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Der Fakir – Die Reise geht weiter …
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eBook338 Seiten4 Stunden

Der Fakir – Die Reise geht weiter …

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Über dieses E-Book

Der Schüler des „Fakirs“ ist gestorben und hat seine irdische Hülle verlassen. Als er sich umschaut, blickt er jedoch zu seiner großen Verblüffung – in das vertraute Gesicht seines Meisters!
Gemeinsam wandern sie durch die Geistige Welt, und der „Fakir“ erklärt seinem Schüler die unendlich weisen Gesetze des Lebens, die karmischen Verbindungen und die faszinierenden Verknüpfungen der Schicksalsfäden. Es zeigt sich ein wundervolles Panorama des Lebens, in dem Diesseits und Jenseits nur zwei Seiten einer Medaille sind.
Ein packender Erlebnisbericht, bei dem der Leser in jedem Kapitel spürt, dass hier eine wahrhaft große Seele die Geheimnisse der Schöpfung enthüllt!

SpracheDeutsch
HerausgeberAquamarin Verlag
Erscheinungsdatum9. Juni 2023
ISBN9783968613017
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    Buchvorschau

    Der Fakir – Die Reise geht weiter … - Ruzbeh N. Bharucha

    1

    Baba saß auf dem Stuhl und rauchte eine Chillum. Er betrachtete das junge Paar, das gerade Rudras Zimmer betreten hatte. Bald schon würden sie heiraten und ein Vielfaches an Reife, Ausgeglichenheit und gegenseitigem Vertrauen aufbringen müssen, um die ersten acht Jahre ihrer Ehe zu überstehen. Letzten Endes würde der junge Mann großen Reichtum erwerben, doch in den kommenden acht Jahren würde er schwer in die Mangel genommen werden: Wie ein Lappen, der nicht nur einmal gewaschen werden müsste, würde er gegen die Steine am Fluss geschlagen werden, wieder und wieder, von den nicht gerade sanft zu nennenden Händen des Wäschers.

    Genau diese Prozedur war jedoch ein Teil dessen, was sich das junge Paar gewünscht hatte, bevor es sich auf die Reise in ein neues Leben begeben hatte – als alte Seelen in neuen Körpern. Zusammen mit ihren spirituellen Führern und Meistern hatten sie eine Blaupause ihrer kommenden Inkarnationen erstellt, und alle Betroffenen hatten gemeinsam beschlossen, dass dem jungen Paar in den ersten acht Jahren ihrer Ehe schwierige Zeiten bevorstehen sollten. Würden sie diese Zeit der Prüfung gelassen und mit vereinten Kräften meistern? Oder sollten die schweren Zeiten es wieder einmal schaffen, ihre Liebe und Zusammengehörigkeit auch in diesem Leben zu zerstören, so dass sie den Rest ihres Erdenlebens wie Fremde verbringen würden? Zugegeben, als sehr reiche Fremde, denn nach acht Jahren würde ihnen überwältigender Reichtum und Ruhm ins Haus stehen. Ob man sich allerdings glücklich fühlen und ein ausgeglichenes Gemüt sein eigen nennen kann, hängt ausschließlich von der persönlichen Entscheidung jedes einzelnen Lebewesens ab. Das Schicksal hat rein gar nichts damit zu tun, wie man sich entscheidet, sein Leben zu leben.

    Wie Baba Rudra oft zu sagen pflegte: „Sohn, man kann sich entscheiden, sein Leben gelassen oder missmutig, glücklich oder total frustriert zu verbringen; entweder man entschließt sich, den Herausforderungen des Lebens mit positiver Hingabe zu begegnen oder sich wieder und wieder in engstirnigen und kleinlichen Urteilen zu verfangen. Das hängt ganz von der persönlichen Wahl ab, die jeder trifft. Und diese Wahl musst du jeden Moment neu treffen, unzählige Male an einem einzigen Tag, zahllose Male jede Woche und immer wieder während deiner gesamten Reise durchs Leben, sei es auf der körperlichen oder spirituellen Ebene. Die Wahl, wie du ganz persönlich dein Leben in Wahrheit zu führen gedenkst, steht dir völlig frei; diese Entscheidung ist der Ausdruck deines freien Willens und hat rein gar nichts mit Schicksal zu tun. Schicksal, mein Sohn, entscheidet über deinen Lebensweg, dessen Annehmlichkeiten und Gefährten, über Zeitdauer, Schnelligkeit und oftmals auch darüber, ob du dein Lebensziel erreichst oder verfehlst. Doch wie du deine Gemütsverfassung gestaltest, ist deine ureigene Wahl. Irgendwann triffst du die Wahl, wie du leben willst. Du änderst oder mäßigst vielleicht deine Einstellung dem Leben gegenüber, doch zu guter Letzt bleibt sie an dir hängen. Hast du dich persönlich dafür entschieden, glücklich und gelassen durchs Leben zu gehen, wird dir das den Himmel auf Erden bescheren. Du magst zwar in der Hölle schmoren, doch machst du dies auf eine geradezu himmlische Weise. Ha! Ha! Klingt das nicht toll, Beta?!"

    Baba blickte auf Rudra. Der junge Mann lag auf dem Bett. Baba lächelte. Wieder schaute er auf das junge Paar. Baba hoffte, dass sie es zumindest in diesem Leben schaffen würden, die finanziellen Sturmtiefs, von denen sie in den nächsten Jahren heimgesucht werden würden, mit Gelassenheit, Liebe, Vertrauen und Geduld zu überstehen. Sie waren alte Seelen, doch eine Lektion hatten sie noch zu meistern: Sie mussten noch lernen, finanziellen Widrigkeiten mit der ungetrübten Gemütsruhe eines Weisen zu begegnen. Sollten sie Erfolg haben, könnten sie sich auf eine höhere Ebene spirituellen Wachstums begeben und müssten nicht noch einmal auf den Planeten Erde zurückgehen, um die Reste ihres Karmas aufzuarbeiten. Diese Arbeit könnten sie dann in der geistigen Welt selbst erledigen. Doch sie hatten ein Problem mit Geld. Sie veränderten sich. Wurden bitter. In jedem Leben dasselbe Spiel. Baba hoffte, dass sie es zumindest in diesem Leben schafften, das sie umgebende karmische Netz aus Geld und Streitereien zu durchtrennen.

    So hing viel davon ab, wie beide mit den Ereignissen der nächsten acht Jahren fertig werden würden. Baba schloss die Augen und sah, dass der junge Mann in ein tiefes Loch fallen würde. Die junge Frau würde Zuflucht zu Meditation und Gebeten nehmen, der Mann jedoch zu Alkohol, Ärger und sogar Gewalttätigkeit. Ihr würde es freistehen, ihr spirituelles Wachstum weiter zu verfolgen, doch wie er sie kannte, würde sie wohl auch weiterhin auf die Erde kommen, um dieses Mitglied ihrer Seelengruppe zu begleiten. In so vielen vergangenen Leben war sie seine Mutter, Schwester, Frau, sein Freund, Lehrer und älterer Bruder gewesen, dass sie auch jetzt wiederkommen würde, um ihm zu helfen, sich weiterzuentwickeln. Sie war eine alte Seele, viel älter als der Junge. Ob es ihr durch die Kraft ihrer Gebete und Gemütsruhe gelingen würde, dem Jungen zu helfen, während der kommenden finanziellen Krise keinen Schiffbruch zu erleiden, würden sogar die Himmel selbst schwerlich vorhersagen können: Wie die Antwort auf diese Frage ausfiel, hing vom Gebrauch des freien Willens ab.

    Baba blickte auf den Jungen und seufzte. Wie viele weitere Leben wirst du, mein Sohn, das Aufwärtsstreben deiner Seele noch zu verhindern wissen? An den Fundamenten des freien Willens und den daraus resultierenden Folgen kann selbst Gott nicht rütteln: Diese Grundpfeiler sind seit Urbeginn der Zeiten Teil der Weltordnung. Dem freien Willen eines Individuums wird eine so starke Bedeutung beigemessen, dass sogar die himmlischen Mächte hilflos dabei zusehen müssen, wenn ein Individuum es zulässt, dass seine oder ihre Seele in die Untiefen der Hölle hinabstürzt. Sobald Ihre Hilfe jedoch für das Gute erbeten wird, frohlocken Sie. Wenn Sie eine Seele auf dem Weg zu Ihnen sehen, eine Seele, die sich dazu entschlossen hat, den Verlockungen von Lust, Ärger, Gier, Faulheit, Eifersucht oder all den anderen so reizvoll einfach scheinenden Fluchtwegen zu widerstehen und stattdessen einfach den Weg des Lichtes zu gehen, dann sind Himmel und Meister schier außer sich vor Freude. Ob sich ein Individuum für den Weg der Selbstzerstörung oder Selbsterhebung entscheidet, ist einzig Ausdruck seines freien Willens, auf den keine himmlische Macht irgendwelche Einflussmöglichkeiten hat.

    Nie zuvor war Rudra dem jungen Paar so friedvoll erschienen. Irgendetwas hatte er an sich, dass sie regelrecht dazu brachte, seine Füße zu berühren. Sie konnten Tabakrauch riechen, als ob es jemanden im Zimmer geben würde, der eine Chillum rauchte. Was natürlich Unsinn war, denn außer ihnen befand sich ja sonst keiner mehr im Zimmer. Die Hunde befassten sich unermüdlich damit, mit den Schwänzen zu wedeln und auf Rudra sowie den leeren Stuhl zu blicken. Das Zimmer lag im Dunkeln, war jedoch durch die vielen brennenden Kerzen und Diyas noch gut erleuchtet. Der Tabakgeruch im Zimmer nahm beinahe betäubende Ausmaße an.

    Die drei Hunde saßen neben Baba, schauten jedoch immer wieder zu Rudra hinüber. Die Tiere waren sich darüber im Klaren, dass Rudra im Sterben lag. Sie konnten erkennen, wie seine Aura allmählich verblasste. Trotzdem waren sie nicht sonderlich verstört, denn sie waren felsenfest davon überzeugt, dass sich der alte Mann schon um ihren Herrn kümmern würde.

    Dem freien Willen eines Individuums wird eine so starke Bedeutung beigemessen, dass sogar die himmlischen Mächte hilflos dabei zusehen müssen, wenn ein Individuum es zulässt, dass seine oder ihre Seele in die Untiefen der Hölle hinabstürzt. Sobald Ihre Hilfe jedoch für das Gute erbeten wird, frohlocken Sie.

    2

    Rudra wachte auf und fühlte sich frei von allen Fesseln. So beschwingt fühlte er sich, dass es ihm eine Weile regelrecht unnormal vorkam. Das Gefühl von Freiheit war berauschend – so ähnlich musste es einer Raupe gehen, die sich gerade eben in einen Schmetterling verwandelt hatte und nun den allerersten Flugversuch unternahm. Oder einem Vogel, der nach Jahren der Gefangenschaft endlich aus seinem Käfig befreit worden war. Er war unbeschreiblich glücklich. Geradezu euphorisch. Als ob alles mit der Welt völlig in Ordnung sei und es weder einen Grund gebe noch Sinn mache, sich über irgendetwas zu sorgen. Alles war in Ordnung und würde auch immer in Ordnung sein. Sich Sorgen zu machen, bedeutete nur, seine Zeit und sein Leben zu vergeuden, und stellte außerdem geradezu eine Beleidigung für das körperliche Wohlbefinden dar, das er momentan verspürte. Dieses Wohlbehagen war ein natürlicher Zustand, den er sich früher nur nie auszukosten getraut hatte. Er setzte sich auf und schaute zu Baba hin. Der alte Mann lächelte. Blondie stand auf und ging auf ihren jungen Herrn zu. Rudra erhob sich aus dem Bett und berührte Babas Füße.

    „Ah, mein Sohn, der du selbst die Fundamente von Himmel und Hölle mit deinem Teegebräu zu erschüttern weißt, nun wachst du also auf. Endlich."

    „Baba, warum fühle ich mich so leicht und glücklich? Ich kann dir nicht mal im Entferntesten beschreiben, wie frei ich mich fühle!"

    Der alte Mann lächelte, und seine verschmitzte Art ließ Rudra ahnen, dass irgendetwas im Busch war, von dem er noch keinen blassen Schimmer hatte.

    „Beta, du hast die schweren Kleider, die du bisher getragen hast, abgeworfen und erheblich leichtere angezogen."

    Rudra konnte sich nicht daran erinnern, wann er etwas Leichteres angezogen haben sollte. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, dass er in Jeans und einem lose sitzenden Hemd eingeschlafen war. Rudra schaute an sich herunter. Er trug eine weiße Robe. Und aus irgendeinem Grund leuchtete sein Gewand. Rudra schaute zu Baba hinüber und kippte dann plötzlich fast um.

    „Ach du heilige Mutter Gottes! Himmel Donner noch eins, was geht denn hier bloß ab …"

    Stillvergnügt fing Baba an, in sich hinein zu lachen.

    Rudra blieb wie angewurzelt stehen, als er auf den Mann, der da auf seinem Bett lag, starrte. Ein Mann, der ihm sehr vertraut vorkam, entschieden zu vertraut. Rudra wusste, wer der Mann war, aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, sich mit der Person, die da mit geschlossenen Augen, einem gesammelten Gesichtsausdruck und gefalteten Händen lag, zu identifizieren.

    „Das passiert doch nicht wirklich, Baba. Was geht hier vor? Wenn ich der Mann da auf dem Bett bin, wer ist dann der Mann, der gerade mit dir redet? Und wenn ich es bin, der mit dir redet, wer ist dann der Mann, der in meinem Bett schläft und ganz genau wie ich aussieht? Und willst du wohl aufhören zu lachen … Baba, also weißt du, das ist alles überhaupt nicht komisch."

    Die ganze Zeit über schaute Blondie zu den beiden Männern hinüber und wedelte unablässig mit ihrem Schwanz.

    „Wer der Mann ist, der da schläft, Beta? Schau ihn dir doch genau an. Was hast du mit ihm zu tun – und wer ist der wirkliche Rudra?"

    Rudra sah auf die Gestalt, die schlafend auf dem Bett lag. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er nicht länger in diesem Körper weilte und sogar nicht mehr diese Person war. Jetzt begriff er, was Baba damit gemeint hatte, dass er die schweren Kleider abgeworfen und leichtere angezogen hatte. Zum ersten Mal erkannte er, dass – ja, wirklich und wahrhaftig! – der Körper nichts anderes als eine äußere Hülle war, die einfach Seele, Geist und Bewusstsein jedes Individuums umkleidete. Sich mit dem Körper zu identifizieren, bedeutete so viel wie, sich mit einem Paar Jeans zu identifizieren. Es bedeutete nichts anderes, als sich selbst und seinen eigenen Wert mit einem alten Paar Hosen gleichzusetzen.

    Trotzdem war es schon irgendwie gruselig, den eigenen Körper auf dem Bett liegen zu sehen, während man selbst sich als Beobachter außerhalb befand. Gruselig, weil Rudra sich nicht mehr mit dem Mann auf dem Bett verbunden fühlte. Dessen Körper war schwer und voller Wunden, zu viel Leid und Gepäck hatte er mit sich herumgeschleppt. All die Depressionen, Vorwürfe, Verletzungen, Schwächen und anderen wunden Punkte hatten den Körper belastet; kein Wunder, dass er sich jetzt so frei und leicht und schlichtweg wunderbar fühlte. Während er sich von außen betrachtete, bekam er mit, wie müde und vom Leben gezeichnet er ausgesehen hatte. All das ehemals so unschuldige und lebenssprühende war verschwunden …

    „Mein Sohn, du bist hinübergegangen, merkst du das nicht? Oder wie man auf der Erde sagt: Du bist gestorben. Und, Himmel Herrgott noch einmal, ein toter Körper kann nicht mehr vor Leben sprühen, Beta." Und Baba fing wieder an in sich hinein zu lachen.

    Eine Weile lächelte auch Rudra, bis Babas Worte endgültig einschlugen.

    „Gestorben? Hast du gerade gesagt, ich bin tot? Baba …"

    Den Satz konnte er gar nicht mehr zu Ende bringen, weil er auf einmal anfing aufzusteigen. Erst entfernte er sich ein paar Zentimeter vom Boden, wobei er – huch! – feststellen konnte, dass er schon die ganze Zeit über keinen Bodenkontakt mehr gehabt hatte, und nun sah er sich langsam, aber sicher auf die verdammte Decke zuschweben. Rudra, mache dir keine Sorgen, das ist alles nur ein Traum, und bald wirst du aufwachen, und dann wird deine erste Tat sein, dir einen steifen, mindestens vier Finger breiten Scotch einzugießen und mit einem einzigen Schluck hinter die Binde zu kippen, Gott sei mein Zeuge. Nur war er jetzt gerade vollauf damit beschäftigt, der Schwerkraft zu trotzen und mit circa vier bis fünf Knoten pro Stunde gegen die Decke zu segeln.

    „Baba … äh … hmmm … ich … äh … schwebe … kannst du mal irgendeinen Rat oder irgendwelche Worte der Weisheit rüberschicken?"

    „Worte der Weisheit … hm … wie wär’s mit … Schwerkraft stinkt? Haha."

    Rudra war jetzt fast oben an der Decke angelangt. Beim Weiterschweben schaute er hinunter auf seinen Körper, auf Baba, auf Blondie und die anderen beiden Hunde, die diesen ganzen Schwebekram ausgesprochen gelassen hinnahmen, eigentlich ziemlich ärgerlich, wie gelassen. Rudra bemerkte, dass sein Schrank es dringend nötig hatte, oben einmal gründlich saubergemacht zu werden … um Himmels willen, Mann, du bist tot oder hast einen echt üblen Albtraum … vergiss das Staubputzen … konzentriere dich.

    „Baba …"

    „Ja, mein Kind, das immer sterben wollte, aber dem es wirklich schwerfiel, einfach zu leben, benutze doch deinen freien Willen. Wenn du herunterkommen willst, dann musst du es nur wollen, und schon wird dein Lichtkörper nach unten schweben. Alles dreht sich immer um den freien Willen und um die Konzentration von Energie, mein Sohn. Doch wenn du lieber weiterfliegen willst, dann geht das auch, höher und höher, himmelwärts, nach oben sind ja bekanntlich keine Grenzen gesetzt … haha."

    „Echt witzig, Baba. Regelrecht zum Totlachen. Nun lasse mich doch endlich runter, und was meinst du mit freiem Willen? Ich meine, da muss es doch einen Weg geben, runterzukommen und aufzuhören, hier immer weiter wie ein vertrocknetes Blatt rumzusegeln."

    „Das vertrocknete Blatt befindet sich auf dem Bett, Sohn. Was nach oben schwebt, ist die Essenz des Lebens; der Sand hat sich unten abgesetzt, und das Wasser des Lebens ist aufgestiegen …"

    „Grrrrr … Ich schere mich echt keinen Pfifferling um Sand und Wasser und Blätter … Alter Mann, hole mich einfach runter!"

    „Immer zum Scherzen aufgelegt, der Junge. Dein ganzes Leben wolltest du weiterkommen, und nun, wo du gerade dabei bist, genau das auch zu tun, klammerst du dich auf einmal an deinen Körper wie an einen wertvollen Besitz …"

    Schlagartig erkannte Rudra die Weisheit, die in Babas Worten lag. Trotzdem – wir Menschen mögen zwar glauben, dass wir uns von jeder Bindung an den Körper oder an das Leben in der materiellen Welt befreit haben, doch wenn der Zeitpunkt naht, die Erde zu verlassen, kommt der natürliche Impuls zum Tragen, sich weiterhin in der Nähe unserer Körper, unserer Lieben oder vertrauter Orte aufzuhalten. Das ist nur natürlich. Der Ruf des Jenseits und der geistigen Welt mag zwar verlockend sein, doch es fällt schwer, die Sicherheit und Vertrautheit der grobstofflichen Welt so ganz zu ignorieren.

    „Komm runter, mein Sohn … du musst es wollen."

    „Was meinst du damit – ich muss es wollen?"

    „Wenn du wirklich herunterkommen und Schulter an Schulter neben mir stehen möchtest, dann wirst du ganz von selbst herunterkommen. Allerdings musst du erst die Angst und Ehrfurcht loslassen, die du vor dem Herumschweben in den mittleren Gefilden empfindest. Komm jetzt runter."

    Und Rudra wollte nichts anderes, als bei Baba zu sein. So setzte er seinen Willen ein, und begann langsam hinabzuschweben.

    „Guter Junge."

    Rudra seufzte vor Erleichterung auf.

    „Was geht hier vor, Baba?"

    „Hast du Angst vor dem Tod?"

    „Nein. Ich finde dies alles bloß total unwirklich. Als ob ich bloß träume …"

    „Und gleich aufwachen wirst?"

    „Genau."

    „Weißt du eigentlich, wie viele Seelen erdgebunden oder, um es in deiner Sprache auszudrücken, in einem Übergangsstadium oder Limbo verblieben sind, weil sie ebenfalls glauben, dass sie bloß träumen und bald aufwachen werden? Aber glaube mir, sie werden niemals wieder aufwachen, weil sie tatsächlich ihre physischen Körper verlassen haben und für die ‘normale’ Welt auf der Erde ‘tot’ sind. Jedoch halten sich ihre Geistwesen jahrelang in der Nähe ihrer Lieben oder vertrauter Umgebungen auf, weil sie annehmen, dass alles nur ein Traum sei und sie wieder aufwachen würden, nachdem sie nur eine kurze Nacht den Albtraum einer Todeserfahrung erlitten hätten und danach wieder ihr gewohntes Alltagsleben aufnehmen könnten. Wobei in Wirklichkeit Jahre vergehen können, in denen sich ihre Geistwesen immer noch im Limbo befinden. Sogar wenn sie mit ihren Meistern oder mit geliebten Menschen, die schon früher hinübergegangen sind, konfrontiert werden, macht auch dies oft keinen Unterschied und hinterlässt keinen nachhaltigen Eindruck, weil die Geistwesen ja davon überzeugt sind, sich in einem Traum zu befinden und schon bald in ihrem ursprünglichen Körper wieder aufzuwachen. Aus diesem Grund behaupten wir, dass freier Wille so überaus wichtig ist, mein Sohn. Sogar wir können den freien Willen nicht ändern oder beeinflussen, denn der freie Wille ist die Messlatte für den tatsächlichen Fortschritt oder Fall der Seele. Auf der Erde habt ihr den freien Willen, um zwischen Gut und Böse, Tugend und Laster, Dunkelheit und Gebeten zu wählen, und jede Wahl, die ihr trefft, entscheidet über euer zukünftiges Karma. Im Tod ist es wiederum der freie Wille, der alles entscheidet. Wir können schon versuchen, mit dem verstorbenen Kind zu reden. Wir können ihm dringend raten, sich doch zu besinnen. Wir können ihm vertraute und geliebte Seelen schicken, um es davon zu überzeugen, dass es seinen Körper tatsächlich verlassen hat. Doch darüber hinaus gehen wir nicht, sondern überlassen die endgültige Entscheidung dem Individuum selbst. Du möchtest wissen, warum das so ist? Die Antwort ist einfach: Genau so wie wir dich die Wahl zwischen Gut und Böse, Liebe und Lust treffen lassen, müssen wir auf dieselbe Art und Weise auch in Erfahrung bringen, wie sehr du wirklich deinen Gott und Meister liebst. Wir müssen wissen, wie sehr du uns oder doch noch die grobstoffliche Welt, deine Neigungen und Überzeugungen oder deine Besitztümer auf dem Planeten Erde liebst. Deine Entscheidung zeigt uns, wie groß deine Liebe und Hingabe wirklich sind. Deshalb ist freier Wille ein Muss. Wie kann denn dein spiritueller Stand bestimmt werden, wenn wir uns andauernd einmischen? Und glaube mir ruhig, das Verweilen im Limbo ist eine schmerzliche Erfahrung. Nicht nur für die Seele des Verstorbenen selbst, sondern ebenso für dessen Hinterbliebene auf der Erde sowie für all diejenigen, die ihre Reise in die geistige Welt fortsetzen. Wie dem auch sei … macht es dir etwas aus, dass du hinübergegangen bist?"

    Rudra schaute auf seinen Körper und erkannte, dass das Wesen, das da schlafend auf dem Bett lag, nicht er war. Ja, aussehen wie er tat es schon, doch er war es nicht. Und in genau diesem Moment realisierte Rudra, dass sogar die neue Hülle oder der Lichtkörper, der ihn jetzt umgab, nicht er war. Auch die Licht ausstrahlenden Kleider waren nicht er. Er war reines Bewusstsein. Weder Gedanke, noch Emotion oder Gefühl. Er war alles das und gleichzeitig noch viel, viel mehr. Zum allerersten Mal dämmerte es Rudra, dass er, vielleicht gerade mal so eben, doch ein Teil von allem und alles ein Teil von ihm sei. Er vermochte diese Erfahrung nicht genau in Worte zu fassen, doch war ihm bewusst, dass er mit allem und jedem in Beziehung stand und alles wiederum in irgendeiner Weise genauso mit ihm verbunden war. Wie die Welle und der Ozean war er ein Teil und ebenso das Ganze. Gerade in diesem Moment war er ein Licht ausstrahlendes Individuum. Dieses freie, glückliche Wesen hatte überhaupt kein Gepäck, und er wollte nicht wieder an das Wesen auf dem Bett angekettet sein. Ja, sich im Körper zu befinden, fühlte sich tatsächlich so an, als ob man in einem Käfig gefangen sei. Da war es nun wirklich kein Wunder, dass jeder spirituelle Meister und alle esoterischen Bücher die Menschen dazu anhielten zu meditieren, denn in einem meditativen Zustand kann sich der Geist frei bewegen. Wenn man sich im gegenwärtigen Moment befindet, kann sich der Geist in Freiheit entfalten, ohne all den Belastungen und Einschränkungen des körperlichen Käfigs ausgesetzt zu sein. Obwohl es geschieht, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst ist, ist es dennoch eine unweigerliche Tatsache, dass es geschieht.

    „Nein, Baba, es macht mir nichts aus, dass ich hinübergegangen bin."

    „Gut."

    Die ganze Zeit über hatte Blondie nicht damit aufgehört, Rudra anzusehen. Rudra, nicht den Mann auf dem Bett.

    „Sie können die geistige Welt spüren, Sohn, weil ihre Wahrnehmung noch nicht durch Gedanken oder Manipulationen getrübt worden ist. Und außerdem haben sie natürlich ganz klare Prioritäten: Liebe den Herrn!"

    3

    Es lag gar kein besonderer Grund vor, aus dem Rudra auf einmal an seine alte Freundin Sneha dachte, doch es passierte weit mehr, als dass er einfach nur an sie denken musste. Es war, als ob ihn eine Kraft aus dem Zimmer, in dem er sich zurzeit befand, bis hin zu Sneha ziehen würde.

    „Sie denkt an dich, Sohn."

    „Das ist mehr, als bloß an mich zu denken, Baba. Es ist so, als ob sie mich zu sich ziehen würde und ich bei dem Ganzen eigentlich keine Wahl habe."

    „Wir haben immer eine Wahl, Beta, jedes Mal. Entweder triffst du die richtige oder die falsche Wahl, aber es gibt immer die Wahl, sich zwischen dem, was gut für die Seele ist, und dem, was nur für den Körper gut ist, zu entscheiden. In diesem Fall ist der Ruf so stark, dass du ihm entweder einfach nachgibst oder dich – auch wenn es dir merkwürdig vorkommen mag – dafür verantwortlich fühlst, ihm zu folgen. Auf jeden Fall wird dich dieser Ruf nicht in Ruhe lassen. Das ist der Grund, warum wir die Menschen dazu anhalten, nicht um ihre Lieben zu weinen und zu klagen, sobald sie hinübergegangen sind. Anhaltende Trauer hat solch eine Macht, dass sie das Geistwesen regelrecht herunterzieht, und dann kann auch die Liebe einen so starken Einfluss ausüben, dass sie zu einem Hindernis für das Weitergehen des Geistwesens wird. Idealerweise sollte sich das Geistwesen entscheiden können, wann es seine Lieben besuchen möchte. Denn das ist etwas, das alle Geistwesen tun. Nur weil der Geist den Körper verlassen hat, bedeutet dies ja nicht, dass die individuelle Wesenheit nun auf einmal alle Gefühle für ihre Familie und Freunde auf der Erde vergessen hat, dass sie sich nicht mehr nach ihnen sehnt oder aufgehört hat, sie zu lieben. Nur der Körper ist weg, sonst hat sich rein gar nichts geändert. Alle Emotionen und Gedanken sind und bleiben integraler Bestandteil der individuellen Wesenheit. Liebe und Hass, kleinliche Gefühle und edle Absichten sind alle ein Teil des gesamten Wesens, und das gesamte Wesen macht die Seele aus. Das bedeutet also keineswegs, dass du, nur weil du den Körper verlassen hast, auch alle deine Emotionen, Gedanken, Wünsche und Ambitionen hinter dir gelassen hast. Deren Gesamtheit macht dich aus. Sobald sich das individuelle Wesen entscheidet, alle Gedanken, Emotionen und Wünsche – einen nach dem anderen – loszulassen, nähert sich die Seele – immer mehr und mehr – ihrer Urseele: Gott.

    Die Urseele ist Mann-Frau-Energie, Vater-Mutter-Energie. Genauso besteht auch die individuelle Seele aus Mann-Frau-Energie. Aus diesem Grund entscheidet sich die Seele manchmal dazu, sich als Mann zu inkarnieren, und andere Male

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