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Der Fakir – Ein Leben zu Füßen des Meisters
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eBook348 Seiten4 Stunden

Der Fakir – Ein Leben zu Füßen des Meisters

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Über dieses E-Book

Das Leben von Rudra ist verpfuscht. Er ist dem Alkohol verfallen und alle seine Freundschaften sind zerbrochen. Er ist eine gescheiterte Existenz und denkt ständig daran, seinem miserablen Leben ein Ende zu setzen. In dieser Stimmung fährt er auf eine Schnellstraße im Süden Indiens, als er auf der Auffahrt einen schwerverletzten alten Mann liegen sieht. Er hält an und gibt dem Unfallopfer kaum eine Überlebenschance. Trotzdem hebt er ihn auf und lädt ihn in sein Auto.

Dort schlägt der alte Mann die Augen auf und sagt: "Hallo, mein Sohn!" In diesem Moment beginnt für Rudra ein neues Leben. Der alte Mann erweist sich als sein Meister und beginnt ganz behutsam, Rudra auf einen spirituellen Weg zu führen.

Es entfaltet sich eine einzigartig schöne, poetische, tiefsinnige, humorvolle und von geistiger Tiefe geprägte Beziehung, wie sie selten zuvor literarisch bearbeitet wurde.

Dieses Buch ist ein wundervolles Juwel der Spiritualität! Vielleicht ist der Geistige Pfad noch nie so persönlich, so feinsinnig und so berührend beschrieben worden.

Ein Buch, das man sein ganzes Leben lang immer wieder zur Hand nehmen wird!

SpracheDeutsch
HerausgeberAquamarin Verlag
Erscheinungsdatum3. Juni 2023
ISBN9783968613000
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    Buchvorschau

    Der Fakir – Ein Leben zu Füßen des Meisters - Ruzbeh N. Bharucha

    1

    Der kleine Junge mit dem zerzausten Lockenschopf hatte einen verschmitzten Ausdruck in den Augen und Grübchen auf der Wange. Er flüsterte: „Paaapa, bitte geh nicht!"

    Das junge Mädchen hatte Haare wie Gold, aber harte und anklagende Augen. In einem Tonfall, der ihm vorkam, als ob es ihn bereits begraben hätte, spuckte es förmlich aus: „Was bist du bloß für ein erbärmlicher Versager, Paps."

    Genau wie unzählige Male vorher, wachte er plötzlich auf, und seine müden Augen fielen auf den alten Wecker. Er stöhnte, sein Magen tat weh und er fluchte. Es war noch nicht ein­mal drei. Gerade mal eine halbe Stunde hatte er geschlafen. Er blieb mit geschlossenen Augen liegen, atmete tief ein und betete um Schlaf. Eine lange Zeit hatte er nicht gut geschlafen. Eine zu lange Zeit – und er wollte nicht wach bleiben, nicht noch eine Nacht.

    Das Zimmer wurde durch eine Kerze erhellt, die mit ihrem goldgelben Glanz still die Dunkelheit liebkoste. Er war davon überzeugt, dass Feuer die Dunkelheit vertrieb und gute Geister (er pflegte sie Schutzengel zu nennen) einlud. Was aber am wichtigsten war, es hielt unerwünschte Geister (er pflegte sie Astralschnorrer zu nennen) fern. Aber was konnte man schon gegen die eigenen Gedanken ausrichten? Nur die Flamme des Friedens könnte das Chaos, das in seinem Inneren herrschte, vertreiben. Soweit es um Frieden ging, war bei ihm allerdings Pleite auf der ganzen Linie angesagt.

    Er war durstig, wie üblich. Entweder war der Whiskey nicht so gut wie das Etikett versprach oder er hatte mehr als üblich getrunken. Mit geschlossenen Augen versuchte er das Quantum, das er am Vortag wie ein trockener Schwamm aufgesogen hatte, zu ermitteln. Angefangen hatte er schon ziemlich früh. Zu früh, sogar für ihn, wohl um die Mittagszeit. Nachdem er sich ungefähr eine Stunde oder so mit dem ‘Erdgeist’ angefüllt hatte, war er zu seinem üblichen Sieben-Meilen Spaziergang aufgebrochen. Inklusive Flachmann, versteht sich, und er hatte dann weiter bis …. hm … na, irgendwann später halt, getrunken.

    Der Mann stöhnte laut auf, als ob er seinen unsteten Geist inständig bat, endlich Ruhe zu geben und sich aufs Schlafen zu konzentrieren.

    Sekunden später war er tatsächlich eingeschlafen.

    2

    Er wusste, dass er sich wieder auf den Weg machen musste. Eigentlich hatte er gar keine Wahl. Seine Träume und Albträume verfolgten erbarmungslos nur ein einziges Ziel: Ihn auch noch der letzten Überreste seines Verstandes zu berauben. Seit Jahren lebte er schon wie ein Zigeuner, niemals hielt er es länger als ein paar Monate an einem Ort aus. Elf Monate waren eine bisher unerreichte Spitzenleistung. Natürlich lag dies hauptsächlich daran, dass er drei Monate lang in der Waagerechten verbracht hatte – auf einem Bett im Krankenhaus, wo er verschiedenen Tests unterzogen worden war. Aber die Krankheit, die er hatte, wusste niemand zu diagnostizieren und folglich auch nicht zu heilen.

    Er brauchte einen Tag, um alle Rechnungen zu bezahlen und seine spärlichen Habseligkeiten einzupacken. So oft hatte er schon gepackt, dass er es immer perfekt hinbekam, sogar im Halbschlaf oder im Vollrausch, völlig losgelöst von jeder Realität. Man hielt ihn für einen Zigeuner und Hippie, obwohl er sich in Wahrheit nach nichts mehr als nach Wurzeln und Verbundenheit sehnte. Aber das war, so viel war ihm klar, nicht in seinem Karma vorgesehen, zumindest nicht für sein jetziges Leben.

    Freunde hatte er keine. Außer seinem Vermieter kannte niemand seinen vollständigen Namen. Vermissen würden ihn die Straßenkinder, denen er Geld und Essen gab, und die Angestellten der wenigen Restaurants, die er gelegentlich besuchte, entweder um menschliche Gesellschaft um sich zu haben, die ihn wieder in die Normalität eintauchen ließ, oder um einfach mal nicht mehr aus der Dose zu essen. Ja, am meisten würde ihn sicherlich der alte Sikh mit seinem Turban vermissen, der ihm Alkohol verkaufte und von seiner Kindheit erzählte, die er auf den Feldern eines kleinen Dorfes verbracht hatte, nur eine halbe Stunde vom „Goldenen Tempel" in Amritsar entfernt. Der alte Mann fing gewöhnlich an zu weinen, wenn er trank, was oft der Fall war, und dann erzählte er von Ereignissen aus seiner Kindheit, seinem Dorf und seiner Familie. Meist weinte er aber, weil er die Stadt, in der er die vergangenen sechzig Jahre gelebt hatte, nicht verlassen und ‘nach Hause’ zurückkehren konnte.

    „Warum gehst du denn nicht zurück?"

    „Zurück zu was? Alles ist doch weg. Wie soll ich überleben? Wer wird sich um mich kümmern, wenn ich krank werde? Nein, mein Sohn, ich kann nicht zurück … ich hätte vor vierzig Jahren zurückgehen sollen, habe mir aber immer wieder gesagt, ich werde schon noch gehen, später, und jetzt ist es zu spät. Hätte eher gehen sollen. Das hätte ich wirklich machen sollen. Jetzt ist es zu spät. Bin zu alt, und es wird auch nicht mehr so sein wie früher. Meine Seele ist dort, aber unglücklicherweise muss mein Körper hier bleiben, in dieser Hure von Stadt ohne Herz. Warum bin ich nicht gegangen, als ich noch konnte? Ich war ein Idiot. Mein ganzes Leben lang hab ich mich nach meinem Dorf gesehnt, in das ich leicht hätte zurückkehren können, wenn ich nicht so durcheinander und so gierig gewesen wäre. Was war ich nur für ein Narr!"

    Der junge Mann nickte dann gewöhnlich und pflegte zuweilen, wenn er selber betrunken war, zu erwidern: „Ja, ich weiß, was du meinst. Wenn Herz und Seele sich danach sehnen, an einem bestimmten Ort zu sein, ohne dass der Körper – ganz egal warum – ihnen folgen kann, dann ist das die Hölle. Man muss nicht sterben, um in die Hölle zu gelangen. Meistens findet die Hölle einfach im Kopf statt."

    Entweder mache das, wonach sich deine Seele wirklich sehnt. Wenn du das aber – aus was für Gründen auch immer – nicht kannst, dann schließe Frieden mit dir und akzeptiere deine gegenwärtige Situation mit Würde als den Willen des Herrn. Einen anderen Weg gibt es nicht …

    Gewöhnlich flüsterte dann eine leise Stimme in seinem aufgewühlten Herzen: „Sohn, dann ändere doch einfach den Inhalt deines Kopfes: Entweder mache das, wonach sich deine Seele wirklich sehnt. Wenn du das aber – aus was für Gründen auch immer – nicht kannst, dann schließe Frieden mit dir und akzeptiere deine gegenwärtige Situation mit Würde als den Willen des Herrn. Einen anderen Weg gibt es nicht, Sohn …"

    Er wusste, dass die leise Stimme in seinem Inneren Worte der Alten Wahrheit sprach, doch er ignorierte sie. Entweder war er zu wütend, zu schwach oder nicht bereit, den einzigen Weg, der ihm erlauben würde, in Frieden ein- und mit geistiger Gesundheit wieder auszuatmen, ganz und gar zu akzeptieren und zu umarmen. Es braucht Weisheit, um sein Bestes zu geben und dann loszulassen und all das mit Würde zu akzeptieren, was Schicksal oder Vorsehung im Leben für einen jeden bereithalten. Mit absoluter positiver Hingabe.

    3

    Er war sich darüber im Klaren, dass er wieder anfangen müsste zu arbeiten. Er hatte genug gespart, um etwas mehr als zwei Jahre sein Auskommen zu haben. Jetzt blieben ihm noch ein paar Monate, um so zu leben, wie er es gewöhnt war. Und danach – wieder ein Teil der Zivilisation werden, oder noch besser, ein paar Tabletten in seinen Lieblingswhiskey werfen, der Welt zum Abschied den Finger zeigen und ins La-La-Land eingehen.

    Die zweite Alternative fand er eigentlich ideal, aber für alle Lästermäuler wäre sie ein gefundenes Fressen, weil sie ihn dann noch mehr als bisher verleumden könnten. Wenn er tot und abgetreten wäre, mit Flügeln am Hintern, einer Harfe in der einen und einem Drink in der anderen Hand, dann würde das seine Kinder ein für allemal davon überzeugen, dass ein bestimmter Teil der Welt Recht hatte und er sie tatsächlich verlassen hatte. Wobei es in Wirklichkeit doch so ganz anders gewesen war.

    Hm. Was stand an? Ungeliebtes Leben oder großer Abgang? Hm? Also dann! Weitermachen mit dem Leben, wenn auch nicht für irgendeinen bestimmten Zweck, dann doch wenigstens als Stein des Anstoßes der Welt erhalten bleiben – vor allem dem Teil der Welt, der ihm weder Raum noch Luft zum Leben lassen wollte. Die Freude eines vorzeitigen Abgangs wollte er den Lästermäulern nicht machen. Für seine Kinder würde er weiterleben, … auch wenn seine Tochter ihn hasste und sein Sohn aller Wahrscheinlichkeit nach glaubte, dass er sie einfach verlassen habe.

    „Rudra, alter Junge, dich ham se voll am Arsch." Während er dies aussprach, schaute er sich im Zimmer um, nickte, als ob er den Geistern, die mit ihm den Raum bewohnt hatten, danken wollte, und lächelte das Bild Ganeshas an – Ganesha, der untersetzte Gott mit dem Elefantenkopf, Sohn von Shiva und Parvati –, der ihn schon so oft davon abgehalten hatte, sich umzubringen. Er faltete seine Hände und grüßte Ganesha mit einem Namaste. Dann hob er seine zwei Provianttaschen vom Boden auf, drehte sich um, seufzte und verließ das gemietete Zimmer, um niemals wiederzukehren.

    4

    Es war nötig, dass er ständig die Kontrolle über seine Emotionen behielt. Er musste im Augenblick leben, sonst würde ihn der Kummer, der sich aus Erinnerungen speiste, in den Wahnsinn treiben und die Last des Kreuzes, das er trug, würde ihn endgültig niederwerfen und begraben. Weder verdrängte er seinen Schmerz noch verbrämte er sein Elend auf romantische Weise, und ganz gewiss stellte er sich kein Happy End vor. Alles, was er tat, um bei Verstand zu bleiben, war, im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Das bedeutete, bei allem, was er tat, präsent zu sein. Wenn er Musik hörte, ging er völlig in der Musik auf. Wenn er aß, war seine Aufmerksamkeit allein aufs Essen gerichtet. Befand er sich auf seinem Sieben-Meilen Spaziergang, dann ging er, beobachtete und befand sich einfach ganz und gar in dem „vermaledeiten" Moment. Keine Gedanken. Keine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Keine Angst vor der Zukunft. Die Worte Seines Ewigen Meisters kamen ihm wieder in den Sinn.

    „Rudra, Gott ist im Augenblick. Er ist nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Wenn du nicht im Augenblick leben kannst, wenn du nicht so leben kannst, als ob jeder Augenblick dein letzter sein könnte, dann lebst du nicht, Sohn, du existiert einfach nur. Lebe so, als ob du niemals wieder leben würdest. Freue dich an dieser Erfahrung, als ob du niemals wieder eine Gelegenheit erhieltest, dich an ihr zu erfreuen. Gerade jetzt isst du diese saftige Mango. Iss sie so, als ob dies deine letzte Mango sei. Iss sie so, als ob deine Zähne nie wieder in dies gold-orangefarbene Fruchtfleisch beißen würden. Jetzt fühle den Unterschied. Diesen Geschmack wirst du nie wieder vergessen. Nun, wie schmeckt’s, Sohn?"

    „Ganz wunderbar … Aber ich könnte die Mango noch zehn Mal mehr genießen, wenn du meinen Fuß nicht platt treten würdest, oh großer Meister."

    Rudra lächelte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er atmete tief ein. Wie wenig war ihm damals klar geworden, dass ihn diese einfache Philosophie am Leben halten würde, ihn nicht verrückt werden lassen und auch davon abhalten sollte, von Hass und Negativität erfüllt zu werden, vor allem denen gegenüber, die er damals zu seinen Vertrauten gezählt hatte. Seine Träume konnte er nicht kontrollieren, aber in seinen Wachstunden rettete ihn dieses Leben im Augenblick, vor lauter Gedanken und Erinnerungen verrückt zu werden. Und was noch viel wichtiger war, sein Leben im Augenblick bewahrte ihn auch davor, jemand zu werden, den er verabscheuen müsste.

    Natürlich konnte er inzwischen keine Mangos mehr essen. Ironischerweise war der Tag, an dem ihn sein Meister gelehrt hatte, wie er den gegenwärtigen Augenblick genießen und umarmen könne, auch der letzte gewesen, an dem er diese Königin der Früchte genossen hatte – vor so vielen Jahren. Vor wie vielen Jahren? „Kommt mir vor wie in einem anderen Leben. Aber trotzdem, Du hast schon Recht, Alter Mann, der Geschmack ist noch da."

    Es braucht Weisheit, um sein Bestes zu geben und dann loszulassen und all das mit Würde zu akzeptieren, was Schicksal oder Vorsehung im Leben für einen jeden bereithalten. Mit absolut positiver Hingabe.

    5

    Der schwarze Lieferwagen war seine Verbindung zur Außenwelt. Er ermöglichte ihm zu reisen, wohin und wann er wollte, besonders wenn der Drang, von einem Ort oder vor seinen Suizidvorstellungen zu fliehen, übermächtig wurde. Der Lieferwagen war Zeuge seiner Tränen und Verzweiflung gewesen und hatte auch oft die Rolle eines Kameraden übernommen.

    Wenn er sich in seinem Lieferwagen aufhielt, fühlte er sich oftmals vor allen Stürmen gefeit, vor inneren ebenso wie vor den Anstürmen der Welt da draußen. Es gab Tage, an denen er sich in den Lieferwagen zurückzog und spürte, dass dieser Rückzug in sich selbst ihm Kraft gab – wie einem Baby, das im Mutterleib genährt wird. Jedenfalls Kraft genug, um dem übermächtigen Drang, sein Leben zu beenden, zu widerstehen.

    Der schwarze Lieferwagen war einst als Ambulanz genutzt worden. Entweder verstand sich die Privatklinik, der er gehörte, nicht darauf, die Kranken zu versorgen, oder alle in der kleinen Stadt waren urplötzlich gesund geworden, jedenfalls zu gesund für die Finanzlage der Klinik. Welcher Grund auch immer vorgelegen haben mochte, er konnte den Lieferwagen jedenfalls zu einem lächerlich geringen Preis erstehen.

    Er baute ihn zu einem mobilen Heim um, mit keinen großartigen, aber allen grundsätzlich notwendigen Ausstattungen eines komfortablen Zuhauses. Mit diesem Umbau verbrachte er beträchtlich viel Zeit, doch schließlich hatte er ja auch alle Zeit der Welt. Natürlich war ihm klar, dass sein Wagen nicht nur ein bloßes Transportvehikel darstellte, sondern in vielerlei Hinsicht sein Lebensretter war, sein Schiff, das überall ankern wie auch absegeln konnte, wenn die Winde der Depression drohten, ihn gnadenlos in kleine Stücke zu zerreißen.

    Im Bauch des schwarzen Lieferwagens verbrachte er Tage auf Berggipfeln und Nächte in Tälern oder Vororten von irgendwelchen Dörfern oder Städten, wohlig eingepackt, im Bett. Entweder las er dann in seinen Büchern, schaute einen Film auf seinem Laptop an oder trank und hörte Musik – allein, aber niemals wirklich einsam. Immer war sein Meister bei ihm. Rudra konnte Seine Gegenwart spüren. Allein Seine Gegenwart machte es der Mühe wert, in der ständigen Hölle, die sein Leben war, auszuharren.

    Häufig kam es Rudra in den Sinn, dass sein schwarzer Lieferwagen, der aus Metall und unzähligen Bolzen und Schrauben bestand, ihm mehr Komfort, Wärme und Schutz gab als viele, die er einst als die Seinen angesehen hatte.

    6

    Rudra wusste, dass sein Leben zu Ende ging. Sehr wohl war er sich der Tatsache bewusst, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Vor seinem Tod musste er noch etwas tun, damit sich seine Gegenwart auf dem Planeten Erde gelohnt hätte, und das ging nur, indem er denen, die Hilfe brauchten, eine helfende Hand entgegenstreckte und zu Diensten war. „Aber ich hab keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, Pa. Für so was bin ich nicht ausgebildet. Hab null Erfahrung. Null Kontakte. Hab echt nichts, außer diesem Schmerz, der in meinem Herzen losgeht, bis runter zum Hintern, dann wieder rauf und raus durch den Schädel. Hab nur diesen Schmerz, Pa. Und Schmerz hat noch nie irgendwem irgendwas gebracht." Darauf erklang dann die Stimme seines Meisters, die tief im Inneren seines Herzens und Geistes widerhallte.

    „Sohn, Schmerz ist das größte Geschenk, das Gott Seinem Kind geben konnte, denn Schmerz öffnet die Tür zu Mitgefühl und Liebe. Und nur Mitgefühl und Liebe zu allen Geschöpfen öffnen die Türen zum Paradies und zum Gottesbewusstsein. Wenn du selber Schmerz erlebt hast, dann verstehst du den Schmerz anderer und kannst mit ihnen fühlen. Er macht dich offener gegenüber dem eigenartigen Verhalten und den Schwächen anderer, denn als du selber Schmerzen hattest, hast du dich auch daneben benommen oder zumindest daran gedacht, dich schlecht zu benehmen oder andere zu verletzen. Vielleicht hast auch du in einem Moment der Schwäche Dinge getan, die du nicht hättest tun sollen. Du lernst, weniger zu urteilen. Du wirst offener. Schmerz bringt dich allen Geschöpfen und Gott näher. Schmerz macht dich gegenüber den Tränen und Sorgen anderer sanfter und menschlicher. Er befähigt dich auch dazu, gute Zeiten, gute Menschen und echte Kameradschaft wertzuschätzen. Hast du Schmerzen im Körper, Geist oder Herzen, bedeutet dies, dass du ein fruchtbarer Acker geworden bist, auf dem Gott anfangen kann, deine Seele zu bestellen. Wenn du es allerdings zulässt, dass Schmerz dich bitter, negativ, gemein und rachsüchtig werden lässt … ach Sohn, dann hast du die größte Gelegenheit versäumt, im Schatten Gottes zu wandeln. Aber wenn du, mein Kind, dem Schmerz gestattest, das Gute in dir zu ernten, dann ist das Königreich im Himmel dein! Und zwar nicht erst, wenn du deinen letzten Atemzug tust und deine körperliche Hülle abstreifst, nein, schon zu Lebzeiten wird es dein, mit jedem einzelnen Atemzug in deinem Leben. Das Kreuz wird bleiben, aber deine Schultern werden stärker. Die Peitsche wird auf deinen Körper niedersausen, aber Gottes Balsam wird die Schmerzen nicht eindringen lassen. Das himmlische Königreich ist voller Wunder, Sohn. Das größte Wunder von allen aber ist es, Schmerz in Gottesbewusstsein umzuwandeln … wach auf, Rudra. Ich weiß, du hörst mich, trau dich bloß nicht, mir jetzt wegzuschnarchen, Sohn … Rudra!"

    7

    Nachdem er die Stadt weit hinter sich gelassen hatte, fuhr er durchs offene Land. Der schwarze Lieferwagen passierte Felder (oft unfruchtbar oder zu klein zum Überleben), Berge (könnten auch Hügel sein … waren jedenfalls wirklich majestätisch) und Kinder (meist halb nackt und unterernährt, aber in der Regel extrem lebhaft), die von zwei oder drei geselligen Hunden begleitet wurden, die ihren jungen Herren mit Ausdrücken von ‚Mann, ist mir vielleicht langweilig’, über ‚Hier geht’s mir schlecht’ bis zu ‚Menschen haben echt nen Knall’ nachliefen. Unter einem unermesslich großen Himmel, mit den verschiedensten Farbtönungen, fuhr er an Tieren (an unterernährten Kühen, erschöpften Ochsen, unbekümmerten Schweinen und extrem beschäftigten Vögeln), an Kleinstädten, die Großstädten nachäfften, und kleineren Dörfern vorbei, die an wunderbaren, aber sterbenden Traditionen festhielten sowie lächerlich spießigen, prähistorischen Denkstrukturen voller Aberglauben verhaftet blieben, die jedes Jahrzehnt nur weiter zunahmen.

    Während er Songs von Neil Diamond und Leonard Cohen lauschte, gab er sein Bestes, um Bus- und LKW-Fahrern im Verkehr auszuweichen. Er hatte die Überzeugung gewonnen, dass Bus- und LKW-Fahrer das letzte bisschen Energie aus sich he­rausholten, um die Zahl derjenigen, die dumm genug waren, sich auf nationale Schnellstrassen zu wagen, drastisch zu reduzieren.

    Zu schnell fuhr er nie. Schon immer war er der Ansicht gewesen, dass Reisen genauso wichtig wie Ankommen war; und da man oftmals mehr Zeit mit Reisen als am Ziel selbst verbrachte, machte es mehr Sinn, die Reise so weit wie möglich zu genießen.

    Er sah, wie ein Lastwagen, nur ungefähr zwanzig Meter vor ihm, noch versuchte, das ihm entgegenkommende Auto auf seiner Spur zu überholen. Sicherlich war allen Beteiligten klar, dass dieses Manöver nur als Selbstmord, versuchter Mord oder geistesgestörte Tat in die Verkehrsannalen eingehen könnte. Lag letzterer Fall vor, hätte man den Fahrer wegsperren und den Schlüssel einschmelzen sollen.

    Rudra trat heftig auf die Bremse, und nur Sekunden später schaffte es der Lastwagen gerade noch um Haaresbreite, das andere Auto zu überholen und sich an seinem stillstehenden Lieferwagen vorbeizuquetschen. Wenn er weitergefahren wäre, wäre er jetzt tot. Hm! Das hätte dann sein Ende bedeutet! Und? Na, mit seinem Glück wäre er wahrscheinlich noch am Leben, aber irgendein lebenswichtiger Körperteil würde nicht mehr funktionieren oder wäre ganz weg. Also, auf ein Neues!

    Nur Bruchteile von Sekunden später, er hatte den Wagen noch nicht wieder angelassen, sah Rudra den Alten Mann, der in einer Lache Blut am Straßenrand lag. Sekundenlang erwog er, einfach weiterzufahren, doch dann seufzte er auf. Er hatte keine Wahl mehr, die sanfte Stimme in seinem Inneren hatte sich gemeldet und die Entscheidung war gefallen, ohne sein Einverständnis abzuwarten. Als er aus dem Lieferwagen stieg, fiel ihm auf, dass sich niemand um einen Alten Mann zu kümmern schien, der schwer verwundet direkt neben der Straße lag, und das, obwohl reger Verkehr herrschte. Das konnte nur zwei Gründe haben: Alle fuhren entweder zu schnell oder waren nicht bei der Sache. Er wollte nicht weiter bei der dritten Möglichkeit verweilen, dass nämlich alle zu schnell fuhren, nicht bei der Sache waren und sich um nichts außer sich selbst kümmerten. (Eigentlich verbrachten die meisten Menschen ihr Leben wie eine Fahrt auf der Autobahn: Zu schnell, zu gedankenlos und mit erschreckend wenig Mitgefühl.)

    Gott ist im Augenblick. Er ist nicht in der Vergangenheit oder Zukunft. Wenn du nicht im Augenblick leben kannst, wenn du nicht so leben kannst, als ob jeder Augenblick dein letzter sein könnte, dann lebst du nicht, du existiert einfach nur. Lebe so, als ob du niemals wieder leben würdest. Freue dich an dieser Erfahrung, als ob du niemals wieder eine Gelegenheit erhieltest, dich an ihr zu erfreuen.

    Wenn sie sich aber doch Gedanken machten, wollten sie wahrscheinlich nicht in irgendwelche Schwierigkeiten verwickelt werden. In den USA oder in vielen Teilen Europas hätten Verkehrsteilnehmer wenigstens die Behörden angerufen, den Unfallort beschrieben und wären dann erst weggefahren, denn sie könnten sich sicher sein, dass eine Ambulanz oder ein Helikopter sofort an den Unfallort geschickt würde. Während er durch Amerika reiste, hatte er oft beobachten können, mit welcher Effizienz und Schnelligkeit medizinische Bereitschaftsdienste Erste Hilfe leisteten. Fragen über die Versicherung und ähnliche Dinge wurden erst später gestellt. Zuallererst wurde Hilfe geleistet. Falls man später die erforderlichen Papiere nicht beibringen konnte, wünschte man sich natürlich, dass man gar nicht erst überlebt hätte. Aber erst einmal wurden jede notwendige Hilfe und medizinische Versorgung so schnell wie möglich geleistet, ohne Fragen zu stellen.

    Vor allem im Landesinneren von Entwicklungsländern waren Technologie, Kommunikation und medizinische Grundversorgung entweder nicht der Rede wert oder gar nicht erst vorhanden. Die Regierung stellte selbst auf Schnellstraßen keine Erste-Hilfe-Telefone zur Verfügung. Gesetzt den Fall, sie ständen zur Verfügung und es gäbe sogar eine funktionierende Notfallnummer, würde trotzdem nie jemand auf die Idee kommen, auch tatsächlich anzurufen. Warum nicht? Die Antwort ist denkbar einfach: Weil ja sowieso keine Hilfe käme! Versuche es nur. In Städten könnte man eventuell noch Glück haben. Draußen auf dem Land wäre allerdings ausschließlich mit Göttlicher Intervention irgendetwas zu erreichen, und das auch nur, wenn sie in wirklich großem Stil daherkäme.

    Vielleicht ist dies der Grund, warum die westlichen Länder als fortschrittlich gelten. Dort stellt menschliches Leben noch einen Wert dar, und deshalb kann man sich auf einen Notruf auch verlassen. Wir hingegen sind groß in Bezug auf Kultur, Tradition und Moral und klammern uns an unsere Geschichte. Doch was nützt es, wenn man sich so fest wie möglich an seine altehrwürdige Kultur klammert und seine Abstammung bis in die Eiszeit zurückverfolgt? Wenn Leben an sich keinen Wert mehr besitzt, dann sind solch eine Kultur und Abstammung wertlos und haben versagt. Dann sind sie nur ein Mühlstein um den Hals, während man versucht, ans rettende Ufer zu schwimmen.

    Viele westliche Länder können wohl nicht auf eine so alte Kultur und Herkunft wie die unsere zurückblicken. Keine Vergangenheit, mit der man lauthals prahlen kann. Aber wenigstens haben sie den gegenwärtigen Augenblick. Jedes einzelne Leben wird als wertvoll angesehen, und man versucht, die Lebensqualität für Tiere, Menschen und die gesamte Umwelt zu verbessern. Das Leben als wertvoll anzusehen, ist weit wichtiger als alles, was Menschen oder Götter jemals erreicht oder hervorgebracht haben.

    8

    Rudra stieg aus seinem Lieferwagen und näherte sich langsam dem Alten Mann. Weder über sein weiteres Handeln noch über seine eigentliche Absicht war er sich wirklich im Klaren. Er folgte der sanften Stimme in seinem Inneren, denn er hatte gelernt – oft auf die harte und schmerzhafte Tour und, bei Nichtbeachtung, mit katastrophalen Konsequenzen –, dass die sanfte Stimme am besten Bescheid wusste. Und zwar immer.

    Der Alte Mann trug einen weißen Baumwollkaftan, ganz ähnlich dem Gewand, das auch Rudras Meister getragen hatte. Ein weißes Tuch, das wie ein altmodisches Halstuch aussah, war zu einem Band um Seinen Kopf geschlungen. Es war teilweise rot verfärbt, weil Blut heraustropfte. Der Alte Mann lag direkt am Straßenrand, und Seine wenigen Habseligkeiten lagen verstreut um Ihn herum. Obwohl die Außenwelt in verschiedenen Graden von Schnelligkeit, Selbstbewahrungsinstinkt und Selbstbezogenheit vorbeirauschte, stand Rudra ein paar Sekunden lang nur an der Seite des Alten Mannes und hörte nichts außer dem Schlagen seines eigenen Herzens und seinem langsamen, tiefen Ein- und Ausatmen.

    Er kniete bei dem Alten Mann nieder, der wie ein Fötus zusammengerollt dalag, und berührte sanft Seine Schulter. Das Gesicht des Alten Mannes war kaum zu erkennen. Blut tropfte an Seinem weißen Bart

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