Mittelweg
Von Stephanie Wenger
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Buchvorschau
Mittelweg - Stephanie Wenger
Prolog
Die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« (BPS) wurde mir im Jahr 2008 in einer psychiatrischen Klinik gestellt. Mein junges Leben war ein einziges Chaos, ich war gefangen in einer Negativspirale. Weitere Krankheitsbilder kamen hinzu. Unsichtbar und dennoch spürbar für mich und andere. Geprägt durch fehlende Aufmerksamkeit, durch traumatische Erlebnisse und von klein auf einem sensiblen Ich, ergab sich für mich eine große Aufgabe. Die Aufgabe, den Alltag zu bewältigen. Das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen zu meistern. Der Weg zur Bergspitze, dem Bewältigen des Alltags, ging durch viel Schmerz und Leid, durch Scham und Erniedrigung, durch Liebe und Hass. Die Etappen bewältigte ich durch Therapiearbeit, durch Menschen, die kamen und gingen oder geblieben sind. Heute stehe ich noch nicht auf der Spitze des Berges. Doch da, wo ich jetzt stehe, fühle ich mich sicher. Sicher genug, um nicht wieder den Berg hinunterzufallen. Vielleicht kehre ich ab und an in ein tiefer gelegenes Camp zurück, um mich für den erneuten Aufstieg zu stärken. Da, wo ich jetzt stehe, bin ich stark und mutig genug, die Spitze des Berges weiterhin erklimmen zu wollen.
Die Spitze des Berges bedeutet nicht, dass alles nur gut ist. Noch immer herrscht schwieriges Gelände vor und ist das Wetter unberechenbar. Doch auf der Spitze des Berges stehen mir all meine Skills – meine Fertigkeiten – zur Verfügung, die ich bewusst und unbewusst anwenden will. Die Spitze des Berges bedeutet für mich, mein Leben so eingerichtet zu haben, dass ich mir im Alltag den Raum geben kann, den ich nun eben brauche.
In all diesen Jahren hatte ich einen stetigen Begleiter in mir. Ein kleines, jedoch unglaublich starkes Etwas, das mich immer weitergetrieben hat. Es hat mich zum Kampf angetrieben. Es hat mich nicht aufgeben lassen, auch wenn ich mich bereits aufgegeben hatte und meinem Leben mehrmals ein Ende setzen wollte. Es hat mich dahin geführt, wo ich heute bin.
Dass ich heute dieses Buch in der Hand halten darf, ist alles andere als selbstverständlich. Ich wünsche euch allen, dass auch ihr so ein kleines, unglaublich starkes Etwas in euch findet, das euch auf eurem Weg bei euren eigenen Herausforderungen begleitet. Mich begleitete es durch Traumata, durch eine Drogenzeit, durch Einsamkeit, durch Verzweiflung, durch Hoffnungslosigkeit und es bewahrte mich vor dem Aufgeben. Es holte mich zurück ins Leben.
Was für eine Zeit!
Was für eine Zeit!
Erste Zeilen
Endlich ist es so weit – der Auftakt zu meinem Buch. Seit der Anmeldung vor einigen Wochen verging kaum ein Tag, an dem ich nicht daran dachte. Ich mache mir über so vieles Gedanken.
Will ich das wirklich? Manchmal zweifelte ich daran. Bis ich merkte, dass es Ängste sind, die mir im Weg stehen. Ängste, mich in der Öffentlichkeit zu bekennen. Meine privateste Seite nach außen zu zeigen. Will ich denn, dass alle Zugang dazu haben? Will ich, dass meine Arbeitskolleginnen und -kollegen und meine Vorgesetzten diese Worte lesen? Wie ist es, wenn sie plötzlich so viel über mich erfahren und man zusammenarbeitet, ohne darüber zu sprechen? Fühle ich mich dann noch wohl? Was passiert, wenn ich meine Gedanken, mein Erleben zu so vielen Situationen preisgebe, die andere vielleicht ganz anders erlebt und wahrgenommen haben? Verletze ich Menschen? Verletze ich meine Familie, meine Liebsten?
Ich will niemanden mit meinen Worten verletzen. Schweigen und meine Wahrheit für mich behalten, das will ich jedoch auch nicht mehr. Ich will meine Vergangenheit, meinen Alltag, mein bisheriges Leben nieder- schreiben. So, wie ich es erlebt habe. So, wie ich heute lebe. Ich will mich nicht mehr verstecken oder erklären und verstellen erst recht nicht.
Mit diesem Buch möchte ich einen Abschluss finden, der mich stärkt, indem ich alles mit einem Blick von oben noch einmal durchlebe, und ich erhoffe mir dabei, daraus Kraft zu schöpfen. Ich möchte, wenn ich in Zukunft an mir zweifeln sollte, ein Blick auf das Buch werfen und denken: »Ich habe so vieles durchlebt und stehe nun mit beiden Beinen im Leben – ich kann stolz auf mich sein.«
Dass ich heute so leben darf, wie ich lebe, ist nicht selbst- verständlich. Ich bin sehr dankbar. Dankbar für dieses Etwas in mir, das es schafft, mich nie aufzugeben lassen. Wie ich dieses Etwas nennen soll? Ich weiß es noch nicht.
August, im Sommer 2021. Wobei das Wort Sommer übertrieben ist. Die warmen Tage kann man in diesem Jahr wohl an einer Hand abzählen. Für mich persönlich ist das nicht schlimm. Ich bin nicht der Sommertyp. Ich verstecke mich lieber in warmer und kuscheliger Kleidung und flüchte vor dem grellen Sonnenlicht, das mich immer so sehr blendet. Dieses Sommerfeeling setzt mich unter Druck. Sollte man doch eigentlich Freude haben, gut gelaunt sein, an der Sonne sitzen, die Zeit draußen genießen, in der Aare baden gehen. Alles Dinge, die mir den Alltag erschweren. Oft sperre ich lieber die Sonne mit all ihren Erwartungen an mich aus dem Haus aus. Ich fühle mich besser so. Die Sommerabende zähle ich da nicht dazu. Sobald es dunkler wird und warm ist, kann ich stundenlang draußen sitzen und über das Leben philosophieren. Das genieße ich so sehr, dass ich jedes Mal traurig werde, wenn der Abend vorbei ist.
So stehe ich nun vor dem Generationenhaus in Bern. Ein wunderschönes Gebäude. Ich gehe in Richtung Innenhof, als mir ein Bildschirm den Weg zur Auftaktveranstaltung der Edition Unik weist. Der Pfeil zeigt nach rechts. Ich gehe los, höre ein lautes Klicken und sehe, wie sich die riesige Tür automatisch öffnet. Wie erstarrt bleibe ich davor stehen, mein Herz beginnt zu klopfen. Ich fühle mich plötzlich wie in einem schlechten Film. Dieses Geräusch, diese Tür. Es ruft sofort Erinnerungen in mir wach. Es sind genau diese Erinnerungen, über welche ich schreiben will. Durch genau eine solche Tür ging ich, als ich mein Leben zum ersten Mal selbst in die Hand nehmen musste. Es war die Tür, welche zur psychiatrischen Klinik führte, in der ich für einige Monate lebte. Am Starttag meines Buchprojektes stehe ich nun gefühlt vor derselben Tür und ich weiß sofort: Das ist ein Zeichen! Mein Zeichen. Es ist die Antwort auf meine Fragen, ob ich dieses Buch – mit all seinen Konsequenzen – schreiben will. In diesem Moment wird es mir klar: Ich will durch diese Tür gehen. Ich will dies noch einmal gedanklich durch- leben. Ich will mit dieser Tür meinen Frieden schließen. Ich will damit Mut machen. Hoffnung schenken. Teilen.
Ich gehe durch die hohen Gänge des Generationenhauses in Bern und sehe durch die Fenster in den Innenhof. Warum war ich noch nie da? Das will ich in Zukunft ändern. Es fühlt sich an wie ein Ort der Verbundenheit. Diese Verbundenheit spüre ich auch, als ich im Raum ankomme, wo die Auftaktveranstaltung stattfindet. Schon wieder fühle ich mich zurückversetzt. Zurückversetzt in die Zeit in der Klinik. Ich fühle mich unter Gleichgesinnten. Damals waren es die Leidensgenossinnen und Leidensgenossen mit psychischen Erkrankungen und schweren Krisen. Heute sind es Menschen, die ein Buch schreiben wollen. Geschichten über das Reisen, Geschichten der Familie für die Kinder, Geschichten des Aufarbeitens oder Gedichte, die in ein Buch gehören.
Die Menschen, die vor den Teilnehmenden stehen, sind nun nicht mehr Ärzte oder Therapeuten. Es ist der Geschäftsleiter der Edition Unik und die Praktikantin. Sie führen uns durch den Prozess. Dabei denke ich immer wieder, an welch wunderschönem Projekt ich teilnehmen darf. Ich fühle mich einfach gut. Sie erzählen vom Projekt, von den Etappen und davon, was alles auf uns zukommt. Begeisterung steigt in mir hoch und ich werde dabei immer wieder zu Tränen gerührt. Ich spüre, dass ich genau das Richtige tue. Der Traum des Buchschreibens geht in Erfüllung. Zu sagen oder eher zu schreiben habe ich vieles.
Bevor die Software vorgestellt wird, gibt es eine Kaffeepause mit einem gemeinsamen Austausch. Etwas, das ich gar nicht mag. Wenn ich Apéro oder gemeinsamer Austausch schon nur höre, möchte ich am liebsten davonlaufen. Das Herumstehen und die gesuchten Gespräche, besonders auf der Arbeit, finde ich schrecklich.
Es kommt anders. Ich trinke ein Glas Wasser an einem der Stehtische, die leckeren Gebäcke auf dem Tisch nebenan blende ich gekonnt aus, da ich einmal wieder auf die Linie schaue, und schon werde ich direkt angesprochen. Ich werde gefragt, worüber ich schreiben wolle. Und ich rede. Ganz offen. Es kommen weitere Schreibende dazu. Wir alle erzählen uns von unseren Vorhaben und als wir zurück zu unseren Plätzen gerufen werden, will ich am liebsten gar nicht mehr zurück. Zu spannend ist der Austausch. Welch wunderbare und unterschiedliche Menschen ich hier antreffe!
Nachdem die Software vorgestellt worden ist, die einfach, übersichtlich und toll daherkommt, will ich nur noch nach Hause. Getrieben vom Schreibzauber.
Das Wort Schreibzauber– es kommt von einer Teilnehmerin der Schreibrunde vor mir, also der Frühjahrsrunde. Diese durfte ich bereits vor drei Jahren am Geburtstag der lieben Schwester meines Freundes kennenlernen. Ich las ihr Buch Fliegen lernen und lernte so die Edition Unik kennen. Sie hat mich inspiriert. Zum richtigen Zeitpunkt. Ich musste nicht erst überlegen, ob ich mich anmelde. Es war sofort klar! So wünschte mir diese wundervolle Autorin »Happy typing und ganz viel Schreibzauber«. Das war ich sofort: verzaubert, von der ersten Zeile an. Danke, du wundervoller Mensch.
Diesmal will ich alles anders machen. Normalerweise, wenn ich ein Projekt starte, durchdenke ich alles ganz genau. Für so vieles schreibe ich Abläufe oder erstelle Checklisten. Diesmal nicht. Ich beginne mit dem Schreiben der Notizen. So, wie von der Edition Unik angedacht. In meinem Kopf steht weder ein Anfang noch ein Ende geschrieben. Ich schreibe, was ich eben in diesem Moment schreiben mag. Ganz ungezwungen. Alles soll niedergeschrieben werden, was zum jeweiligen Zeitpunkt für mich passt und stimmig ist. Erst einmal sieben Wochen lang jeden Tag mindestens fünfundvierzig Minuten. Das ist eine Empfehlung. Dieser gehe ich nach, so gut es denn geht. Auch da mache ich mir keinen Stress. Siebzehn Wochen lang werde ich es fließen lassen und vertraue darauf, dass alles gut wird. Ab der Woche neun werden die Notizen sortiert und zu Kapiteln zusammengelegt. Diese werde ich ergänzen und erweitern. So lange, bis es für mich stimmig ist. Am Schluss erfolgt die Buchgestaltung.
Ich werde mir Auszeiten gönnen. Auszeiten an den Wochenenden zu Hause, Auszeiten in Airbnbs, in der Natur, in den schönen Berner Cafés, einfach überall dort, wo ich im Schreibzauber aufgehen kann. Zur Schlussetappe habe ich mir Ferien genommen und werde eine Woche lang allein im Jura in einem wunderschönen Haus verweilen. Ich kann es kaum erwarten, dort mein Buch fertigzustellen. So, wie ich es kaum erwarten kann, mein Buch in wenigen Monaten in den Händen zu halten.
Begeisterung! Eine Eigenschaft, die mir mein Vater mitgegeben hat. Ich sei so begeisterungsfähig, meinte er einmal zu mir. Er hatte recht. Ich spüre sie immer wieder und ich liebe diese Eigenschaft. Noch mehr liebe ich es, dass mein Vater sie in mir entdeckt hat, bevor ich sie in mir erkannt habe.
Zurück in die Vergangenheit
Dieses Wochenende habe ich mir freigeschaufelt, um zu schreiben. Eigentlich wäre ich gestern zu meiner lieben Freundin essen gegangen und heute wäre ich mit meiner Kindheitsfreundin an ein Festival gegangen. Wobei, das Festival haben wir sowieso gecancelt, da ich ein schlechtes Bauchgefühl bei der Vorstellung hatte, dorthin zu gehen. Heute kann ich es mir nahestehenden Menschen sagen, wenn mir etwas Angst macht. Wenn ich in einem Hoch bin, mache oder buche ich leider Dinge, die ich dann nüchtern oder in Ruhe betrachtet eigentlich nicht mehr will. Sie machen mir plötzlich Angst. Sie könnten mich Situationen aussetzen, die für mich schwierig werden könnten. Es ist nicht so, dass ich aus Angst Dinge grundsätzlich nicht tue. Ich habe mich wohl allen meinen Ängsten gestellt. Dabei habe ich jedoch gelernt, wo meine Grenzen liegen und wann ich mich schützen und abgrenzen möchte. Es ist ein sehr befreiendes und bereicherndes Gefühl zu wissen, wo meine Grenzen sind und wann ich mich schützen möchte. Dabei fühle ich mich nicht mehr schlecht, anders oder schwach, wie ich das früher empfunden hatte. Ich fühle mich stark und es erfüllt mich mit Stolz, meine Grenzen zu kennen und mich dabei so wichtig zu nehmen, um mich vor gewissen Gefahren zu schützen. Es erfüllt mich mit Stolz, Menschen in meinem Leben zu haben, die dies akzeptieren und darauf eingehen, ohne mich zu verurteilen und von mir enttäuscht zu sein. Ich bin unsagbar dankbar für diese Menschen in meinem Leben. Sie geben mir alle ein Zuhause.
Nun bin ich gestern nach der Arbeit in den Bus gestiegen mit dem Wissen, dass ein sogenanntes Stifäli-Wochenende vor mir liegt. Ein kurzer Moment kam dann doch, in dem ich dachte, wie gut doch jetzt ein Bier mit lieben Menschen in der Abendstimmung wäre. Einfach, um die anstrengende, wenn auch gute Arbeitswoche abzuschließen. Immerhin habe ich es mir verdient. Doch ich kenne mich: In dieser Laune ein Bier trinken zu gehen in der wunderschönen und gemütlichen Altstadt von Bern, in der schönen, warmen Abendsonne, da macht es »zack« und ich kenne kein Halten mehr. Nun, mittlerweile eben doch. Stunden würden verstreichen, ein zweites und ein drittes Bier dazukommen, ich würde nach Hause gehen, einschlafen und am nächsten Tag nie richtig wach werden. Das wollte ich eben genau nicht, an meinem Stifäli-Wochenende – ein Wochenende, wo ich nur für mich bin, mir Zeit für mich nehme und Dinge tue, auf die ich Lust habe und die ich brauche. An diesem Wochenende soll es das Schreiben sein.
So kam ich also gestern zu Hause an, während mein Freund schon bei seinem wohlverdienten Feierabendbier war. Ganz so ruhig sein konnte ich nicht. Etwas Unruhe breitete sich in mir aus. Mein Hirn benötigt noch etwas Zeit und Training, bis es weiß, dass alles gut ist und mein Freund wieder nach Hause kommt. Dass das Leben zusammen weitergeht wie bisher. Das sage ich mir immer in diesen Momenten, in denen sich mein Kopfkino einschaltet. Ich sage mir, dass alles gut ist, und erinnere mich daran, dass ich, falls dann etwas plötzlich doch nicht gut sein sollte, alles meistern kann. Es sind Welten zu früher und doch hat es noch etwas Luft nach oben. Ich bin zufrieden mit mir. Zufrieden, weil ich allein sein kann, weil ich mich nicht mehr ablenken muss und weil diese Unruhe durch mein Denken dann schnell wieder vorbeigeht. Gut.
Ich habe mir dann zu Hause ein Bier gegönnt, eine Zigarette gedreht und erst einmal die veganen Tortellini ins Wasser geworfen. Es ist nicht so, dass ich Veganerin bin, doch ich probiere gerne Neues aus und