, beruflicher Bergsteiger ist, jemand, der im lesestofflichen Hochgebirge schon mehrere Gipfel erstiegen hat. Jetzt staunst du, was? Aber so ist das bei ihm schwarz auf weiß zu lesen, mit Stempeln und Unterschriften des realweltlichen Leseralpinistenklubs. Und dieser Klub ist es auch, der ihn uns geschickt und als Führer in die lesestofflichen Berge empfohlen hat. Man weiß dort, wie sehr wir die Quelle unseres Leselebens zu besuchen wünschen, und will uns darin unterstützen. Ist das nicht sehr aufmerksam?«

    Dem Bergsteiger war bei diesen Erklärungen zunächst die Luft weggeblieben, so daß er erst außerstande war, auf diese Frage zu antworten.

    Man nahm das als positives Beeindrucktsein und fuhr, schon im Glauben, ihn für den Leser und ihren gemeinsamen Trip in die lesestofflichen Berge gewonnen zu haben, zu reden fort: »Ja, du, und er hat uns auch schon Bilder gezeigt, Aufnahmen von unserer Leselebensquelle auf dem höchsten Gipfel des lesestofflichen Gebirges. Du glaubst es nicht, aber wir haben sie schon gesehen, unsere Federlebensquelle, wie dieser Leser sie auch und viel treffender nennt, denn als Buchpersonen entstammen wir ja eigentlich alle der Feder unseres Autors, nicht wahr? Stell dir vor: Aus der Himmelsdecke, die oben schon fast zum Greifen nah ist oder jedenfalls so nahe zu sein scheint, ragt der Füller, aus dem wir hervorgegangen sind, in die zwei Bergzacken hinein, welche den höchsten Peak unseres Gebirges bilden. Wir sagen ›unseres‹, weil es ja ein lesestoffliches ist und materiell mit uns grundsätzlich völlig übereinstimmt. Der Leser drückt sich, wenn er von diesen Bergen spricht, übrigens ebenso aus. ›Ihr seid alpinistisch engagierte Buchpersonen, und ist es nicht eine Schande, daß ihr euer eigenes Gebirge nicht kennt, noch kein einziges Mal dort gewesen und geklettert seid?‹, sagt er immer wieder zu uns, und wir finden, er hat völlig recht mit dieser Ansicht. Ja, es ist eine Schande. Aber das soll nun anders werden. Die Expedition mit dem Leser ist schon für nächsten Montag angesetzt. Dann stürmen wir den Gipfel unseres Gebirges und werden den Federhalter unseres Autors mit eigenen Augen zu sehen bekommen. Der Leser sagt, alles dort sei ein phantastisch schöner und erhabener Anblick. Das wohlige, schwindlig-schwebende Gefühl, das einen auf dem lesestofflichen Peak überkommt, wäre – weil unser Gebirge eben das höchste von allen ist – mit keiner anderen alpinistischen Erfahrung vergleichbar. Und über alles erhaben wäre der Ausblick dort, weil er am kolossalen Federhalter entlang direkt in die reale Welt hineinreicht, in der unser Autor und unsere Leser leben. Nun ist von dieser Welt dort zwar nichts anderes zu sehen als der Federhalter, dem wir entsprungen sind, aber daß schon das allein sensationell genug ist, wirst du nicht bestreiten können. Wo noch sonst in der Buchwelt kann man einen realweltlichen Federhalter in unsere Bibliobiosphäre hineinragen sehen? Und zudem ist der kleine nachtblaue Tintensee, der direkt unter dem Federhalter liegt, zumindest wegen der Flüssigkeit, die ihn füllt, ja auch ein realweltliches Phänomen. Daß es reale Tinte ist, hat uns der Leser versichert. Nur sei sie wegen der Höhe dort so eiskalt, daß man seinen Finger nicht lange hineinhalten könne, ohne einen Schmerz zu empfinden. Und die Tinte fließe vom Federhalter regelmäßig in den See hinein, denn der sei immer voll davon. Unser Leser war dreimal dort oben und hat den Tintensee immer voll vorgefunden. Die Tinte – sagt er – müsse dort aus dem realen Füller ständig in den See hinunterfließen. Wahrscheinlich ginge das sehr langsam, nur tropfenweise, vor sich. Alle drei Mal, die er dort gewesen war, habe er den Federhalter genau beobachtet, aber keine Tinte herunterkommen sehen. Jetzt will er mit uns so lange dort bleiben, bis der Federhalter einen Tintentropfen losläßt und wenigstens ungefähr berechnet werden kann, in welchem Rhythmus die Tinte in den See nachfließt. Du hast gesagt, daß dieser Leser sich selbst schreiberisch betätigen müßte, das ist wahrscheinlich ganz richtig geraten. Als er so sachkundig vom Federhalter und der Tinte auf dem lesestofflichen Berggipfel sprach, ist uns diese Idee auch gekommen, und wir haben ihn gefragt, ob er vielleicht ein realer Schreiber sei. Dazu hat er nur gelächelt und nichts Konkretes geäußert. Er sagte nur, daß Lesen und Schreiben, wenn beides richtig betrieben wird, immer zusammengehen. Er selbst betrachte sich allerdings mehr als Leser, und dies sei sicherlich ein Grund, warum er direkt Kontakt mit uns aufgenommen habe und bereit sei, uns auf den lesestofflichen Peak zu führen. Denn direkt an die Buchpersonen herantreten, mit ihnen ein Gespräch beginnen, mit ihnen zusammen über ein gemeinsames Arbeitsprogramm diskutieren et cetera, könne man viel bequemer als Leser. Als Schreiber – sagte er – hätte man auf die Wortwahl, auf den Schreibstil, auf die logische und ästhetische Entwicklung der ganzen Komposition und noch auf vielerlei andere Dinge zu achten, was den Direktkontakt mit Buchpersonen – wenn er kein oberflächlicher bleiben soll – prinzipiell ausschließt. Na, wie findest du jetzt den Mann? Hat das, was er sagt, nicht Hand und Fuß?«

    Nun war man überzeugt, beim Bergführer alle Zweifel am Leser ausgeräumt zu haben. Gerade das war aber nicht der Fall, das machten bereits die ersten Worte klar, die der Bergführer vernehmen ließ.

    »Hand und Fuß?«, grollte er. »Alles, was der Kerl euch gesagt hat, ist im höchsten Grade alarmierend. Es bestätigt nur meinen Verdacht, daß er euch in ein Abenteuer verwickeln will, von dem er selbst nicht weiß, wie es ausgehen soll. Und daß er auch ein Schreiber ist, hat er euch ja gesagt. Wißt ihr, was das heißt? Es heißt, daß die Idee, mit euch in das lesestoffliche Gebirge zu ziehen und dort bis zu eurer Federlebensquelle hochzuklettern, sehr wahrscheinlich das Thema einer Geschichte – einer Erzählung, Short Story, Novelle, nennt es, wie ihr wollt – sein wird, die er schreiben will oder vielleicht schon angefangen hat zu schreiben. Ihr seid so in diese Idee verbohrt, daß mir letzteres jetzt sogar am wahrscheinlichsten vorkommt: Mit eurer Geistesverfassung steht ihr bei ihm bestimmt schon auf dem Papier, und ich brauche mir den Mund nicht fusselig zu reden: Als Buchpersonen seid ihr der Expedition zur Federlebensquelle, diesem Unsinn, denn etwas anderes ist es nicht, schon verschrieben, und was auch immer ich euch hier sage, ihr werdet, ja, ihr könnt, es sowieso nicht mehr annehmen.«

    Während der Bergführer redete, hatten sich die Gesichter seiner Zuhörer verfinstert. Was sie sich da anhören mußten, schien ihnen nicht zu gefallen, und als die kleine Pause entstand, die der Bergführer brauchte, um Luft zum Weiterreden zu schöpfen (er hatte alles, was er gegen den Leser gesagt hatte, beinahe in einem Atemzug hervorgebracht), wollten alle protestierend über ihn herfallen.

    Doch einer aus der Gruppe war schneller als die anderen und rief: »Halt, Leute! Ich glaube, es ist besser, wenn wir Kalle, ehe wir ihm unsere Meinung sagen, ausreden lassen. Er soll uns, bitte schön, genau erklären, was er gegen unseren Leser hat. Das ist, glaube ich, in seinen Ausführungen dunkel geblieben. Und bis wir das nicht erfahren haben, dürfen wir mit ihm nicht schimpfen.«

    Diese in sehr entschiedenem Ton hervorgebrachten Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Man wurde wieder ruhig, der Ruhestifter sagte dem Bergführer daher: »Was du dem Leser vorwirfst, ist, daß er uns in eine Aktion verwickeln will, von der er selbst nicht weiß, wie sie ausgehen wird. Der Sinn dieses Vorwurfs ist uns unverständlich: Wenn man kein Prophet ist – und das ist man normalerweise nicht –, kann man nie wissen, wie was ausgehen wird. Was willst du also von unserem Leser? Was wirfst du ihm vor? Das Bergsteigen ist mit Risiken verbunden. Das weiß jeder, und jeder geht das Risiko gern ein, weil es uns eben wichtig ist, die Quelle unseres Leselebens zu besichtigen. Ja, wir freuen uns sogar auf die ganz unerwarteten und bestimmt auch nicht ungefährlichen Momente beim Aufstieg. Wenn es sie nicht gäbe, wenn der Weg dorthin uns keine Probleme machte, wenn er ein Spaziergang wäre, reizte uns die Sache nicht mehr so. Und selbstverständlich haben wir volles Vertrauen zu unserem Leser als Bergführer. Wenn uns jemand sicher zu unserer Federlebensquelle bringen kann, ist er das. Erstens kennt er die Gegend von seinen früheren Besuchen schon sehr gut. Wir werden also jemanden haben, der schon weiß, wo’s lang geht, und brauchen unsere Zeit nicht mehr mit Auskundschaftungen zu vergeuden. Ist das vielleicht kein Vorteil? Zweitens ist dieser Leser ein charmanter Typ, jemand, dem die Herzen der Buchpersonen zufliegen, wenn er sich ihnen zeigt. Leser – das weißt du sicherlich auch – machen sich ja in unserer Welt grundsätzlich nicht sichtbar. Jedenfalls kam es bis jetzt nur sehr selten vor, daß unsereins einem von ihnen realpersönlich begegnet ist. In den Fällen, in denen dergleichen geschah, sollen die Leser die unansehnlichsten gewesen sein. Sie wären – sagt man – allesamt ziemlich wortkarg und nicht ansprechbar gewesen. Man erklärt das hier mit der ungewöhnlichen mentalen Anstrengung, die ein realer Leser aufbringen muß, um in unserer Buchwelt selbst zur Erscheinung zu werden. Dagegen ist der Leser, mit dem wir die Ehre haben werden, das Buchweltgebirge zu erklimmen, eine wahre Augenweide: sportlich muskulös, mit den einnehmendsten, ebenmäßigen und seine Besonnenheit förmlich ausstrahlenden Gesichtszügen. Daß er Schwierigkeiten hätte, bei uns sichtbar anwesend zu sein, sieht man ihm nicht an. Auf eine leichte, natürliche Weise ist er – wenn er kommt – mit uns zusammen. Wie kann man einem solchen Mann als Buchperson kein Vertrauen entgegenbringen? Und drittens ist dieser Leser der rücksichtsvollste Mensch. ›Wenn es losgeht‹, betont er immer wieder, ›werde ich mich ganz nach euch richten. Was ihr wollt, das soll – wenn es nicht zu verrückt ist und unsere Sicherheit in den Bergen gefährdet – auch geschehen. Laßt beim Aufsteigen euren Einfällen nur freien Lauf! Ich werde alles tun. Unter meinem Kommando könnt ihr überall hinklettern, euch alles ansehen und verweilen, wo und wie lange ihr wollt. Ich werde euch nichts verbieten.‹«

    Das war die Rede, die ihm zur Verteidigung des Lesers gehalten wurde, und Bergführer Karl hatte nur grimmig genickt. So, als hätte er bereits gewußt, worüber man in diesem Zusammenhang spräche, als seien die drei Punkte in der Beschreibung der realen Leserperson für ihn nichts Neues. Als die letzten Worte gesprochen waren und alle Alpinisten ihn erwartungsvoll ansahen, sagte er zornig: »Euer Leser kennt den lesestofflichen Gipfel also schon genau, sagt ihr, weil er – und das imponiert euch wohl – schon dreimal dort oben gewesen ist. Das will ich ihm herzlich gerne glauben. Ja, er kennt den Peak wie seine Hosentasche. Und daß er nur dreimal dort war, ist gelogen. Er wird viel öfter dort gewesen sein. Vielleicht 30 oder sogar 300 Mal. Für diesen Kerl ist nämlich nichts leichter, als dorthin zu kommen. Er hat sich – da er ja, wie wir wissen, auch ein Schreiber, ein Autor, ist – diesen Peak ausgedacht und möglicherweise schon aufgeschrieben. Eure Federlebensquelle, auf die ihr so neugierig seid, gibt es – dessen könnt ihr euch sicher sein – nur in seinem Leser- und Schreiberkopf. Das ist seine schreiberische Erfindung, pure Fiktion, und hat mit der buchweltlichen Hochgebirgsrealität nichts zu tun. Das bezeugt auch der reale Füller, der dort aus dem Himmel heraus auf den Gipfel gerichtet sein und Tintentropfen in den See unter ihm fallen lassen soll. Das ist eine Albernheit, die alle Grenzen des buchweltlich Vorstellbaren übersteigt. Einen Tintensee, dem sie ontogenetisch entstiegen wäre, hat noch keine Buchperson gesehen, und sowas kann sie auch niemals zu Gesicht bekommen, denn wir entstammen alle keinem buchweltlichen Tintensee, sondern einem realen Tintenfaß. Und nicht einmal das ist in diesem Fall die absolute Wahrheit. Denn wer zählt die Buchpersonen, die von ihrem realen Autor mit einem Kuli oder einem realen Füllfederhalter aufgeschrieben wurden? Es sind zahllose. Ich sage euch: Die Federlebensquelle ist eine Schnapsidee von eurem Leser, den man zutreffender Schreiber nennen müßte, denn was er euch erzählt hat, ist von ihm ausgedacht, um es aufzuschreiben, um eine Erzählung oder einen Roman daraus zu machen. Daß er euch so beschwatzen, euch für die Expedition zu der Federlebensquelle gewinnen mußte, scheint mir der Beleg dafür zu sein, daß es die Anfangsphase von diesem lächerlichen Unternehmen schon schriftlich gibt. Immer wenn eine Buchperson sich etwas so unwiderruflich in den Kopf gesetzt hat, kann man davon ausgehen, daß es von ihrem Verfasser schriftlich abgesegnet worden ist.«

    »Na, siehst du!«, sagte der Sprecher der anderen zufrieden. »Dann ist ja das mit unserer Expedition schon so gut wie gebongt, und du brauchst nicht mehr länger dagegen zu reden. Wenn sie von unserem Leser schon aufgeschrieben ist, muß sie, was immer auch passiert, doch stattfinden. Unser Herzenswunsch wird also, was du auch sagen magst, in Erfüllung gehen.«

    »Da bin ich mir nicht so sicher«, rief Karl, der Bergführer, hier warnend. »Es kann nämlich auch sehr leicht so kommen, daß dieser Leser und Schreiberling – wenn die Expedition nicht nach seinem Wunsch geschieht, wenn dabei nichts Interessantes passiert oder nichts, was interessant genug wäre, um später möglichst viele und ganz andere Leser im Geiste dieselbe Expedition an die Federlebensquelle mit euch mitmachen zu lassen – das ganze Vorhaben plötzlich abbläst, weil er der Meinung ist, daß diese Erzählung kein

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