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Das Ende vom Paradies: Roman
Das Ende vom Paradies: Roman
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eBook601 Seiten9 Stunden

Das Ende vom Paradies: Roman

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Über dieses E-Book

Inmitten der Oberlausitz, am Heiderand versteckt, liegt eine idyllische Fünf-Häuser-Siedlung, die 'Paradies' genannt wird. Dort wohnt der sorbische Bauunternehmer Paul Schuster mit seiner Frau, seiner zweiten, und er könnte den wohlverdienten Ruhestand genießen, stünde da nicht als bitteres Fazit: 'Alles falsch gemacht im Leben'. Gedrängt von seinem Sohn, verbringt Schuster seine alten Tage damit, sich an das Erlebte zu erinnern.
Christian Schneider fügt die Erinnerungen des Vaters und die des Sohnes zu einem dokumentarischen Epochenroman, der sich dem Leben einer Familie über drei Generationen widmet, ausgehend vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in dessen 80er Jahre. Bewegend schildert er all die Wirren, die die Schusters durchlebt haben. Das Einbeziehen historischer Ereignisse macht den Roman zu einem lebendigen Zeugnis der jüngeren Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberDomowina Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2015
ISBN9783742023353
Das Ende vom Paradies: Roman

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    Buchvorschau

    Das Ende vom Paradies - Christian Schneider

    Christian Schneider – Das Ende vom Paradies – Roman – Domowina-Verlag

    Nachwort: Jurij Koch

    Inhaltsverzeichnis

    Das Ende vom Paradies

    Prolog

    I. Teil

    II. Teil

    III. Teil

    IV. Teil

    Epilog

    Nachwort

    Zum Autor

    Hauptpersonen

    Prolog

    Lasst mich in Ruhe! Es hörte sich an, als hätte eine Frau geschrien. Aber es war keine Frauenstimme, es war die Stimme von Paul Schuster, auch Zement-Schuster genannt. Eigentlich war er immer darauf bedacht, mit gesetzter, mit männlicher Stimme zu sprechen, doch wenn ihn Ärger übermannte, vergaß er es. So auch an diesem Morgen.

    Für eine Weile blieb alles still, bis dann wieder das Klopfen zu hören war, das Schlagen der Schreibmaschinentypen auf die Walze seiner Rheinmetall. Seine Frau, die zweite in seinem Leben, war nach dem Schrei in die Küche geflohen. Sie hatte ihn gefragt, was er zum Frühstück haben möchte. Mehlsuppe – was ihm am liebsten war – oder vielleicht ein Ei? Sie wusste: Wenn er morgens zeitig aufsteht und ohne zu frühstücken die schwere Breitwagenschreibmaschine auf den Tisch stellt, ist mit ihm schwer auszukommen. Dann hämmert er all das, was ihn in der Nacht nicht schlafen ließ, in die Tasten.

    Er hatte seine zweite Frau beim Kirchentag der evangelischen Sorben in Malschitz, ihrem Geburts- und Wohnort, angesprochen, hatte unverhofft neben ihr Platz genommen. Sie, seit Kriegszeiten Witwe, hielt ihn, der so plötzlich neben ihr saß, für einen Spaßvogel. Was er da redete, konnte sie nicht ernst nehmen.

    Es roch schon nach Kaffee im Saal, da sagte er ihr mit verschmitztem Lächeln: Meine liebe Nachbarin, Sie könnten meine Königin sein! Wenn wir beide den Willen hätten, könnten wir beide im Paradies leben. Sie werden Königin sein, ich der Diener, der sich um alles kümmert, was zum Leben im Paradies gehört. Ich habe vorgesorgt. Namaj – er hätte es nicht anders über die Zunge gebracht, als im Dual mit ihr zu sprechen. Wenn es um zwei Personen geht, um zwei Dinge, zwei Tätigkeiten, zwei Eigenschaften, dann wird im Sorbischen nicht wie im Deutschen in der Mehrzahl gesprochen, sondern in der Zweizahl: Es wird uns beiden an nichts fehlen.

    Paul Schuster wird sie wohl schon längere Zeit im Auge gehabt haben – die schlanke Frau mit den dunkelbraunen Augen. Die Leute aus ihrem Dorf warnten sie: Ins Paradies? Du wirst doch nicht da runter in die Heide ziehen, bleib was du bist! Sie hatte nach dem Krieg gesiedelt, war alleinstehende Bäuerin gewesen. Dann war sie als eine der Ersten in die Genossenschaft eingetreten und hatte im Kälberstall gearbeitet. Und bedenke: Über ihn wird so manches geredet. Er verliert schnell die Fassung und soll überhaupt ein Mensch sein, mit dem nicht leicht auszukommen ist! Seine Frau ist ihm davongelaufen. Frag ihn doch mal, warum sie sich von ihm scheiden ließ!

    Nicht sie hat sich von ihm scheiden lassen, hat sie den Leuten geantwortet, er hat sich von ihr getrennt. Und das ist wohl ein Unterschied. Sie und seine Kinder haben ihn ausgenutzt, bis es nicht mehr ging.

    Worüber sie mit niemandem sprach, war das Papier, das er ihr übergeben hatte, handgeschrieben und von einem Notar gestempelt. Er werde ihr als Schenkung sein Vermögen überlassen – falls er früher als sie sterben sollte, schließlich sei sie ja zehn Jahre jünger als er. Ich gebe Dir alles, was ich habe, meinen Kindern und der Ersten nichts mehr! Sie haben es nicht verdient.

    Am Tag ihrer Umsiedlung ins Paradies, an einem Dienstagvormittag Ende September 1969, schien die Sonne, als wollte sie den Sommer zurückholen. Sie schickte ihre Strahlen schräg ins Zimmer. Im ersten Augenblick war sie sich nicht sicher, ob es das Wohn- oder das Schreibzimmer war, in dem sie ihre Koffer abgestellt hatte. Es war kein Schreibtisch darin. Nur ein großer dreiteiliger Wohnzimmerschrank mit einem Mittelteil aus Glas, dahinter gelb-schwarze Leitzordner. Das Zimmer erschien ihr groß, weil fast leer. Ein Sessel mit abgeschabter Rückenlehne und ein massiver Tisch standen wie zufällig abgestellt da. Der Tisch, ohne Tischdecke, war so dunkel wie der Schrank. Der grünliche Kachelofen gleich am Eingang war kalt.

    Paul Schuster hatte sich den einzigen Stuhl im Zimmer herangezogen, hielt sein Ohr ans Radio, an einen großen Radioapparat. Der stand auf dem Tisch, mit der Stirnseite zum Ofen hin. Er drehte an einem Knopf, versuchte den Sender deutlicher einzustellen. Dabei brummelte er vor sich hin, die Augen geweitet: Dieser Gomułka wollte Polen retten. Nun schickt er die Polizei mit Hunden gegen seine Leute. Wie soll Polen über den Winter kommen, wenn im Land nicht mehr gearbeitet wird? Da merkte sie: Das war nicht für mich bestimmt. Er winkte: Kannst gehen, durchs Haus!

    Er wohnte im oberen Stockwerk. Zwei Zimmer nebenan waren völlig leer. Das Eckzimmer zur Morgen- und Mittagsseite war sein Schlafzimmer, mit zwei Betten, einer weißen niedrigen Bettstelle mit Federbett und einem höheren schwarzen Bett aus alter Zeit mit hohen Seitenbrettern. Wo früher der Strohsack hineinkam, lagen jetzt mehrere dicke Zudecken. Sie machte ein Fenster weit auf. Das war das Fenster zur Morgenseite, über die Straße zum Nachbarn, zu einem niedrigen Häusel mit einem Erkerzimmer. Sie lehnte sich hinaus, ihr Blick schweifte über das nahe Feld, einen schmalen Streifen, der in den nahen Kiefernwald hineinreichte. Da entdeckte sie auf der frisch aufgegangenen Saat die Rücken zweier Rehe. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

    Sie wusste: Der Hochwald hinter dem Feld verdeckt die Aussicht nach Straschow und Subornitz. Das waren die zwei größeren Orte der Umgebung. In Straschow war der Bäcker, wo sie das Brot holen würde. Subornitz kannte sie besser, weil dort, als sie noch auf dem Gut in Malschitz in Stellung war, Kohle gefördert wurde. Nachdem die Grube abgesoffen war, entstand daraus der Olba-See mit der Insel. Das Paradies gehörte zu Subornitz, zur Gemeinde Subornitz.

    Sie ging von Fenster zu Fenster, von Zimmer zu Zimmer. Wie eine Schutzmauer umsäumte der Kiefernwald die Lichtung. Nur an einer Stelle, zur Wetterseite, war der Ring unterbrochen. Sie sah einen Teil des nahe gelegenen Dorfes, wusste: Das Dorf heißt Lemmisch, ist kleiner als Straschow. Eine Telefonleitung an Holzmasten zieht sich von seinem Haus an einem Feldweg entlang ins Dorf. Wenn Post ins Paradies geschickt wird, muss Lemmisch draufstehen und die Hausnummer dazu. Alle fünf Häuser im Paradies haben die Nummer 9, mit Zusatzbuchstaben. Sein Haus ist Nummer 9 B.

    Warum Lemmisch Lemmisch hieß, hatte Paul Schuster ihr schon erklärt – verständlich: Vor fünfhundert Jahren, als auch diese Gegend gerodet und gepflügt wurde, mussten die slawischen Erstsiedler mit Ochsen im Joch vor dem Pflug die Erde und die Wurzeln aufbrechen – mit dem Lemeš, wie sie das scharfe Eisenschar nannten. Und aus Lemeš wurde Lemmisch.

    Die Rehe waren aufgestanden. Sie nickte: Sein Paradies – er hat nicht übertrieben. Die Sonne wärmte die Dielung. Sie spürte die Wärme durch die wollenen Strümpfe und ihr war zumute, als würde die Sonne hier nie untergehen.

    Von ganz oben, vom Bodenzimmer aus, einem großen Raum mit zwei Fenstern zur Sonnenseite, könne sie bei klarem Wetter die spitzen Türme der Stadt sehen, hatte er ihr erzählt. An diesem, ihrem ersten Tag im Paradies fand sie sie nicht. Dafür sah sie, weit entfernt, die Konturen der blauen Berge – als wären sie ein Teil des Himmels.

    Wieder hinunter vom Boden, ging sie zur Nordseite. Sie öffnete das Korridorfenster und merkte, dass es lange Zeit nicht geöffnet worden war. Eine große Spinne eilte davon. Kiefernsamen mit Flügeln lagen auf dem Fensterbrett. In die Ortschaften in dieser Richtung war sie noch nie gekommen. Gehört hatte sie, dass es weiter unten in der Heide, spreeabwärts, durch Kießlitz gehe und dass sich dort, gleich hinter der Spreebrücke, das nächste Dorf anschließe: Kaschel. Auch von Klitten hatte sie gehört, einem größeren Ort, schon im Preußischen. Doch aus ihrem Malschitz da hinunterzufahren, dafür hatte es nie einen Grund gegeben. Das wird sich nun ändern. Mit ihm werde ich nun auch nach Kießlitz und Kaschel fahren, denn er stammt ja von dort und hat dort seine Verwandten.

    Ein Grünspecht, von ihr überrascht, flog laut kichernd davon. Sie schaute ihm nach. Im Kiefernwald rief er noch einmal Kijau-kijau-kijau. Das hörte sich an, als lache er sie aus.

    Und dann die erste Zeit im Paradies: Er wies sie ein, seine Königin. Ich zeige dir, wo was ist und was auf dich zukommt. Er sprach väterlich mit ihr, mit angenehm warmer Stimme. Fürs Einkaufen der Lebensmittel sei sie zuständig, dafür bekomme sie Kostgeld. Abrechnen am besten nach jedem Einkauf. Bisschen Ordnung muss ja sein, sagte er – und sagte auch sie.

    Nach dem ersten Abrechnen lehrte er sie das Subtrahieren. Minus? Darin war sie nicht geübt. Und überhaupt hatte sie fürs Schreiben, Rechnen, Lesen keine Zeit gehabt. Ihre Hände schwitzten und der Bleistift klebte zwischen den Fingern. Er saß ihr gegenüber, schob die Mittelschiene seines metallenen Rechenschiebers, mit dem er die Statik eines Bauprojekts berechnete, hin und her. Sie versuchte die Preise untereinanderzuschreiben und von der Summe, die sie von ihm erhalten hatte, abzuziehen. Nach einer Weile hielt er inne und meinte: Was meine Erste auf Anhieb geschafft hat, wird dir wohl nie gelingen.

    Bevor er sich seine Zweite geholt hat, hatte er – Maurermeister in jungen Jahren, dann Bauunternehmer und Architekt, schließlich, schon in fortgeschrittenem Alter, diplomierter Bauingenieur – in seinem VEB-BMK gut verdient. Nachdem er dann seine Arbeitsstelle endgültig verlassen hatte, ging er als Rentner seiner Lieblingsbeschäftigung nach, der Arbeit am Zeichenbrett. Für staatliche und genossenschaftliche Firmen, auch für private Besteller fertigte er Bauzeichnungen an. In der vom Staat gelenkten Wirtschaft wurde pausenlos gebaut. Neben geplanten Großbauvorhaben wuchsen in Gartenanlagen, an Seeufern, in Garagenbauvereinigungen, auf Bauernhöfen und Einfamilienhausbaustellen massive Neubauten – außerhalb der offiziellen Planung. Alle brauchten sie eine genehmigungsfähige Bauzeichnung.

    Paul Schuster, der auch noch die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz, allgemein und in der Familie Intelligenzrente genannt, bezog, konnte sich vor Bestellern nicht retten, sein Honorar überstieg nicht selten jedes Maß. Dazu kamen Präsente von denen, die die Zeichnung über Nacht haben wollten. Eine der letzten größeren Zugaben zum Honorar war die Zuteilungskarte für eine Škoda-Limousine MB 1000, die er sich ohne Vorbestellung und Wartezeit abholen durfte. Er bezahlte sie auf der Stelle, legte Stapel für Stapel auf den Tisch. Jahrelang war er auf einer kleinen IFA-125-Kubikzentimeter gefahren, der Umgebung zum Ulk, bei Wind und Wetter. Die Leute wussten doch, dass er Geld hatte wie kein anderer. Er hätte sich drei solcher Autos kaufen und aus der Brieftasche bezahlen können – wogegen sich manch Bauer oder Arbeiter das Geld für sein Trabantwägelchen borgen musste.

    Er wechselte vom Motorrad aufs Auto. Mit ihr, seiner Königin, fuhr er über Land, auch wieder zu den Kirchentagen. Und sie saß – zum ersten Mal im Leben – in einem Auto, noch dazu neben ihrem Mann. Irgendwann hatten sie sich trauen lassen, standesamtlich und kirchlich. Ihr war lieb, dass es niemand erfuhr. Ihre Bekannten hätten sie ausgelacht: In dem Alter vor den Altar treten! Er hatte auf amtlicher Eheschließung bestanden. Wenn’s ums Erbe geht, ist so eine Regelung wichtig, meinte er, und seine Meinung war immer auch ihre Meinung.

    Zum ersten Mal erlebte sie Ausflüge. Aber es dauerte kein halbes Jahr und sie musste sich eingestehen: Die Leute haben mich nicht ohne Grund gewarnt. Sie hatte seinen Grimm erlebt, wenn er auf der Schreibmaschine schrieb und sie ihn von der Seite beobachtete, wenn er in Akten blätterte. Immer wieder suchte er etwas und brummelte dabei: Der Weißenberger, dieser Lump, hat mich betrogen. Und noch andere solche Ärgernisse ließen sein Gesicht blass oder rot werden. Wenn rot, war es für sie besser, ihn nicht anzusprechen.

    Gern hätte sie ihm geholfen, aber sie traute sich nicht zu fragen. Sie sagte sich: Man muss den Menschen nehmen, wie er ist, und nicht, wie man ihn gerne hätte. So ertrug sie es – von Jahr zu Jahr.

    Es ging in die Siebziger. Ob Ulbricht oder Honecker, das war für sie keine Frage. Sie merkte nur: Die Leute sind ruhiger geworden, schimpfen nicht mehr so sehr. Seit Honecker gibt es etwas mehr zu kaufen, auch schöne Sachen. Doch es gab keine Ruhe für ihn und so auch keine für sie.

    Für sie war das nichts Neues, sie wusste: Bald werden Hände und Finger ermüden. Dann wird das Klopfen schwächer und dann wird es ganz aufhören. So auch an dem Morgen, als er wieder angefangen hatte zu schreiben. Sie stand in der Küche und wartete. Sie vernahm seine Stimme – es war ein Seufzer aus tiefstem Inneren: Huh, bin ich denn ohne Verstand gewesen? Da wusste sie auch, was ihn wieder aufwühlte: die Überschreibung des Wohnhauses, der Nummer 9 B, mit Grund und Boden an seine Frau, seine Erste, nach der Enteignungswelle in der Tschechoslowakei. Die ist über Nacht gekommen – das war 1949 – und er hat Angst bekommen, dass es auch ihn treffen könne bei so viel Besitz: Fabrik, Baugeschäft, Fuhrunternehmen, Sandgruben, Wald, Häuser und eine vor dem Krieg als Kapitalreserve gekaufte Bauernwirtschaft in Lemmisch. Da hat er seinen Besitz geteilt. Das Fuhrgeschäft hat er an Tochter und Schwiegersohn überschrieben.

    Es erwies sich in der Folgezeit: Die Überschreibungen waren überhaupt nicht nötig gewesen. Er musste sich eingestehen: Niemals hätten sie mich enteignet. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat ließ kleine Fische wie Paul Schuster leben. Ich wäre heute noch Besitzer des Hauses, in dem ich wohne – ich als Baumeister zur Untermiete, im Haus, das doch mir gehört, von Anfang an! Nichts mehr lässt sich korrigieren, obwohl ich mich um die Rückgabe mühe. Sie, meine Erste, denkt nicht daran, etwas zurückzugeben.

    Jedes Mal, wenn ihn wieder etwas daran erinnerte – an diese Ungerechtigkeit –, fühlte er sich halb krank. Und noch etwas bedrückte ihn mit den Jahren immer mehr: die freiwillige Übergabe seiner Firma in Volkseigentum. Das war 1953. Er hatte, wieder aus der ihm angeborenen Ängstlichkeit, entschieden, die Schuster’sche Firma aufzulösen. Er und sein Unternehmen wechselten in den staatlichen Sektor über.

    Diesen Schritt hatte er damals für den klügsten seines Lebens gehalten, doch bald darauf für den dümmsten. Mitte Juni, bei schönstem Sommerwetter, war es in den Städten zu Tumulten gekommen – von Berlin aus. In den Tagen darauf war aus Zeitungen und Durchführungsbestimmungen das Wort sozialistisch gestrichen worden. Politik des neuen Kurses – der Staat der Arbeiter förderte auf einmal die privaten Handwerker, die er zuvor mit Überprüfungen und hoher Steuer belegt hatte. Steuern wurden gesenkt, auf ein so niedriges Niveau, wie es Paul Schuster noch nicht erlebt hatte. Seine Weißenberger Konkurrenz hatte sich von Tiefenprüfungen nicht verängstigen lassen – hatte als Privatunternehmen weitergemacht. Nach den neuen Bestimmungen brauchte der Weißenberger von 416 000 Mark Jahreseinnahmen nur 16 000 Mark als Steuer abzuführen. Als Schuster davon erfuhr, heulte er auf: Was sind das für Zustände, und ich wollte schlauer sein als er.

    Erst zwanzig Jahre danach, in den Siebzigern, gingen die letzten Privatunternehmen in Staatshand über. Dieser Übergang war für die Allgemeinheit kaum der Rede wert. Es war der Ausklang eines Abschnitts der Menschheitsgeschichte. Das Private wurde ad acta gelegt. Und auch Paul Schuster hätte sagen können: Hab ich damals doch richtig gehandelt.

    Wer diese Aussage von ihm erwartet hat, kennt Schuster Paul nicht. Gerade die Verstaatlichung der letzten Privaten – nach so vielen Jahren – ließ ihn stöhnen: Alles falsch gemacht im Leben. Ich hätte die ganzen Jahre mein Baugewerbe betreiben können, mit Einnahmen und ohne Krisen. So eine goldene Zeit hätte die Schuster’sche Firma verdient, nach all den schweren Etappen. Ich wäre Millionär gewesen. Sie wären an mich herangetreten und hätten mich zu einer staatlichen Beteiligung überredet. Nichts hätte ich dabei verloren.

    Das Schweigen dauerte diesmal etwas länger. Dann war wieder das Klopfen der Typen auf die Walze zu hören – und bald wieder ein Stöhnen. So ging das, mit immer längeren Pausen, bis endlich Stille eintrat. Da war sie sich sicher: Jetzt ist er am Tisch, mit der Stirn auf dem Ellenbogen, eingeschlafen. In Schafwollsocken, weil sie nicht unnötig heizen durfte, betrat sie leise das Zimmer, schob ihm ein Kissen unter Kinn und Wange. Das ließ er sich gefallen.

    Diesen Schlaf musste sie nutzten. Sie ging nach unten in den Korridor mit der alten Garderobe, neben der das Telefon an der Wand hing. Von einem Zettel las sie die Telefonnummer ab. Sie rief Jan-Paul an, seinen jüngsten Sohn, und teilte ihm mit: Dein Vater schreibt was für dich. Du musst kommen. Er kann in der Nacht nicht schlafen wegen der Schreiberei.

    Jan-Paul fuhr am Vormittag, während seiner Arbeitszeit, mit seinem gelben Wartburg Tourist ins Paradies. Er fuhr am Tor von Schusters Anwesen vorbei. Er wollte nicht gesehen werden. Hinter der Häuserzeile bog er nach links in den Sandweg ein und dann gleich nach rechts in eine Waldschneise. Unter Kiefern blieb er stehen. Mit rot-gelb gestreifter Krawatte auf grauweißem Hemd, im hellen, kurzen Trenchcoat schritt er, die Füße hebend, um nicht Sand in die Schuhe zu bekommen, zum hinteren Türchen. Bevor er es vorsichtig öffnete, denn er wusste, dass es quietschte, kam ihm wie jedes Mal in den Sinn: Wer diese Häusersiedlung gegründet hat, muss schon mal im Paradies gewesen sein, hat sich hier eine Kopie geschaffen. Er horchte – vernahm wie immer das Rauschen der Kiefern –, ging dann entschlossen weiter, über den Hof, nahm die drei Stufen und betrat das Vorhaus.

    Nie hatte er seine Besuche angemeldet, auch diesmal nicht, weil er nie genau wusste, ob er beim Vater haltmachen oder doch lieber vorbeifahren sollte. Heute war er einfach vom Arbeitsplatz aufgestanden und hatte ins Abwesenheitsbuch eingetragen: Auf Dienstfahrt, voraussichtliche Rückkehr Mittag. Anlass war nicht nur das Telefonat der Zweiten. Wichtiger war ihm eine aufgeschobene Angelegenheit: Die Aufnahmen von Vaters Aussagen zu Ereignissen seiner Zeit – die müssten wiederholt werden. Sie sind nur schwer zu verstehen, das Aufnahmegerät war defekt. Vater müsste noch mal zum Fragenbeantworten gebracht werden, für den Fall, dass sich doch irgendwann jemand dafür interessieren sollte.

    Paul Schuster hatte dem Tonband ein paar Seiten Geschriebenes nachgereicht, sein Schreiben jedoch abgebrochen, als es um die Nazi- und Nachkriegszeit ging. Was da geschah, das wäre doch viel wichtiger gewesen. Darüber schreibt er wohl nun, und das ist es, was ihn nicht schlafen lässt. Schreib alles auf, wie es in deinem Leben war, hatte Jan-Paul ihn gebeten, wie bist du über die Nazizeit gekommen und was geschah in den Nachkriegsjahren, wie erging es dir nach Auflösung der Firma im Sozialismus? Nimm keine Rücksicht – auf nichts und niemanden, auch nicht auf dich selbst!

    Eigentlich hätte Jan-Paul unten im Erdgeschoss an der Wohnungstür mit dem blechernen Namensschild Paul Schuster an der rostigen Klingel drehen müssen. Dann hätte sich oben die Tür geöffnet und ihre Stimme wäre zu hören gewesen. Aber er klingelte nicht, er klinkte. Die Häuser im Paradies waren nur während der letzten Kriegsjahre und in der Nachkriegszeit verschlossen, sonst dachte hier niemand ans Zuschließen. Auch diesmal konnte er einfach eintreten, in den halbdunklen Korridor. Er blieb vor der Garderobe stehen und sah sich im Spiegel. In diesem Spiegel hatte er sich oft betrachtet – als kleiner Junge. Das Spiegelglas war schon damals mit Rostpünktchen übersät. Schon damals, als der Krieg bereits angefangen hatte, sollte hier eine neue Garderobe hinkommen. Von der neuen Šatnja wurde geredet, das Wort Garderobe durfte in Vaters Gegenwart nicht ausgesprochen werden. Es klang für ihn aufdringlich deutsch – und deutsche Worte duldete er nicht. Woher sollte er wissen, dass das gar kein deutsches Wort war.

    Den Mantel unten lassen? Vater wird sich wieder mokieren. Für ihn ist das kein Mantel, dieses modische Ding, für ihn ist das eine Rapsplane. Und wieder wird er fragen, ob sein Sohn nicht so viel verdiene, um sich einen ordentlichen Übergangsmantel anzuschaffen. Er würde dem Vater wieder antworten: Auf der Welt ist heute manches anders und es wird auch niemals wieder so sein, wie es gewesen ist, auch nicht die Mantelmode.

    Im Korridor schlug ihm muffige Luft entgegen, weil unten niemand mehr wohnte. Diese Luft wird in den Mantel eindringen, dachte er und nahm ihn wieder vom Haken. Er ging leise nach oben.

    Wie war es hier einst ganz anders, als die Schwester, der Bruder, oft wochenlang auch die Grubschützer – Großvater und Großmutter, Mutters Eltern – das Haus bevölkert haben und oben die zwei Familien zur Untermiete wohnten. Und ganz oben unterm Dach, in dem geräumigen Bodenzimmer, war die Schlafstätte für zwei Belgier. Draußen, über die Straße, in der Fabrik, waren an die hundert ukrainische und polnische Mädchen einquartiert. So viele Menschen draußen, so viele im Haus, ein Rufen, Rennen treppauf, treppab – damals. Heute nun ist es hier still.

    Treppauf steigend hörte er seinen Atem, ihm ging durch den Kopf: Sicher hat sie nicht nur wegen der Schreiberei angerufen. Sie hat wieder zu leiden, und wenn sie anruft, ist das Maß wohl übervoll. Aber darüber spricht sie nicht. Wenn sich Vater wenigstens jetzt anders verhielte, ihr gegenüber, der einzigen Person in seiner Nähe. Er ist doch noch nicht so alt. Warum ist er so – warum sind wir, wie wir sind?

    Flüchtig taucht in ihm ein Bild auf: er als kleiner Junge, der Vater mit rollenden Augen. Er jagt ihm nach, mit der Birkenrute in der Hand, erwischt ihn und knöpft ihm langsam die Hose auf …

    Ihm das heute vorwerfen? Er hat ja auch gutherzig mit mir gesprochen.

    Die Treppenstufen aus Zementterrazzo, vor Kriegsbeginn von Schusters Arbeitern noch einmal geschliffen, haben sich auch nach dreißig Jahren nicht verändert. In diesem Haus ist alles aus Zement, vom Fundament bis zu den Dachziegeln, selbst die Blumenkästen. Vater schwört noch heute auf Zement, als wäre er der Erfinder dieses aus Staub, Sand und Wasser bestehenden, zu Stein verwandelbaren Materials. Mutter hingegen hat oft gesagt: In diesem Haus, nur aus Zement, fällt mir das Atmen schwer. Die Ecken sind immerzu feucht. Und Vater hat ihr dann immer wieder geantwortet: Lüften, lüften, ihr müsst lüften!

    Mit dem Mantel über dem Arm trat er in den oberen Korridor, legte sich im Kopf zurecht, was er dem Vater sagen werde: Hör auf mit dem Schreiben, du musst für mich noch einmal aufs Tonband sprechen! Das ist einfacher für dich.

    In diesem Augenblick, als er das kalte Metall der Klinke in der Hand spürte, riss ihn ein Knall, wie eine Explosion, dicht hinter der Tür, aus seinen Gedanken. Was war das? Was hat Vater angestellt? Hat er Gas aus der Flasche in die Wohnung strömen lassen? Im Geiste sah er seinen Vater schon im Zimmer knien. Mit blutendem Gesicht schaut er ihm entgegen, vorwurfsvoll. Siehst du, Junge, an allem ist die da in der Küche schuld. Meine Zweite. Und ihr, Kinder. Hättet ihr zu mir gehalten, wäre jetzt alles anders.

    Jan-Paul ließ die Klinke los, sprang die Stufen hinunter. So schnell er konnte, hastete er durchs hintere Türchen zum Auto. Keuchend schaute er zurück. Im Haus blieb alles ruhig. Kein Rauch aus den Fenstern, auch nicht durchs Dach.

    Sich selbst schädigen, mit Absicht – nein, das ist nicht Vaters Art.

    Ein Fenster öffnete sich – ihr Fenster, das Küchenfenster zum Hof. Kein Hilferuf, nichts!

    Er zog sich den Mantel über. Ich muss zur Arbeit. Sie muss nicht wissen, dass ich hier war, und er auch nicht. Ich fahre hintenherum, durch die Heide.

    Jan-Paul sah – und sah auch nicht: die Birke an der Weggabelung. Rechts ab geht es nach Kaschel-Kießlitz und von dort aus weiter zu den Grenzsteinen, sehr alt, aber immer noch zu erkennen: KS – grün-weiß gestreift, KP – schwarzweiß gestreift, Königreich Sachsen, Königreich Preußen. Von da unten, aus dem Preußischen, war gekommen, was das Paradies am Waldrand, im Sächsischen, entstehen ließ. In die unberührte Heide hat der Kascheler Johann Schuster, Jan-Pauls Großvater, Šewčik-Dźěd genannt, aus Sand und Zement seine Fabrik gebaut. Das war 1900. Paul Schuster hat ihm oft davon erzählt. Damals waren es zwei Hallen. Doch was mit Kindesaugen gesehen groß erschien, war ein halbes Jahrhundert später klein: zwei Scheunchen mit ein paar Anbauten.

    Die Reifen hinterließen tiefe Spuren im Sand, im feinkörnigen Sand, in dem sich Wildkaninchen Flucht- und Neströhren scharrten. Hier ist nur Sand. Und wer auf Sand geboren, wird keine weißen Semmeln nach Hause fahren. Šewčik-Dźěd hat seine Redensarten weitergegeben: Wer auf Sand sät, muss sich plagen, dass am Abend Beine und Arme nicht wissen, mit wem sie zu Bett gehen.

    Den Sandweg, mit dem Abzweig nach Kaschel-Kießlitz, dem Ursprung der Schusters, wollte er einst beschottern. Seine Firma, die Bauunternehmung Johann Schuster, hatte in der Umgebung Wege und Straßen gebaut, dafür vom Königlich Sächsischen Gesamtministerium Prämien gezahlt bekommen, doch für den Sandweg vom Paradies nach Kaschel-Kießlitz hat es nicht mehr gereicht. Der erste Krieg kam dazwischen. Das Ministerium zahlte nichts mehr. Am Wegrand lagen seitdem lang gestreckte Schotterhaufen, Grauwacke, die sich gut zerklopfen ließ. Die Steinhaufen waren Schusters Eigentum und sollten es in alle Ewigkeit sein, denn niemand wollte sie mehr haben. Moos und Farn wuchsen darauf.

    Die Zeit, als Šewčik-Dźěd hier mit seinem Dixi aus Kaschel über die Spree durch Kießlitz ins Paradies fuhr, in sein Paradies, zur Marja, seiner Schwiegertochter, kannte Jan-Paul vom Erzählen der Mutter. Sie, die Jakobiks Marja aus Lieske, war mit Paul Schuster 1925 gleich von der Hochzeit aus ins eben erbaute, noch feuchtwandige Haus im Paradies eingezogen. Alles musste schnell gehen, weil bald darauf das Mädchen zur Welt kam. Der junge Vater ließ es auf den Namen Anna-Maria taufen, später bekannt als Hanka, die Sängerin.

    Hanka, das erste Kind, danach lange keins mehr. Von seinem Vater hat Jan-Paul einmal gehört: Mutter habe sich auf ihren Touren im Winter mit dem Fahrrad ins Oberland den Unterleib erkältet. Das sei eben bei Frauen so.

    Niemand glaubte mehr an weitere Kinder, da stellte sich, fast zehn Jahre später, wieder Zuwachs ein. Das war 1934. Jan-Pauls Bruder wurde geboren. Entgegen damaliger Gepflogenheit sollte der Junge den für alle – auch in der Schuster’schen Familie – ungewöhnlichen Vornamen Iwan bekommen. Der Vater bestand darauf. Der Großvater, Šewčik-Dźěd, und die junge Mutter versuchten ihm den Iwan auszureden. Der Junge werde darunter leiden, in dieser Zeit. Doch je mehr sie ihn baten, desto hartnäckiger bestand der Vater auf Iwan.

    Aber: Der Junge bekam doch einen anderen Namen. Das hat Hanka Jan-Paul erzählt, ein einziges Mal: Männer in Stiefeln haben Vater aus dem Haus geführt und ihn mit dem Lastauto abtransportiert. Wohin – darüber wurde nicht gesprochen, nur dass wegen Vaters Abwesenheit der Junge einen anderen Namen erhalten hat. Šewčik-Dźěd und Schwiegertochter Marja ließen den Neugeborenen auf Georg-Paul taufen – Jurij gerufen.

    So unverhofft, wie sie ihn geholt hatten, muss Paul Schuster wieder zurückgekommen sein. Er sei mit geschorenem Schädel aus einer schwarzen Limousine gestiegen, aus dem Privatauto des Mannes, der ihn gebracht habe. Vor ihm soll er sich fortwährend verbeugt und ihm dabei beteuert haben: Sollten auch Sie mal in eine solche Lage geraten, werde ich Ihnen helfen. Der Mann, eben der, der Paul Schuster gebracht habe, soll daraufhin laut gelacht haben. Das hätten die Frauen im Paradies gehört. Wenn Jan-Paul gefragt hat, wo denn der Vater gewesen sei, hat ihm die Mutter geantwortet: Er war zur Kur, wegen Sodbrennen.

    Jan-Paul hat sich oft beschwert: Wie konntet ihr mir so einen umständlichen Namen geben? Geboren 1937 als drittes Kind, das letzte, der zweite Junge, soll es mit ihm schon vor der Geburt Komplikationen gegeben haben. Er lag mit dem Kopf in falscher Richtung im Mutterleib. Der Vater wollte, dass in seiner Familie der Name Paul nicht untergeht. Der Krieg kommt ganz bestimmt, wer weiß, ob ich es überlebe! Male nicht den Teufel an die Wand, soll Marja gesagt und auf ihrem Wunsch bestanden haben: Er soll Jan heißen. Paul Schuster hat ihr schließlich den Jan zugebilligt, bestand aber auf Paul als zweitem Namen. Daraus Jan-Paul!

    Jan-Paul kurbelte hastig am Lenkrad, versuchte den Wurzeln auszuweichen.

    Paul Schuster wollte verwirklichen, wovon sein Vater Johann geträumt hatte: Einer von Schusters soll Pfarrer werden. Jurij, sein erster, würde sich eignen. Vielleicht auch der Kleine. Ich plane für die Zeit, wenn das mit Hitler vorbei sein wird.

    So redete er, als sich die Leute die Siegesmeldungen über den Gartenzaun zuriefen. Waurick, der unmittelbare Nachbar, versuchte ihn zu überzeugen: Uns wird es doch nicht schlecht gehen. Die Polen werden für uns die Schweine mästen, den Weizen kriegen wir aus der Ukraine. Auch er als Baumeister müsse doch nun einsehen: Der Führer hat etwas an sich wie kein anderer. Es kommt nun, wie er es vorausgesehen hat. Wir Deutschen sind eben überlegen.

    Die jungen Maurer und Zimmerleute des Schuster’schen Bauunternehmens konnten es nicht erwarten, eingezogen zu werden. Sie meldeten sich freiwillig. Sogar die Alten waren sich sicher: Diesmal ist Deutschland stärker.

    Paul Schuster ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen: Wir haben es doch erlebt! Wenn sich die Deutschen stark fühlen und Hurra Deutschland schreien, kommt bald das dicke Ende.

    Im Wald hinter der Fabrik, in den Schneisen, standen lange Reihen Militärfahrzeuge, die Schnauzen Richtung tschechische Grenze. Paul Schuster hing damals wie zeitlebens danach an seinem Radioapparat, dem großen Telefunken. Er hatte ihn neu gekauft, um den weiteren Lauf der Dinge zu verfolgen. Mit Radio-Nawroth in der Stadt war er nicht ganz einverstanden gewesen: Viel Geld, was du von mir verlangst! Nawroth, der auch Sorbe war, soll ihm zugeflüstert haben: Ich habe dir den stärksten Telefunken besorgt, den es jetzt gibt. Prag und London – kein Problem!

    In diesen Tagen muss es gewesen sein: Im Paradies, im Bürozimmer von Paul Schuster, gerieten die Brüder aneinander. Arndt, Sägewerkbesitzer in Kießlitz – also auf der Kießlitzer Spreeseite von Kaschel-Kießlitz – hatte versucht, seinen Bruder Paul zur Vernunft zu bringen: Merkst du nicht, mit Hitler geht es aufwärts, und in fünf, sechs Jahren wird von deiner Tschechei nichts mehr übrig sein. Da soll ihm Paul – darüber ist später bei Schusters viele Male geredet worden – lächelnd geantwortet haben: Sollte das kommen, wird in fünf, sechs Jahren auch von deinem Deutschland nichts mehr übrig sein.

    Jan-Pauls Mutter konnte sich an diese Auseinandersetzung gut erinnern: Arndt hat Paul ausgelacht und das hat Paul wütend gemacht. Er hat mit den Augen gerollt. Wollen wir wetten?, hat er Arndt entgegengehalten. Und da ist Arndt auf die Wette eingegangen, hat gesagt: Solltest du recht haben, bekommst du mein Sägewerk! Paul, der sonst immer vorsichtig war, konnte bei Streitereien oft seine Nerven nicht zügeln. Da hat er dem Arndt geantwortet: Und du meine Zementbude, solltest du recht haben. Arndt hat nach Pauls Hand gegriffen, ich musste durchschlagen. Und Arndt hat gesagt: Wenn es so weit sein wird, treffen wir uns wieder – hier in deinem Büro.

    Jan-Paul erreichte die Asphaltstraße, bog nach links in Richtung Lemmisch ab, schaute noch einmal in Richtung Paradies, sah die hellen Giebel in der Sonne und fuhr, an der Brückschenke vorbei, nach Gutschina. Von dort ging es in schneller Fahrt in das sich öffnende Bautzener Land mit den weiten Feldern. Die gestreckten Windungen zur letzten Kuppe vor der Stadt ließen ihn aufatmen, doch gleich fragte er sich wieder: Was war das für ein Knall – was hat Vater angestellt? Ob es wahr ist, was die Leute über ihn reden? Dass er sein Vermögen, alles, was er besitzt, der Zweiten überschrieben hat? Wenn Vater mal stirbt, wird sie seine Konten abräumen, ganz sicher. An allem, was geredet wird, ist immer etwas dran, auch daran, dass Vater eine Million besitzt. Mutter hat oft gesagt: Vater wollte immer Millionär sein. Nun hat er es wohl geschafft. Was hat er geschafft? Soll er – soll er es ihr vermachen. Ich brauche ihn nicht, ich baue mein Eigenes auf, Schritt für Schritt. Und überhaupt: Wozu heute noch Geld anhäufen? Wir leben doch in einer anderen Zeit. Heute wird mit anderen Maßstäben gemessen …

    Er hörte die Stimme des Vaters: Ihr jungen Leute habt doch nichts in der Hosentasche. Was ihr verdient, vermacht ihr auf dem Heimweg von der Arbeit. Ihr lebt von der Hand in den Mund. Von euch kann der sozialistische Staat nicht leben. Dass ihr das nicht verstehen wollt. Etwas Kapital muss sich der Mensch doch schaffen!

    Nein, das nicht mehr. Mein Kapital ist mein Leben ohne Kapital. Er soll machen, wie er es für richtig hält, ich mache, wie ich es für richtig halte. Ich werde wegen des Geldes nicht mein Leben verhunzen.

    Jan-Paul ging leise, aber mit schnellen Schritten durchs Sekretariat, wollte unauffällig in seinem Zimmer verschwinden. Als Abteilungsleiter saß er allein, seine Mitarbeiter zu zweit oder zu dritt in den Räumen nebenan. Doch die Sekretärin sprach ihn an: Dein Vater hat angerufen, du sollst zurückrufen!

    Mit offenem Mund schaute Jan-Paul zu ihr. Fast wäre ihm herausgerutscht: Ich war doch gerade bei ihm. Weil er nichts sagte, gab ihm die Sekretärin zu verstehen, leise, damit es niemand hören konnte: Er wartet. Soll ich dich verbinden? Jan-Paul antwortete mit belegter Stimme: Nein, ich vergesse es nicht. Erst mal muss die Post erledigt werden! Dann wollte er doch noch genau wissen: Er oder sie – wer hat angerufen?

    Zuerst er, dann sie.

    Jan-Paul unterschrieb die Post, von der Sekretärin Blatt für Blatt gereicht. Dabei nur einen Gedanken im Kopf: Was ist dort passiert? Das war doch wie eine Explosion.

    Vor Arbeitsschluss erinnerte ihn die Sekretärin an den Anruf. Er antwortete: Jetzt rufe ich an. Er nahm den Hörer, wählte die Telefonzentrale. Doch sie war schon nicht mehr besetzt.

    I. Teil

    1.

    Paul Schuster hat den Seinen oft gesagt: Man darf nie vergessen, woher man kommt! Gleich am Anfang seiner maschinegeschriebenen Blätter, auf denen er im ersten Teil seine Kindheit beschrieb, stand: Und wenn du bis nach Kamtschatka rennst, deiner Herkunft und deinen Blutsverwandten entfliehst du nicht. Du kannst dir einreden, dass es sie nicht mehr gibt. Aber es gibt sie eben doch und du wirst sie nicht los, auch dann nicht, wenn sie schon nicht mehr leben.

    Er hatte es in sorbischer Sprache aufgeschrieben, obwohl ihm niemand das Sorbischschreiben beigebracht hatte. Zu seiner Schulzeit gab es kein Sorbisch in der Schule – es gab überhaupt kein Sorbisch, damals war nur von Wendisch die Rede. Für ihn hieß es aber zu allen Zeiten serbski – wir sprechen serbski. In der Nachkriegszeit, so ab 1948, wurde dann von Sorbisch gesprochen und dieser Begriff schließlich auch amtlich eingeführt.

    Paul Schuster hat sich das Schreiben auf Sorbisch selbst beigebracht, sich aus Büchern und Briefen abgeguckt. Rechtschreibfehler waren mit Tintenstift korrigiert.

    Er hat seine Herkunft nie verheimlicht. Seinen Söhnen hat er von seiner Kindheit erzählt, vom roten Wollkleidchen, das er nicht hergeben wollte. Er soll geschrien haben, als man es ihm kurzerhand übers Köpfchen riss, weil seine jüngere Schwester es dringend brauchte. Da war er fünf und es war nicht nur um ein Kleidchen gegangen. Hinzu kam jeden Morgen nach dem Aufstehen das Schubsen, Kratzen, Beiseitedrängeln, wenn es um die Mehlsuppe mit Brotstücken ging. Jeden Morgen stand das schwächliche Paulchen mit dem Löffel in der Reihe und wartete auf das Signal: Jetzt könnt ihr. Dann stürzten sich alle auf die Schüssel. Und so gab es auch Gedränge und Aus-den-Händen-Reißen, wenn es um Hemdchen, Hosen oder Holzlatschen ging. Schuhe gab es nicht, nur der Vater hatte Schuhe. Der ging in Schuhen am Sonntag den weiten Weg nach Kluksch in die Kirche oder wenn er in die Stadt musste.

    Einige Passagen auf dem Tonband waren zu verstehen – Paul Schuster sprach über seine älteren Brüder: … Sahnetopf von der Ofenbank gestoßen. Ich erschlage euch, hat Mutter geschrien … auf Max und Arndt mit der Butterfassstampfe eingedroschen. Ich bin ausgerissen, zur Nachbarin, und die hat mir erzählt: Das ist nicht deine richtige Mutter …, deine Mutter ist gestorben, bald nachdem du auf die Welt gekommen bist. Die Brüder haben von zwei Müttern gesprochen. Die erste war gutmütig, die zweite bösartig. Meine Brüder haben nicht bedacht: Für die zweite, sehr junge Mutter war das von Anfang an ein Martyrium. Arbeit draußen, Arbeit drin … Und so viele Kinder – drei von der ersten, dann sechs eigene. Die Kinder liefen ihr hinterher, wollten gestillt werden. Sie schnappte sich zwei gleichzeitig und ließ sich schnell absaugen.

    Was sich zu Hause abspielte, war nicht Vaters Sorge. Er, Johann Schuster, war immer auf Achse für sein Geschäft – und immer dabei, wenn es irgendwo darum ging, das Wendische hochzuhalten.

    Das Tonband brummte, dann war wieder die Stimme von Paul Schuster zu hören: Ohne Muttermilch blieb ich schwach – rachitisch. Erst mit der Buttermilch der Nachbarin begann ich zu wachsen. Brot nie genug, immer nur Kartoffeln, unsere goldenen Engelchen, mittags, abends, immer den Eisentopf voll Kartoffeln. Der hielt uns am Leben.

    Noch war kein Jahr seit dem Tod seiner ersten Frau vergangen, da hatte Vater schon Nachwuchs mit seiner zweiten Frau, mit der um Jahre jüngeren Schwester der ersten. Sie war noch keine Achtzehn, musste die Wirtschaft übernehmen mitsamt Vieh und Kindern. Wie konnte er nur so schnell, noch im Trauermonat, ein Kind mit ihr zeugen?

    An dieser Stelle hörte sich Jan-Paul selbst auf dem Tonband: Aber Vater, was wunderst du dich! Was wäre denn aus euch geworden, hätte sich dein Vater nicht die Achtzehnjährige geholt?

    Lautes Brummen. Und dann die Katastrophe: Junge Burschen gingen vom Tanz, warfen Zigarettenstummel weg, die fielen ins Strohdach … Der Raum, in dem wir schliefen, war ohne Decke. Als wir aufwachten, fielen uns schon brennende Strohhalme ins Haar. Mutter schrie: Schnappt die Federbetten! Das war alles, was wir retten konnten. Zu den Kühen und Schweinen traute sich keiner mehr. Eine Gans flog brennend in hohem Bogen in die Spree. Die Schweine haben schrecklich geschrien, bis sie leiser wurden und verstummten. Die verkohlten Gerippe der Kühe werde ich nie vergessen. Nach einer halben Stunde war unser gesamtes Anwesen ein Haufen Asche mit glimmenden Holzstücken und ausgeglühten Wagenradreifen. Fürs Haus musste die Feuerversicherung zahlen. Für Gerätschaften und Kleinvieh bekamen wir keinen Pfennig. Ich habe Vater danach gefragt: Werden wir nun für immer so arm bleiben?

    Nein, ich werde eine Fabrik bauen, hat er gesagt. Und dann bekommt ihr alle Schuhe.

    Was Paul Schuster schriftlich hinterlässt, tippt er in seine Rheinmetall-Breitwagen-Maschine: Wir Kinder mussten schwer arbeiten. Wenn ich mit dem Kuhgespann vom Feld nach Hause fuhr, konnte ich mich etwas erholen. Ich fuhr am Forsthaus vorbei. Das Forsthaus war das ehemalige Herrenhaus des Gutes auf der anderen Seite des Dorfplatzes, unserem Haus gegenüber. Weil sich das Gut auf den Sandböden von Kaschel-Kießlitz nicht halten konnte, hat es der sächsische Staat dem Besitzer abgekauft und darin die staatliche Forstwirtschaft eingerichtet.

    Die im Herrenhaus wohnenden Forstbeamten waren feine Leute. Vom Wagen aus habe ich im Schatten der Linde den weiß gedeckten Tisch gesehen, mit Weingläsern und blitzendem Besteck. Ich saß auf dem Kuhwagen auf trockener Schmiele, dem trockensten Gras, das es überhaupt gibt und das Kühe nur dann fressen, wenn sie schrecklich ausgehungert sind. Die Kühe blieben stehen, weil ich nicht mehr bei der Sache war. Einer von den Grünröcken nahm die Zigarre aus dem Munde. Was guckst du?

    Zu Hause wollte ich vom Vater wissen: Wieso müssen wir bei dieser Hitze den ganzen Tag arbeiten und die dürfen im Schatten sitzen und Wein trinken? Seine Antwort: Weil sie Herrschaftliche sind.

    Und was sind wir? Wir sind arme Leute. Wir müssen uns unser Essen selber erarbeiten. Und sie?

    Sie werden gut bezahlt.

    Wer bezahlt sie denn?

    Der sächsische Staat.

    Und wo nimmt der das Geld her?

    Na von uns.

    Da werden wir ihm doch nichts mehr geben.

    Da wird er sich eben nehmen, was er braucht.

    Seine erste ordentliche Hose hat sich Paul Schuster selbst verdient. Über seinen Hosenkauf schrieb er: Nach dem achten Schuljahr durfte ich, weil der Krieg, der Erste, begonnen hatte, in der Stadt in den Johne-Werken arbeiten. Habe mit fünfzehn Granaten gedreht, fürs erste Geld Hosen gekauft. Da hat mich Vater, weil er das Geld dringend zum Einlösen der Wechsel brauchte, mit dem Hosenriemen so schrecklich verdroschen, dass ich die Nacht nur unter Qualen überstand. Sonst war Vater ein gutmütiger Mensch, viel zu gut war er. Oberförster Melzer kam oft zu ihm, zu Johann Schuster, einem klugen Kopf, der mit dem Pfarrer und dem Lehrer mithalten konnte, wie es im Dorf hieß. Melzer belächelte ihn dennoch: Herr Schuster, was wollen sie mit ihrem Wendischen – das ist doch gar keine richtige Sprache. Sie sind doch auch Deutscher wie ich. Das sagt doch schon der Name.

    Da hat Vater ihn aufgeklärt: Die Namen werden auf den Standesämtern eingetragen, immer nur deutsch. Richtig heißen wir Šewc. So sind wir seit Jahrhunderten im Kirchenbuch eingetragen. Aber seit Bismarck gilt amtlich nur das, was im Standesamt eingetragen ist, und seitdem heißen wir nicht mehr Šewc sondern Schuster. So versucht man aus uns Deutsche zu machen. Aber ich bin trotzdem das, was ich bin, und werde das auch bleiben – ein Wende.

    Ach Herr Schuster, wenn ich sie so nennen darf, wie viel Wenden gibt’s denn noch?

    Viele, hat Vater ihm geantwortet. Wir sind Teil vom großen Slawenstamm, und der ist viel größer als das kleine Deutschland.

    Auf dem Band dazu: Mein Vater, amtlich Johann Schuster, in der Gegend als Šewčik-Dźěd bekannt, war Vorsteher im Kirchenvorstand von Kluksch. Er hatte nicht viel für den Pfarrer übrig. Er wünschte ihm nichts Gutes, weil der Pfarrer mit seiner Frau nur deutsch sprach. Sie war eine Deutsche und bekam auch nach Jahren kein Pomhaj Bóh über die Lippen …

    Als ich im Jahre 1914 konfirmiert wurde, hat der Pfarrer sechsundachtzig Konfirmanden deutsch konfirmiert. Diese Deutsch-Konfirmierten, die untereinander nur serbski redeten, waren von da an alle Deutsche. Das hat Vater dem Pastor, der auch Sorbe war, nie verziehen. Mich und noch elf andere aus der Kirchgemeinde musste er damals wendisch konfirmieren. Aus Kaschel-Kießlitz war ich der einzige Wendisch-Konfirmierte, und so ging das dann mit den Schusterkindern weiter. Die musste der Pfarrer alle wendisch konfirmieren. Die lutherische Kirche soll sich nicht heiliger machen, als sie ist. Sie hat beim Einführen des Deutschtums getan, was sie konnte. Hat mit uns Sorben kein Mitleid gehabt. Die wenigen Pfarrer, die sich anders verhalten haben, kann man an fünf Fingern abzählen.

    2.

    Wenn du arm bist, hast du keinen Ärger mit Geld – außer du brauchst welches. Das war Johann Schusters Redensart.

    Für die Schusters war die Welt des Geldes eine fremde Welt. An dem Tag, als Johann Schuster im Jahre 1900 mit 26 Jahren seine Bauunternehmung gründete, überschritt er die Schwelle in diese andere Welt. Von Anfang an musste er dem Geld nachjagen und von Anfang an wurde er vom Geld gejagt.

    Der junge Johann Schuster hieß nicht nur Schuster, er war es auch. Hat auf dem Schemel gesessen und sich beim Klopfen der Täckse in die Sohlen gefragt: Wie soll ich von der Schusterei eine ganze Familie ernähren, wenn die Leute im Dorf vom Frühjahr bis zum ersten Frost barfuß laufen? Auf dem Schemel sitzend hat er sich Verschiedenes ausgedacht. Man könnte die Spree stauen und eine Mühle arbeiten lassen. Das wäre was. Dann brauchten die Leute nicht mehr bis Kluksch nach Mehl zu fahren. In der Manjawa sind die Ufer hoch genug, um ein Wehr zu bauen. Oder ich ziehe in die Stadt und gründe eine Bank – eine Bank für arme Leute. Besser wäre wohl, nach Leipzig zu gehen und als Pfarrer zurückzukommen. Der Pfarrer sitzt im Sommer unterm Baum im Schatten und schreibt seine Predigt. Der Bauer muss in der größten Hitze Heu wenden. Es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus: Ich muss etwas anderes machen. Arbeiten, etwas verdienen kann man nur oben im Bautzener Land, niemals hier unten in der Heide.

    Der Bauunternehmer Graf in Basankwitz suchte Handlanger. Er nahm den jungen Mann auf Probe. Er sah, wie der schmächtige Johann die Ziegel huckte und die Leiter hinaufstieg, schneller als manch Breitschultriger. Und er behielt ihn.

    Jeden Tag drei Stunden zu Fuß hin und nach Feierabend wieder drei Stunden zurück – wie lange hält das ein Mensch aus? Johann Schuster sah einen Mann auf einer Draisine aus der Stadt kommen und war sofort begeistert. So ein Ding wollte er haben. Zu Hause musste er zusätzlich zu seiner Huckerei bei Graf die Rolle des jungen Wirtschafters übernehmen. Die Eltern waren kurz hintereinander gestorben. Er hatte freie Hand. Schluss mit der Lauferei! Er nahm eine der beiden Kühe aus dem Stall und bezahlte damit die Draisine. Seine Tanten weinten. Womit willst du die Felder bestellen? Die Draisine kostete 350 Mark. Bei Graf bekam er für eine Stunde 21 Pfennige. Mit einer Kuh vor dem Anfuhrhaken fuhr er bei Mondschein die Kartoffelzeilen an. Das sah aus, als kratze er mit einem Holzscheit die Erde auf. Was daraus wachsen konnte? Aus der Not die Not.

    Wie kommen wir aus diesem Zustand heraus? Mit dieser Frage stand er früh auf, mit ihr schlief er abends ein. Und er sagte sich: Was Graf kann, kann ich auch. Und so kam es zu einer Fahrt mit einem Bicycle nach Cottbus zur Baumaschinenausstellung. Das Bicycle hatte nur 120 Mark gekostet und war viel schneller als die Draisine. Die Fahrt war weit, über einhundert Kilometer. Mit ihm fuhr August Rohmann. Der hatte im Preußischen in einer Zementfabrik gearbeitet und suchte Arbeit. Ihm stellte Johann Schuster seinen Plan vor. Er werde eine Fabrik für Zementwaren bauen. August Rohmann solle das Mischen übernehmen. Dafür werde er ihm neben der Fabrik eine Parzelle abtreten. Auf der könne er sich sein Häusel bauen. Und er könne sich auch noch eine von Schusters Mädel nehmen.

    In Cottbus sahen sie zuerst eine Dachziegelmaschine. Sie bestand aus einem Tisch aus Eisen mit einer rechteckigen Vertiefung. Dahinein kam eine Schaufel Zementmörtel. Mit einem Profileisen stampfte ein Arbeiter den Mörtel zum Dachziegel, glättete ihn und trat aufs Pedal. Da hob sich der fertige Dachziegel aus der Vertiefung. Er musste ihn nur in ein Regal zum Trocknen legen. Andere Maschinen für Hohlblocksteine, Sturze und Mauersteine wurden begutachtet und von Johann Schuster gleich bestellt. Er unterschrieb den Liefervertrag, obwohl er noch nicht wusste, wo seine Fabrik stehen sollte. Und vor allem: Würde er denn für diese Bestellung von der Bank Kredit bekommen?

    Am selben Tag ging es wieder zurück. Todmüde kehrten sie in der Guten Laune in Lemmisch ein. Dort trafen sie Bauer Dutschke, den größten Bauern von Lemmisch, mit über hundert Hektar. Mit ihm verhandelte Johann Schuster wegen fünf Hektar Kiefernwald. Die können am Rande der Lemmischer Flur sein, auch sandig. Hauptsache, er bekomme sie so bald wie möglich überschrieben.

    Dort draußen, nach Klitten zu – warum nicht, sagte Dutschke. Der Kauf wurde mit Handschlag besiegelt. Dutschke hat dann erzählt: Geschäft gemacht, dem kleinen Schuster aus Kaschel fünf Hektar Wald verkauft – blanken Karnickelsand mit paar Krüppelkiefern!

    Blanker Sand! Darum ging es. Nach der Baumaschinenausstellung in Cottbus warb Johann Schuster überall, wohin er kam, für sein Unternehmen: Ihr werdet alle zu mir kommen und Dachziegel haben wollen. In zehn Jahren gibt es hier kein Strohdach mehr.

    Die fünf Hektar von Dutschke – das war der Anfang vom Paradies. August Rohmann bekam seine Parzelle und die Schwester von Johann Schuster zur Frau.

    Rohmanns Haus, mit einem auffälligen Erkerzimmer – viel zu groß im Vergleich zum Haus –, war eigentlich gar kein vollwertiges Haus, vielmehr ein Häusel mit kleinsten Fensterchen, einer Küche – kaum Platz für drei Personen –, einem Esszimmerchen, das zugleich als Wohnzimmer diente, und noch einer guten Stube, die fast nie benutzt wurde.

    Rohmann hatte mit Johann Schusters Schwester vier Kinder. Das letzte war Kurt. Bei seiner Geburt starb die Mutter. Jan-Paul konnte lange Zeit nicht begreifen, warum er Kurt Rohmann

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