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Das Leuchten von Morgen: Roman
Das Leuchten von Morgen: Roman
Das Leuchten von Morgen: Roman
eBook311 Seiten4 Stunden

Das Leuchten von Morgen: Roman

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Über dieses E-Book

Die Autobiografie über sein Leben als Kindersoldat in Sierra Leone hat ihn weltberühmt gemacht. In seinem Romandebüt beschreibt Ishmael Beah nun wie einige Jahre später Überlebende in ihr vom Krieg zerstörtes Heimatdorf zurückkehren und dort versuchen ein gemeinsames Leben aufzubauen, überlagert von den Schatten der Vergangenheit. Das allmähliche Vertrauen in das neue Gemeinschaftsleben wird jedoch zutiefst gestört, als eine ausländische Minengesellschaft über das Dorf herfällt, die seinen Bewohnern neue Lebensformen und auch Lebenswege aufzwingt, diesmal jedoch mit der Hoffnung auf das Leuchten von Morgen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Mai 2016
ISBN9783884235171
Das Leuchten von Morgen: Roman

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    Buchvorschau

    Das Leuchten von Morgen - Ishmael Beah

    Beah

    1

    Dies ist das Ende oder vielleicht der Anfang

    einer neuen Geschichte.

    Jede Geschichte beginnt und endet mit einer Frau,

    einer Mutter, einer Großmutter, einem Mädchen, einem Kind.

    Jede Geschichte ist eine Geburt.

    Sie kam als Erste dorthin, wo der Wind nicht mehr zu atmen schien. Einige Meilen vor der Stadt hatten sich die Bäume ineinander verschlungen; ihre Äste wuchsen bis zum Boden hinab, vergruben die Blätter in der Erde, versteckten sich vor den Sonnenstrahlen, die ihnen ein Morgen vorgaukeln wollten. Einzig der Pfad leistete Widerstand, ließ sich nicht vom Gras überwuchern, als ahnte er, dass sein Hunger nach der lebensspendenden Wärme nackter Füße bald gestillt würde.

    »Schlangen« nannte man diese langen und verschlungenen Wege, auf denen man dem Leben begegnete oder zu Orten gelangte, wo es Leben gab. Wie Schlangen waren sie bereit, ihre alte Haut abzustreifen, das braucht seine Zeit, Unterbrechungen sind nötig. An diesem Tag lösten ihre Füße eine solche Unterbrechung aus. Vielleicht lassen jene, die schon viele Jahre hinter sich haben, als Erste ihre Freundschaft zum Land wieder aufleben, vielleicht ist das aber auch nur Zufall.

    Ihr knochiger Körper, gehüllt in ein fadenscheiniges, von vielen Wäschen ausgebleichtes Tuch, wurde von einem Lüftchen dorthin gestupst, wo früher ihr Dorf gewesen war. Die Flipflops hatte sie abgestreift und sich auf den Kopf gelegt; behutsam setzte sie ihre Schritte, störte den getrockneten Schlamm mit ihren bloßen Füßen auf. Mit geschlossenen Augen nahm sie den süßen Duft der Kaffeeblüte wahr, den der Wind gelegentlich übers Land fächelte – eine Frische, die über den Wald hinaus ihren Weg in die Nasen weit entfernter Reisender fand. Ein derartiger Wohlgeruch verhieß einen Ort der Rast, an dem man seinen Durst stillen und, falls man sich verlaufen hatte, nach dem Weg fragen konnte. An diesem Tag brachte der Duft sie jedoch zum Weinen, aus einem leisen Wimmern wurde das Schluchzen zu einem Schrei nach der Vergangenheit. Ein Schrei, ein Lied fast, der den Verlust betrauerte. Sie wiegte sich zu dieser Melodie; das Echo ihrer Stimme brachte ihren Körper zum Beben, erfüllte erst sie und dann den Wald. Meile um Meile wehklagte sie, riss an Sträuchern, so fest es ihre Kräfte erlaubten, und ließ die Zweige fallen.

    Schließlich erreichte sie das stille Dorf, kein Hahnenschrei begrüßte sie, keine Stimmen ins Spiel vertiefter Kinder, kein Hammerschlag des Schmieds, der rotglühendes Eisen zu Werkzeug formte, kein aus Feuerstellen emporsteigender Rauch. Selbst ohne diese Zeichen einer scheinbar lang vergangenen Zeit war sie so glücklich über ihre Rückkehr, dass sie zu ihrem Haus rannte; für ihr Alter gewannen ihre Beine erstaunlich an Kraft. Dort brach sie in Tränen aus und jäh verstummte das Lied der Vergangenheit in ihrem Mund. Vor einiger Zeit war das Haus angezündet worden, rußgeschwärzt reckten sich die verbliebenen Pfeiler in die Luft. Tränen füllten ihre dunkelbraunen Augen und rollten langsam über ihr schmales Gesicht, bis die hohen Wangenknochen nass waren. Sie weinte, um das Geschehene anzunehmen und mit ihren zu Boden fallenden Tränen die Geister der Toten herbeizurufen. Sie weinte, weil sie sieben Jahre lang dazu nicht fähig gewesen war, denn um die Jahre zu überleben, in denen die Waffen den Ältesten die Worte aus dem Mund raubten, musste mit allem Vertrauten gebrochen werden. Auf dem Weg nach Hause war sie an vielen Städten und Dörfern vorbeigekommen, deren Anblick dem ähnelte, was sie jetzt vor sich sah. Eine der Städte war besonders gespenstisch gewesen – links und rechts der Hauptstraße waren menschliche Schädel aufgereiht. Jedes Mal, wenn der Wind aufkam, schüttelte er die Schädel, ließ sie langsam kreisen, so dass es schien, als würden die leeren Augenhöhlen die Vorbeihastenden anstarren. Trotzdem hatte sie den Gedanken verbannt, auch ihr Dorf könnte niedergebrannt sein. Nur so ließ sich die Hoffnung aufrechterhalten, die sie nach Hause trieb. Den Namen ihrer Heimat würde sie nicht einmal in Gedanken aussprechen. Aber eine fremde Stimme brach aus ihr heraus: »Wird das je wieder Imperi werden? «

    Diese bestürzte Frage brachte dem Wind den Namen ihres Heimatdorfes zu Gehör. Sie kam wieder zu sich und lief durch das Dorf. Überall lagen Knochen herum, menschliche Knochen, und sie konnte einzig unterscheiden, ob es ein Kind oder ein Erwachsener gewesen war.

    Ihr fiel der Tag ein, an dem sie um ihr Leben hatte rennen müssen. Es war gegen Ende der Regenzeit gewesen, als alle an ihren Häusern Reparaturen vornahmen und die Fassaden neu tünchten. Es gab neue Dächer, aus Stroh oder Zink, und manche der Häuser bekamen einen leuchtenden Anstrich, verliehen der Trockenzeit Farbe. Zum ersten Mal hatte ihre Familie die Mittel für einen Zementbewurf und konnte die Mauern streichen, unten schwarz, bis zum Fenstersims grün und bis unters Dach gelb. Bewundernd stand sie mit Kindern, Enkeln und Mann davor. Sie ahnten nicht, dass sie am folgenden Tag alles verlassen und auf immer voneinander getrennt werden würden.

    Als Schüsse durch das Dorf hallten und Chaos ausbrach, am Tag, an dem der Krieg in ihr Leben trat, hatte sie sich vor der Flucht umgedreht und einen langen Blick zurückgeworfen. Wenn sie starb, wollte sie dies zumindest mit einer schönen Erinnerung an ihr Zuhause tun.

    Sie kehrte zurück, weil sie nirgendwo wahres Glück gefunden hatte. In Flüchtlingslagern und bei freundlichen Fremden hatte sie nach echter Freude gesucht, die sich nicht aus Ablenkung speiste, Freude, die nur das Stück Erde bot, auf dem sie nun stand.

    Sie erinnerte sich an einen nicht allzu lang zurückliegenden, auf Tage des Hungers folgenden Nachmittag und an eine kostbare Schüssel Reis mit gedünstetem Fisch, die man ihr gab. Anfänglich aß sie hastig, dann erschlafften ihre Muskeln, die zum Mund geführte Hand wurde schwer. Der Pfeffer schmeckte anders als der, dessen Erinnerung in ihr noch nachschwang, und das Wasser kam nicht aus einer kleinen Kalebasse, die nach dem Tontopf roch, in dem man in ihrem Haus das Wasser kühlte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Um am Leben zu bleiben, aß sie auf und trank, aber sie wusste, das Leben sollte mehr sein, als solche vorübergehenden Bestätigungen der eigenen Existenz. Einzig die Erinnerung an das Geräusch gemörserten Pfeffers, an den beißenden Duft, der sich der Dorfluft bemächtigte, und an das Gelächter über die flüchtenden Männer und Jungen, verlieh dem Essen Würze.

    »Sie lassen sich so leicht verjagen«, hatte ihre Mutter in das Gelächter der anderen Frauen hinein gesagt, deren Augen und Nasen, anders als die der Männer und Jungen, keinerlei Reaktion zeigten.

    Wieder betrachtete sie die Knochen, ihr Blick schweifte über die Haufen hinweg, sie rang nach Kraft, um weiterzugehen. »Das ist immer noch mein Zuhause«, sagte sie leise zu sich, drückte seufzend die nackten Füße tiefer in die Erde.

    Der Abend senkte sich und der Himmel wollte sich auf die andere Seite drehen. Sie setzte sich auf den Boden, ließ den Nachtwind tröstend übers Gesicht, über ihren Schmerz wehen, ihre Tränen trocknen. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte die Großmutter ihr erzählt, dass in den stillsten Stunden der Nacht Gott und Götter ihre Hände im Wind schwenkten und alles von der Erde wischten, was einem neuen Tag im Wege stehe. Auch wenn im Morgengrauen ihr Schmerz nicht völlig verschwunden war, fühlte sie doch in ihrem Herzen neue Kraft, die ihr den Gedanken eingab, sie sollte sich aufraffen und die Knochen säubern. Den Anfang machte sie bei ihrem Haus; die Knochen in ihren Händen zitterten, vielleicht lag es an der kühlen Morgenluft oder an den Gefühlen, die sie beim Zusammenklauben der menschlichen Überreste überkamen. Ihre Füße trugen sie zu der hinter dem Haus liegenden Kaffeefarm. Zart und doch fest umfasste sie die Knochen, dachte darüber nach, wie wenig vom Menschen übrig blieb. »Verleiht einem nur das die Knochen ummantelnde Fleisch einen Wert? Oder bleibt man in Erinnerung für das, was man getan hat, während einen das Leben durchströmt?« Sie sinnierte nicht weiter, damit sich ihre Gedanken beruhigen konnten. So ließen sich die Erinnerungen an jene Menschen, an denen sie nun so leicht trug, am besten festigen. Ihr Verstand wurde ein rauchgefüllter Ameisenhügel. Sie achtete kaum darauf, wohin sie ging. Der Boden war ihren Füßen vertraut; Augen, Ohren und Herz befanden sich auf einer anderen Reise.

    Sie bog um eine Ecke und ihr Griff löste sich; das Geräusch der auf die staubige Erde klappernden Knochen ließ ihr das Herz tief in den Bauch rutschen. Beim Anblick eines knienden Mannes, der Knochen wie Brennholz zusammenbündelte, gaben ihre Knie nach. Zwar wandte er ihr den Rücken zu, doch sie wusste, dass er bejahrt war, denn seine Haare hatten die Farbe stehender Wolken, auch seine Bewegungen verrieten das Alter. Ihr Herz kehrte an seinen angestammten Platz zurück, ihr Körper konnte seinen Aufgaben wieder nachkommen.

    Der alte Mann, der einen Schatten hinter sich spürte, fing zu reden an. »Wenn du ein Geist bist, zieh bitte friedlich weiter. Ich tue diese Arbeit, damit die Menschen bei der Rückkehr in dieses Dorf vor diesem Anblick verschont bleiben. Zwar haben ihre Augen Schlimmeres gesehen, aber ich will ihnen dieses letzte Bild der Verzweiflung ersparen.«

    »Dann helfe ich dir.« Sie bückte sich und sammelte die fallengelassenen Knochen sowie einige weitere ein, kam langsam näher.

    »Diese Stimme kenne ich. Bist du das, Kadie?« Er zitterte, seine Hände waren nicht mehr zu der Arbeit fähig, die er tat, seit sich der Himmel den letzten Schlaf vom Antlitz gewischt hatte. Kadie antwortete leise, als fürchtete sie, die eingetretene tiefe Stille zu stören. Der Mann zögerte, ob er sich zur Begrüßung der Freundin umdrehen sollte. Eine Weile beobachtete er die Bewegungen seines Schattens. Und die ganze Zeit über hörte er Kadie seufzend mit den Knochen klappern. Wenn er sich umdrehte, musste er mit ihrem Anblick zurechtkommen. Ihr könnten Gliedmaßen fehlen, sie könnte entstellt sein. Tief hatten sich seine Augen in die Erde gegraben.

    »Bitte heb die Augen vom Leib der Erde und sieh deine Freundin an. Bestimmt wird dein Herz einen Freudentanz aufführen, wenn du siehst, dass es mir so gut wie möglich geht.« Sie legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. Er hielt diese fest und hob langsam, wie ein bei einem Schabernack ertapptes Kind den Kopf. Prüfend glitt sein Blick über den Körper der Freundin: beide Hände vorhanden, die Beine auch, Nase, Ohren, Lippen …

    »Ich bin hier, Moiwa, so wie ich auf die Welt gekommen bin.«

    »Kadie! Du bist da, du bist da.« Er berührte ihr Gesicht. Sie umarmten sich und setzten sich einander gegenüber, sahen sich an. Lächelnd schöpfte sie Wasser aus dem angebotenen alten Topf, in dem eine zerbrochene Kalebasse auf der Oberfläche schwamm. Pa Moiwa hatte eines dieser runden, würdevollen Gesichter, die stets nachdenklich wirken und ein Lächeln nie lange bewahren. Seine Gestalt war schlank, die Hände und Finger waren schmal.

    »Etwas anderes konnte ich zur Wasseraufbewahrung nicht finden.«

    Er erzählte ihr nicht, dass er sich vor einer Woche Imperi so weit genähert hatte, bis er den großen Mangobaum in der Dorfmitte sehen konnte, sich dann aber nicht weiter vor traute. Das Heimweh wurde von den Kriegsgräueln verdrängt, die sich vor sein geistiges Auge schoben. Zuerst hörte er die Wehklagen der Verstorbenen – Menschen, die er gekannt hatte. In einem der vielen ausgebrannten Fahrzeuge beim Fluss richtete er sich eine provisorische Bleibe ein. Die Fahrzeuge hatten dem Bergbauunternehmen gehört, das sechs Monate vor Kriegsausbruch kurz vor der Inbetriebnahme gestanden hatte. Die Verantwortlichen hatten keine Brücke über den Fluss bauen wollen, was sich nach Kriegsbeginn rächte, denn wie sollten die Autos, die Anlagen herübergeschafft werden? Anfänglich verlachten die Ausländer, die für das Bergbauunternehmen arbeiten sollten, die Möglichkeit, dass sie jemals ihre mit Lebensmitteln, Kleidern und anderem Zeug vollgestopften Autos würden zurücklassen müssen, doch beim ersten Schuss suchten sie, mit nur einer Tasche bepackt, das Weite, warfen sich in Kanus, die beinahe untergingen und von ihrer Angst geschüttelt wurden. Mit weitaufgerissenen Augen flehten sie den Kanubesitzer an, schneller zu paddeln.

    Moiwa fragte seine Freundin Kadie lediglich, wie sie ihren Geist ins Dorf zurückgeführt, welchen Weg sie genommen habe.

    »Die, die vor dir sitzt, hat an dem Tag, an dem sie geboren wurde, mit ihren Füßen die Erde hier berührt. Und sie ist den Weg gegangen, der ihr ins Herz eingeschrieben ist.« Wärmesuchend rieb sie die Hände aneinander.

    »Das hätte ich eigentlich wissen müssen, meine liebe Kadie.« Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, benutzte die Straße nur, wenn es keine Wege gab. Sie glaubte an das Wissen ihrer Ahnen, die diese Wege gezogen hatten und das Land besser kannten als diese Ausländer, die einfach in ihre Maschinen stiegen und Straßen in die Erde gruben, ohne einen Gedanken an das Land zu verschwenden, wo es atmet, wo es schläft, wo es wacht, wo es Geister beherbergt, wo es nach Sonne verlangt oder dem Schatten eines Baumes. Beide lachten, wussten sie doch, dass die alten Wege teilweise noch existierten, mochten sie auch gefährdet sein. Als das Lachen verebbte, wurden einige Worte gewechselt, vieles blieb ungesagt, aufgehoben für den nächsten Tag, der in den übernächsten und den überübernächsten überging. Manches blieb besser unausgesprochen, solange Händeschütteln und Umarmungen Gefühle ausdrücken konnten – bis die Stimme Kraft fand, den Mund zu verlassen und das unter dem Mantel der Erinnerung Verborgene ans Tageslicht zu holen.

    Wochenlang wurde von Mama Kadie und Pa Moiwa, wie sie von den Jüngeren respektvoll genannt worden waren, eingesammelt, was auf dem Antlitz der Erde nichts verloren hatte. Es ließ sich nicht sagen, welche Knochen zu Bekannten und Verwandten gehörten. In manchen Häusern fanden sich mehr Knochen, als Menschen darin gelebt hatten. Im ganzen Dorf und in den Sträuchern der Umgebung waren Knochen verstreut, wie in so vielen Städten und Dörfern, durch die sie gekommen waren. Manche Orte waren niedergebrannt, andere zu Wäldern geworden, in denen Bäume in den Häusern wuchsen. Sie trafen eine Entscheidung und stapelten die Knochen beim Friedhof, bis das ganze Dorf, wenn genügend Bewohner zurückgekehrt waren, beschließen würde, was damit geschehen sollte. Nie weinten sie, unterhielten sich fast ausschließlich beim Ausruhen und dann auch nur über Allgemeines, über die Vergangenheit, ehe sich das Land verändert hatte.

    »Hoffentlich erwachen auch die anderen Orte bald wieder zum Leben. Ich gehe so gern um die Mittagszeit über den Weg in ein anderes Dorf, eine andere Stadt, setze mich mit den Ältesten dort zusammen.« Pa Moiwa inspizierte die vier Wege, die in das Dorf hinein und hinaus führten.

    »Genau wie früher. Meinst du, unser Leben kann wieder aus diesen einfachen Freuden bestehen?«, fragte Mama Kadie. Sie wollte keine Antwort und ihr Freund gab auch keine. Beide schwiegen, jeder dachte an den Tag, an dem ihr Leben in eine Richtung gelenkt worden war, aus der es bisher kein Zurück gegeben hatte.

    Imperi wurde an einem Freitagnachmittag angegriffen, alle waren vom Markt, von den Farmen, aus der Schule zurückkehrt, ruhten sich zu Hause aus und beteten. Es war die Tageszeit, wenn die Sonne zum Stillstand kommt und ihre leuchtenden Muskeln so kräftig spielen lässt, dass die Hitze selbst für die unerträglich wird, die an die Trockenzeit gewöhnt sind. Die Menschen saßen auf der Veranda oder im Schatten des Mangobaums hinten im Hof, tranken heißen Tee oder etwas Kaltes, führten Gespräche im Flüsterton, als müssten sich selbst ihre Stimmen ausruhen. Die aufgeregten Kinderstimmen brauchten jedoch keine Ruhepause. Immer wieder kehrten die Jungen und Mädchen vom Fluss, wo sie schwammen und spielten, einander hinterherrannten, ins Dorf zurück; im Ufergras lagen verstreut die Schuluniformen.

    Im Dorf gab es eine Grund-, in der Umgebung zwei weiterführende Schulen. Zwar fehlte es an Lehrmaterial, dafür gab es reichlich Bänke und Pulte. Die Gebäude waren solide, wenn auch ohne Türen, Fenster oder Dächer. Wo sich diese »Ornamente«, wie der Lehrer sie nannte, hätten befinden sollen, gab es Öffnungen. »Wer braucht schon Dächer, Türen oder Fenster, wenn den ganzen Tag über der Wind durch das Klassenzimmer wehen muss, weil sonst die Hitze eine ganz andere Lehrstunde gibt, als die, die man für seine Schüler vorbereitet hat«, pflegte der Lehrer zu witzeln.

    Die Lehrer waren aufgeweckt und die Schüler in ihren bunten Uniformen noch aufgeweckter, so begierig aufs Lernen, dass sie auf der bloßen Erde unter Mangobäumen oder in der heißen Sonne saßen und begeistert den Lehrstoff aufsagten.

    Imperis Bewohner hatten von dem Hunderte Meilen entfernt tobenden Krieg gehört, aber nie geglaubt, dass er Einfluss auf ihr Leben haben, geschweige denn es schwer beeinträchtigen würde. Aber an diesem Nachmittag kam der Krieg.

    Er nahm seinen Auftakt in Imperi in Form einiger Panzerfäuste, die auf dem Grundstück des Dorfoberhaupts explodierten, sämtliche Mauern niederrissen und viele Menschen töteten, deren Fleisch durch die Explosionen verschmorte. Es folgten Schüsse, Schreie und Klagerufe, als Menschen vor den Augen ihrer Kinder, Mütter, Väter, Großeltern niedergemäht wurden. Es war eine jener Operationen, die von den Soldaten »Keine Überlebenden« genannt wurden – sie würden alles töten, was sich regte. Wer einer derartigen Operation entkam, hatte großes Glück, denn die Soldaten schossen bei ihren Überfällen wahllos in der Gegend herum.

    Imperi stürzte ins Chaos und einige Menschen, vor allem Hochbetagte und Kinder, wurden zertrampelt. Im Vorbeigehen erschossen die Soldaten, hauptsächlich Kinder und ein größerer Männertrupp, diejenigen, die noch nicht tot waren. Sie lachten über die Zivilisten, die ihnen durch ihre Panik die Gefechtsoperation leichter machten.

    Mamie Kadie hatte gesehen, wie Kugeln ihre beiden ältesten Söhne und drei Töchter zerfetzten. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen schlugen sie auf dem Boden auf. Blut strömte aus ihren Wunden und zum Schluss bedeckte roter Speichel ihre Zähne, während das Leben aus ihnen wich. Alles war so blitzschnell geschehen und sie rannte zu ihnen, warum genau, wusste sie nicht, aber das Mutterherz war ihr zersprungen und das war das Einzige, was sie noch tun konnte. Um ihr eigenes Leben hatte sie keine Angst. Doch jemand ergriff von hinten ihren Arm und zog sie aus dem Kugelhagel, fort von dem offenen Platz zu den Büschen, wo sie wieder zu sich kam und ihr Überlebenswille erwachte. Unter solchen Umständen muss man nicht nur den Schmerz ignorieren, sondern manchmal selbst den Mutterinstinkt und zwar augenblicklich.

    Sie dachte an ihre Enkel. Was, wenn sie dort unten am Fluss noch lebten? Auch wenn, seit die Schüsse eingesetzt hatten, der Wind die Stimmen der Kinder nicht mehr ins Dorf trug, wollte sie trotzdem zum Fluss, doch aus dieser Richtung drang lautes Gewehrfeuer. So drehte sie sich um und warf einen letzten Blick auf ihr Heim, ehe sie so schnell ihr Alter es erlaubte, während die Kugeln pfiffen und in Menschen einschlugen, aus Imperi floh.

    Mit einem vorgetäuschten Hustenanfall riss Pa Moiwa Kadie aus ihren Gedanken. Ihr Gesicht, insbesondere ihre eingefallenen Wangen, hatte verraten, dass sie von dunklen Erinnerungen verschlungen wurde.

    »Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Moschee«, sagte er, »und sprang von meinem Gebetsteppich auf. Wahrscheinlich verstand Gott, denn er ließ mich den Tag überleben.« Mit einem Stecken malte er Linien auf den Boden, lenkte sich ab, damit ihn die Erinnerung an diesen Tag nicht völlig überwältigte. Das Gespräch über diesen Teil der Vergangenheit würden sie noch eine Weile aufschieben müssen. Ihre Gedanken schlugen unterschiedliche Wege ein. Pa Moiwa dachte an das Feuer, das an diesem Nachmittag sein Haus niedergebrannt hatte. Seine Frau war nach kurzer Krankheit auf dem Weg der Besserung gewesen, hatte, umsorgt von der zwanzig Jahre alten Enkelin, im Bett gelegen. Als er die beiden aus dem Haus rennen und mit sämtlicher noch verbliebenen Kraft die Flammen auf ihren Körpern ausschlagen sah, hatte er geglaubt, sie würden überleben. Doch sie waren von zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, niedergeknallt worden, die anschließend lachend auf andere Menschen zielten. Er musste verschwinden, ehe die Kinder ihn entdeckten.

    »Also.« Mama Kadies Stimme rang nach Kraft.

    »Manchmal hat die Spinne keine Netze mehr in sich und daher wartet sie im bereits gesponnenen.« Mit diesem alten Sprichwort versicherte Pa Moiwa seiner Freundin, dass sie irgendwann andere Worte finden und vielleicht an etwas anderes denken können würde, als an die grauenvolle Vergangenheit. Immer noch hielten sie an früher fest, an Altem, an einer Welt, die es nicht mehr gab, auch wenn gelegentlich Bruchstücke davon funktionierten. Mama Kadie gewann ihre Stimme wieder.

    »Also, schließlich landete ich auf einer kleinen Insel in der Nähe von Bonthe. Ein Fischerdorf, in dem es nur Fischer, deren Familien und Hütten gab, die vom Wind jeden Abend in die Luft geworfen und wieder abgesetzt wurden, als suchte er nach etwas. « Sie lehnte sich an den Guavenbaum, unter dem sie saßen.

    »Ich streifte jahrelang einfach umher, legte mich dort hin, wo mich die Nacht überraschte«, sagte Pa Moiwa. »Oftmals geriet mir mein Alter zum Segen, in jenen Tagen, als jeder sich wünschte, die Jugend läge hinter ihm.« Eine Zeitlang schwieg er und Mama Kadie stellte keine Fragen. Er dachte wieder an den Krieg, namentlich an die vielen Male, die er dem Tod entronnen war. Daran, dass die Soldaten beschlossen, lieber Jagd auf die Jungen zu machen. »Der ist so alt, da verschwenden wir keine Munition drauf. Der kommt eh nicht weit. Wenn wir zurückkommen, fangen wir ihn und nehmen das Messer.« Schießend hetzte ein Trupp Jungen, die seine Enkel hätten sein können, den Flinkeren nach.

    Als Pa Moiwa weitersprach, erwähnte er nicht, was ihm damals durch den Sinn gegangen war. »Die Knochen und Muskeln meiner Füße ermüdeten nie, im Gegenteil, sie waren geradezu rastlos. Erst wenn ich meinen Fuß hierhin setzte –«, er legte die Hände auf den Boden und fuhr mit geschlossenen Augen einige Sekunden darüber. »Erst da wurden meine Füße und mein Geist müde.« Er verstummte, ließ den durchziehenden Wind sprechen.

    Ihre Gelassenheit verloren sie nur, wenn sie auf Kinderknochen stießen, vor allem, wenn an einer Stelle sehr viele waren, dann zeigte sich auf ihren Gesichtern, was in ihnen vorging. Beide hatten mehrere Enkel, Mama Kadie fünf, Pa Moiwa kam auf sechs. Manchmal betrachtete Mama Kadie einen Knochenhügel so genau, bis ihre Augen tränten. Hoffentlich würde ihr etwas an den Knochen vertraut vorkommen, ihr verraten, dass es sich um eines ihrer Enkelkinder handelte. Nach so langer Trennung, nicht wissend, ob sie noch am Leben waren, wäre es manchmal einfacher gewesen, sie zu begraben; das Nichtwissen war quälend und nahm kein Ende.

    »Das ist bestimmt ein Mädchen«, sagte sie leise vor sich hin, während sie einen Hüftknochen untersuchte. »Und diese da gehören zu zwei Jungen.« Drei ihrer Enkel hingen immer zusammen, so dass sie sich wünschte, dies wären ihre Knochen. »Wenn nur die Kleider nicht verrottet wären.«

    Oft legte Pa Moiwa seine Hände fest um die kleinen Knochen, wartete, ob er die Stimme eines seiner Enkelkinder hörte, ob ihn etwas an eines von ihnen erinnerte, aber nichts geschah. Lediglich die Gesichter der Kinder und der Klang der Schulglocke am Morgen des Angriffstages erfüllten seine Gedanken. Er war davon überzeugt, dass die Knochen zu ihm sprachen, wenn auch nur allgemein. Er pflegte seine Enkel jeden Morgen zur Schule zu bringen, grüßte auf dem Weg bei jedem Haus. Die Erinnerung schmerzte sein ganzes Sein und er

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