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Nicht Ohne Mein Ich: Von Trauma und Heilung
Nicht Ohne Mein Ich: Von Trauma und Heilung
Nicht Ohne Mein Ich: Von Trauma und Heilung
eBook382 Seiten4 Stunden

Nicht Ohne Mein Ich: Von Trauma und Heilung

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Über dieses E-Book

Viele Menschen sind heute auf der Suche nach sich selbst. Aber wo ansetzen, wann um Hilfe bitten, wie arbeiten, wieviel fühlen, wie tief eintauchen? Natalie Walther öffnet ihre Tagebuch-Aufzeichnungen und zeigt einen ganz unprätentiösen und unglamourösen Weg auf der Suche nach der eigenen Identität. Schicht für Schicht gräbt sie sich auf diesem steinigen, schmerzhaften, tränenreichen Pfad zu den bewussten, und vor allem unbewussten Traumata bis sie endlich ihr eigenes Ich umarmen kann. Die Reise führt sie über Missbrauch und Abtreibungsversuche bis in die Zeit im Mutterleib, um zu erkennen, dass sie nie gewollt, nie geliebt, nicht geschützt wurde. Die Arbeit über 20 lange Jahre fördert eine Traumabiographie zu Tage und lässt sie in den eigenen Spiegel an Illusionen, Identifikationen und Glaubenssätzen sehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Sept. 2019
ISBN9783749462766
Nicht Ohne Mein Ich: Von Trauma und Heilung
Autor

Natalie Walther

Trained over 3 years in "Dreamwork according to Ortrud Grön" (TAOG), Natalie Walther from Germany accompanies people on their very personal journey into the world of dreams. From recurring dreams, nightmares and physical reactions during the sleep up to dreams of pregnancy and birth.

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    Buchvorschau

    Nicht Ohne Mein Ich - Natalie Walther

    MICH

    1 WEIHNACHTEN 2018

    Es ist Weihnachten 2018 und ich sitze hier vor meinem Stapel Paperblanks- Bücher, meinen Tagebüchern. Über 30 wunderschöne haptische Kostbarkeiten habe ich in den letzten sechs Jahren beschrieben.

    Seit meiner Teenager-Zeit hatte ich kein Tagebuch mehr geführt. Und dann, im Sommer 2012, nahm ich wieder den Stift in die Hand, um meine Gedanken zu Papier zu bringen. Zu überwältigend waren alle Eindrücke, die Erfahrungen und Erkenntnisse, die während meiner Selbstbegegnungen, meiner Arbeiten an mir selbst, auf mich einprasselten. Ich musste einen Weg finden, all die Informationen und Gefühle zu verarbeiten, einzuordnen und zu sortieren, damit ich bereit war, den nächsten Schritt zu gehen.

    Vor über zwei Jahrzehnten habe ich mich auf dem Weg zu mir selbst begeben. War es mir damals bewusst? Überhaupt nicht. Ich wollte eigentlich nur Antworten finden. Antworten auf Fragen, die ich nicht einmal formulieren konnte: „Warum reagiere ich, wie ich reagiere? Warum fühle ich mich so fremd in mir? Warum fühle ich mich nie angekommen?" Alles, was ich erreichte verlor in dem Moment, in dem ich es in der Hand hielt, seinen Wert. Selten konnte ich mich wirklich, aus tiefstem Herzen an einem Ergebnis freuen. Alles Reden oder Lesen, alles Tun waren wie Tropfen auf dem heißen Stein. Ständig fühlte ich mich getrieben; auch durch meinen eigenen Perfektionsanspruch. Ich fühlte mich wie ein Reisender in der Wüste, ohne Wasser, ohne Ausweg, ohne Hilfe. Der Leidensdruck in meinem Inneren wurde immer größer. Es gab da etwas, das ich nicht fassen oder beschreiben konnte. Was zum Teufel hinderte mich daran, voranzukommen, ein glückliches Leben zu führen? Ich hatte doch alle Anlagen, ich hatte doch eine gute Schulbildung, ich war in der Lage, für mich zu sorgen, ich hatte Herz und Verstand? Was zum Teufel blockierte mich ständig, warf mir Knüppel zwischen die Beine, drückte mich immer wieder nieder?

    Innere Zerrissenheit

    Ich kenne diese innere Zerrissenheit, das Chaos in mir, mein Leben lang. Fing es in der Kindheit an, in der Jugendzeit? Ab wann wurde es wirklich schlimm? Ich kann es nicht sagen. Ich kann es auch schwer in Worte fassen. Vielleicht lässt es sich mit einer Achterbahn vergleichen, einer emotionalen Berg- und Talfahrt: Mal konnte ich die Aussicht genießen, nahm meine Umgebung war, war glücklich – bis mich etwas Unerklärliches überkam, das mich drohte, in den Abgrund zu reißen.

    Es war, als wenn mir mein Verstand den Krieg erklärt hätte. In meinem Kopf bewegte sich eine Schlange, nein, Gedankenschlangen, die jederzeit bereit waren, mich anzugreifen, mich mit Pfeilen zu beschießen. Ich gab mir die Schuld, wertete mich ab, haderte. Ich kämpfte gegen etwas Unsichtbares, Diffuses. Was auch immer ich machte oder schaffte, nie war es gut genug. Ist es etwas in mir? Ist es im Außen? Ich wusste keine Antwort darauf. Ich war gefangen in einem inneren Kampf, den ich nicht gewinnen konnte.

    Es waren auch nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Gefühle. Vielleicht ist es eine Hochsensibilität, aber ich fühle förmlich Worte, Sätze, Gestiken. Ich fühlte, wenn sie nicht stimmig sind, wenn das eine gesagt wurde, aber der Körper, die Stimme, die Worte eine andere Geschichte erzählten. Wenn auf Schönwetter und Fröhlichkeit gemacht wurde, obwohl im Inneren Trauer und Schmerz herrschten. Wenn jeder wichtiger war als man selbst. Wenn Wut nicht gezeigt werden konnte und Wahrheiten nicht ausgesprochen werden durften. Ich merkte, wenn andere nicht authentisch waren, wenn sie Vorstellungen und Glaubenssätze wie Masken vor ihr sich hertrugen, ja, manchmal sogar aufsetzten, um sich dahinter zu verstecken. Manche redeten sich sprichwörtlich um Kopf und Kragen. Ich merkte auch, wenn Spiritualität wie ein Schutzschild benutzt wurde, um ja den eigenen Körper und den eigenen Schmerz nicht mehr zu spüren.

    Als wenn das nicht reichen würde, fühlte ich mich oft, als wenn ich gleichzeitig Mitspieler, Beobachter und Zensor wäre: Ich unterhielt mich mit einer Person und gleichzeitig beobachtete ich mich von außen: „Was sage ich? Wie sage ich es? Was habe ich an? Während ich mich beobachtete und analysierte, bewertete und zensierte ich gleichzeitig: „Das fühlt sich nicht richtig an. „Da muss es etwas anderes geben. „Das bist nicht du.

    „Warum bin ich nicht authentisch? „Der andere versteht dich wieder nicht. Ich kämpfte gegen Windmühlen.

    Wie kann etwas sein was doch nicht ist? Wie kann etwas bekannt sein und gleichzeitig so fremd? Der Kopf dampft, raucht, wirft Schatten, kreiert Illusionen, grollt, faucht, jault. Ich will es nicht und gleichzeitig bin ich es.

    „Nein. Ich bin es nicht.

    Das bin nicht ich.

    Das ist unmöglich!"

    Was, zum Teufel, ist mit mir los? Kann man die Vergangenheit nicht einfach wie einen abgetragenen Mantel ablegen, weglegen? Kann ich nicht alles einfach hinter mir lassen, es loslassen? Könnte es nur so sein wie bei Aschenputtel: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.

    Aussortieren, einfach so. Geht das? Und wenn ja, wie?

    Warum finde ich keine Ruhe? Weshalb fehlt mir diese Zuversicht, diese tiefe Gewissheit und Zufriedenheit? Warum fühle ich mich so oft fehl am Platz, alleine, nicht zugehörig? Wovor laufe ich davon? Warum fühle ich mich in Beziehungen nie angekommen? Nie bin ich wirklich von ganzem Herzen verliebt. Bin ich es wert? Bin ich es überhaupt wert, geliebt zu werden?

    Weniger lustig, weniger weiblich, weniger hübsch, weniger klug, weniger erfolgreich, weniger, weniger, weniger. Bin ich überhaupt wert zu leben? Ich suche und weiß nicht was. Gewissheit und Zweifel. Energie und Lethargie. Schuld, nicht schuldig. Leben, Sterben, Lachen, Weinen, Zuversicht, Hoffnungslosigkeit. Kann man seine eigene Seele suchen, in den eigenen Seelenspiegel blicken? Man muss doch nicht alles wissen, oder?

    Wann ist genug genug? Wie oft muss mir das Leben noch einen Spiegel vors Gesicht halten? Kann mir keiner helfen? Muss ich ständig den Weg alleine gehen? Gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich müsste anderen helfen. Das ist so anstrengend!

    „Dich will doch sowieso keiner hören. „Wer denkst du, wer du bist?

    „Und du glaubst, etwas zu sagen zu haben? „Du bist zu dumm. „Du bist da, um Befehle auszuführen, aber nicht, um eine eigene Meinung zu haben. „Wozu brauchst du eine gute Ausbildung als Mädchen? „Du wirst sowieso am Fließband von Siemens arbeiten. „Du musst aufs Gymnasium. „Du bist wie dein Vater. „Du bist wie deine Mutter. Ich bin schuld. ICH BIN SCHULD! Weinen, vor lauter Tränen sich zusammenkrampfen, in sich einrollen, keinen Ausweg finden.

    Nicht mehr kämpfen, nicht mehr suchen, nicht mehr fühlen. Tot sein, am liebsten tot sein. Aber nicht einmal das schaffe ich. Bin ich etwa verrückt?

    „Nein. Eines weißt du ganz genau: Du bist nicht verrückt." Aber der Krieg tobt weiter in mir, angetrieben von einer gnadenlosen Maschine, die Maschine der Gedanken und meiner Gefühle. Minute um Minute, Stunde um Stunde, angetrieben durch die ständige Frage nach dem Warum.

    Laufen, laufen, immer weiter laufen.

    Hör nicht auf, Natalie.

    Ich kann nicht...

    Hör nicht auf, Natalie!

    ICH kann NICHT!

    GEH WEITER, NATALIE!

    WER BIN ICH?

    In mir sitzt ein Rebell. Nur ein bisschen Frieden? Geht nicht. Nur ein bisschen Veränderung? Unmöglich. Ich will alles. Ich will und muss in die Tiefe eintauchen, in die Untiefen, bis auf den Grund des Meeresbodens. Ich will wissen, was Leben ist. Ich will wissen, wer ich bin. So einfach und so schwer.

    Wortgerüste, Fassaden, geschrieben, gesprochen, eloquent, eindrücklich, schmeichelnd, erleuchtet, gut verpackt – ich kann sie nicht glauben, ich kann sie nicht verstehen, sie berühren mich nicht in meinem tiefsten Inneren. Ich muss es zuerst selbst fühlen, erfühlen, selbst erleben, selbst durchleben, verstehen, wirklich verstehen, wirklich „be-greifen", von außen nach innen stülpen und wieder zurück.

    „Es geht nicht anders, Natalie.

    Gehe Deinen ganz eigenen Weg."

    Meine Biographie

    Aufgewachsen bin ich in der Nähe des Chiemsees im Süden Bayerns, in Traunreut. Wunderschöne Landschaften, herrliche Berge, so viele Seen.

    Vater Grieche, Mutter Kroatin. Beide kamen im Zuge der Gastarbeiterbewegung nach Deutschland. „Bring mir ja kein uneheliches Kind nach Hause" waren die Abschiedsworte meiner Großmutter gewesen, als meine Mutter mit 18 Jahren den Bus nach Deutschland nahm.

    Meine Eltern lernten sich bei Bosch Siemens Hausgeräte kennen, dem damaligen größten Arbeitgeber in Süddeutschland. Traunreut war eine der drei Städte in Bayern gewesen, die nach dem Krieg neu gegründet worden sind. In Mitten von Oberbayern trafen sich hier also Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Gastarbeiter aus Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien. Die meisten arbeiteten bei Siemens – am Fließband. Umgeben von tiefstem Bayrisch sprachen wir Hochdeutsch.

    Hier lernten sie sich also meine Eltern kennen; aber nicht lieben. Mein Vater war wohl in meine Mutter verliebt gewesen, aber meine Mutter nicht in ihn. Sie wollte eigentlich einen anderen und dann wurde sie mit mir schwanger. Kurz vor meiner Geburt wurde geheiratet und im Juli 1970 kam ich in Traunstein per Kaiserschnitt zur Welt. Gestillt wurde ich nie und keine sechs Wochen später musste meine Mutter wieder arbeiten, in Vollzeit. Das Geld war knapp. Mein Vater verließ Siemens und arbeitete wieder auf den Baustellen Münchens und kam somit nur noch an den Wochenenden nach Hause.

    Meine griechische Oma kam kurz nach meiner Geburt zu uns, um meiner Mutter zu helfen. Dann wurde ich zu einer Tagesmutter gegeben, ganztags, und mit 3 Jahren dann in den Kindergarten bis 17.00 Uhr.

    Ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, da wurde Rachitis bei mir diagnostiziert und ich kam deswegen für zwei Wochen in die Kinderklinik nach Berchtesgaden. Ich sage angeblich, da kein Arzt danach jemals feststellen konnte, dass es hierfür Anzeichen bei mir gab. Meine Eltern erzählten mir, dass ich bei ihrem ersten Besuch so geweint hätte, dass sie von der Klinik angewiesen wurden, mich nicht mehr zu besuchen. Vielen Kindern erging es damals so wie mir. Mit ungefähr fünf Jahren war ich wieder im Krankenhaus, da ich ständig krank war. Mir wurden die Mandeln und Polypen entfernt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich alleine auf einem dunklen Flur wach wurde. Man hatte mein Krankenbett dort abgestellt. Ich kann mich auch noch an die Schmerzen im Hals erinnern und den Durst, den ich hatte. Aber trinken durfte ich nicht. Und wieder alleine im Krankenhaus.

    6 ½ Jahre nach meiner Geburt kam mein Bruder auf die Welt. Ein Wunschkind. Meine Eltern hatten mich im Jahr davor im Urlaub gefragt, ob ich ein Geschwisterchen möchte. Ich hatte mir immer einen Bruder gewünscht, hatte sogar eine männliche Puppe (meine einzige Puppe), die ich „Brüderchen" nannte. Aber jetzt, ich war schon so groß, wollte ich kein Geschwisterchen mehr haben. Meine Eltern hatten sich aber schon entschieden und im November 1976 kam mein Bruder auf die Welt.

    Ich weiß noch wie heute, wie ich zu Hause wartete und wie mein Vater stolz nach der Geburt nach Hause kam. Ein Sohn. Und ich? Als ich meinen Bruder zum ersten Mal sah war es Liebe auf den ersten Blick. Ich habe ihn geknuddelt, mit ihm gespielt, ihm vorgelesen. Ich wurde seine Ersatzmutter, aber nicht nur, weil ich ihn so lieb hatte. Instinktiv, ohne dass ich es hätte sagen können, merkte ich, dass meine Mutter komplett überfordert war mit einem zweiten Kind. Ich hatte das Gefühl, dass sich ab diesem Zeitpunkt die Ehe meiner Eltern verschlechterte.

    Einige Monate später wurde mein Bruder orthodox getauft in der griechischen Kirche in München. Taufpate wurde ein enger Bekannter meines Vaters aus Griechenland, der extra mit seiner Familie angereist war. Ich war übrigens katholisch getauft worden (nach meiner Mutter), aber anders als bei meinem Bruder noch direkt im Krankenhaus und zwar sechs Tage nach meiner Geburt, am 25. Juli. So steht es hier im Taufregister, das ich vor mir liegen habe. Warum wurde ich gleich nach der Geburt getauft? War es eine Nottaufe? Diese Frage stelle ich mir erst jetzt…

    Meine griechische Oma kam zu uns, um meine Mutter zu unterstützen und blieb circa zwei Jahre bei uns. Damit war die Hauptsprache bei uns Griechisch – und plötzlich verlernte ich Deutsch! Ich war zwar schon in der 4. Klasse, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich manchmal beim Spielen mit meinen Freunden das Gefühl hatte, dass mir die Worte fehlen würden. Das Gefühl der Sprachlosigkeit verfolgte mich noch sehr, sehr lange und manchmal verdrehe ich auch heute noch die Hauptwörter in einem Wort. Dann wird aus Blumentopf plötzlich Topfblume.

    Sprache war überhaupt ein interessanter Aspekt bei uns gewesen. Die gemeinsame Sprache meiner Eltern war Deutsch. Englisch war damals noch keine Option und so sprachen sie in der Sprache ihres Gastlandes. Meine Mutter hatte auch Deutsch in der Schule gelernt und sie sagte immer, wie sehr sie die deutsche Sprache liebte. Sie sagte aber auch, dass sie mit uns Kindern nie Serbokroatisch sprechen würde. Sie weigerte sich. Meine Eltern waren für die jeweilig andere Kultur offen. Mein Vater lernte ein wenig Serbokroatisch, meine Mutter Griechisch. Und ich? Ich hatte das Gefühl, keine Sprache richtig zu können: Serbokroatisch lernte ich nie, Griechisch konnte ich bis zur Teenager-Zeit perfekt und verlernte es danach innerhalb weniger Jahre; obwohl ich sogar Lesen und Schreiben gelernt hatte in der griechischen Nachmittagsschule, die ich ein- bis zweimal in der Woche besucht hatte. Und Deutsch? Akzentfrei sprechen war nie ein Problem, aber in der Schule hatte ich immer das Gefühl, ich hinke den anderen meilenweit hinterher.

    Überhaupt… mein Name. War es nicht merkwürdig, dass mein Name bereits nach der Geburt ständig geändert wurde und auch später nicht einmal mehr mit meiner Geburtsurkunde übereinstimmte? Der früheste Eintrag ist das Taufregister. In dem Auszug steht, dass ich am 25. 7. 1970 noch im Krankenhaus Traunstein auf den Namen „Nathalie Christine Vassi getauft wurde. Aber schon in der Geburtsurkunde, die vier Tage später am 29. 7. 1970 vom Landratsamt Traunstein ausgestellt worden war, steht „Natalie Christine Vassi, d.h. Natalie ohne h. Und so habe ich mich auch ein Leben lang geschrieben: Natalie. Mein Vater schrieb meinen Vornamen übrigens immer so: „Natali, d.h. ohne e. Mein Nachname wurde auch ständig geändert. Aus „Vassi in der Geburtsurkunde wurde „Vasis. So steht es in meinem Zeugnis aus der 1. Klasse Grundschule. Dies blieb bis zur 10. Klasse, aber in der 11. Klasse wurde plötzlich „Vassis daraus, um in der 12. Klasse zu „Wassis zu werden. Ich weiß noch, wie wütend ich gewesen war und mich mit meinem Abschlusszeugnis entschlossen hatte, endgültig bei „Vassis zu bleiben. Als würde sich der Kreis wieder schließen zu meiner Geburtsurkunde…

    Aber zurück zu meiner Kindheit: Ich schämte mich für mein zu Hause. Ja, ich muss es leider so deutlich sagen. Ich schämte mich dafür, dass meine Eltern Ausländer waren, ich schämte mich dafür, dass sie am Fließband arbeiteten. Ich schämte mich dafür, dass ich niemanden nach Hause mitbringen konnte, weil ich kein eigenes Zimmer hatte, während alle meine Mitschüler in Häusern wohnten oder zumindest ihr eigenes Zimmer hatten. Ich fühlte mich auch zwischen den Kulturen hin und her gebeutelt. Die Deutschen waren so ruhig, geordnet, analytisch; allerdings auch ziemlich steif zu der damaligen Zeit. Im Gegensatz zu der lauten, sehr körperlichen Mentalität und Spontanität des Südens. Ich konnte gar nicht verstehen, wie andere diesen Mischmasch so gut verdauten, wie man sogar Witze darüber machen konnte.

    Am meisten aber schämte ich mich dafür, dass meine Eltern sich ständig stritten. Meine Eltern waren kein Paar; wir waren keine Familie. Hatte ich einen schönen Tag in der Schule oder mit Freunden, ich wusste nie, was mich erwarten würde, wenn ich nach Hause kommen würde. Meine Mutter schlug mich manchmal mit dem Tennisschläger meines Bruders. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, warum, aber ich glaube, weil ich ihr oft widersprochen habe. Gleichzeitig hängte sie sich aber an mich wie ein kleines Kind. Ich sollte mich um ihre Dinge kümmern, als wäre ich ihre Mutter. „Das macht doch ein gutes Mädchen, dachte ich, und gleichzeitig hasste ich es. Mein Vater war nie zu Hause. Er überließ die Erziehung, die Schule und alles rund um das Thema Familie meiner Mutter. Mein Vater hatte eigentlich eine sehr ruhige, gutmütige Art und war sehr beliebt bei anderen, aber zu Hause, innerhalb der Familie war er nicht greifbar. Es war, als wenn er sich allem und jedem entziehen würde. Seine griechische Community war ihm eindeutig wichtiger. Selbst zu den Fußballspielen meines Bruders kam er nie. Ich hatte mir oft gewünscht, dass sie sich scheiden lassen würden; und hatte doch große Angst davor. Sie ließen sich auch tatsächlich scheiden; aber nur auf dem Papier. Wir wohnten alle weiterhin gemeinsam. Was für ein Chaos. Und dann wurde ich immer wieder von beiden beschimpft: „Du bist wie dein Vater!, „Du bist wie Deine Mutter." Mein einziger Ausweg war, so wenig wie möglich zu Hause zu sein.

    Gymnasium. Im Nachhinein gesehen ging es mir besser als gedacht. Ich war zwar mittelmäßig und brauchte Nachhilfestunden in Mathe und Physik, aber es war okay. In der 11. Klasse allerdings wäre ich fast durchgefallen, weil meine Noten in Englisch und Latein auf 5 standen. Mit Ach und Krach schaffte ich dank Nachhilfe die 4 in Englisch und konnte in die 12. Klasse vorrücken. Ich schaffte sogar das Abitur! Mittelmäßig zwar, aber ich schaffte es. Das war zu der damaligen Zeit, 1989, eine Seltenheit: Kinder aus einem ausländischen Arbeiterhaushalt, die das Abitur in Deutschland machen. Ich glaube, ich gehörte zu den ca. 5%.

    Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, vielleicht so 14 oder 15 Jahre, da kam eines Tages meine Mutter ins Wohnzimmer, tränenüberströmt, und erzählte mir, dass sie abgetrieben hätte. Wirklich? Ich fühlte in mich hinein, aber ich hatte kein Gefühl für ihre Worte. Nie wieder sprach sie das Thema an und mir war es damals auch nicht wichtig gewesen.

    Als mein Bruder klein war, wollte ich ihn noch beschütze, aber je älter ich wurde, umso stärker wurde dieser eine Wunsch: Weg! Ich muss von zu Hause weg! Ich wusste, dass ich mit dem Abitur sofort die Koffer packen würde; keine Minute länger wollte ich dort noch leben. Im September 1989, mit dem Abi in der Tasche, zog ich nach München. Sprachenschule, ein neues Leben, zum ersten Mal ein eigenes Zimmer. Endlich durchatmen, endlich alleine sein! Ich lernte, ich arbeitete – und ich war viel unterwegs, habe viel gefeiert. Endlich konnte ich mein Leben gestalten!

    1989, 2 ½ Jahre Ausbildung zur Europa-Sekretärin. Was hatte ich dabei das Glück mit meinen Mitschülerinnen. Vier Mädchen in München, mit vielen Milchreis-Abenden, Partys und guten Gesprächen. Und trotzdem begleitete mich weiterhin diese innere Zerrissenheit: Meine Mitschülerinnen waren alle aus gutem Hause, hatten keine Geldsorgen, lebten in großen Wohnungen, während ich ein 17qm kleines Zimmer hatte. Dazu kamen die vielfältigen Versuchungen einer großen Stadt, das Überangebot, die Möglichkeiten. Ich bekam zwar Bafög, meine Eltern zahlten mir die Sprachenschule und ich arbeitete auch während der Schulzeit und in den Ferien, aber ich hatte immer sehr, sehr wenig Geld. Die finanzielle Angst begleitete mich jahrelang, jahrzehntelang.

    1992 ging ich als Au-Pair nach Barcelona, Spanien. Ich vermisste München wahnsinnig, aber es war eine tolle Zeit. Ich wäre gerne geblieben, hatte auch das Angebot meiner Gastfamilie, länger zu bleiben und liebäugelte mit einem kleinen Job als Kellnerin. Ich ging ein zweites Mal nach Barcelona, als nach ein paar Wochen mein Bruder auf einmal lebensgefährlich erkrankte. Von heute auf morgen landete er auf der Intensivstation. Sofort flog ich nach Hause zurück und besiegelte damit auch meine Träume nach Spanien zurückzugehen. Wochenlang hatte ich deswegen geweint.

    Dafür begann ich mein BWL-Studium an der Universität Augsburg. Ich vermisste München, die Leute, die Partys und mir gefiel das Studium in Augsburg überhaupt nicht. Dieser mathematische Ansatz - es war einfach langweilig, so unglaublich theoretisch. Wo war die Praxis, wo waren die Anwendungsfälle, wo das richtige Leben? Und dann fiel ich im Vordiplom durch; obwohl die zweite Prüfung machbar gewesen wäre. Aber ich lernte nicht mehr. Warum, wurde mir erst Jahre später bewusst: Ich wollte nicht mehr in Augsburg bleiben; ich hatte diese Sinnlosigkeit des Lernens satt. Aber das war mir damals nicht bewusst. Stattdessen fühlte ich mich als komplette Versagerin. Das einzig Gute? Ich ging wieder zurück nach München und ich studierte weiter an der Fachhochschule. Endlich war ich wieder glücklich! Ich arbeitete viel neben dem Studium, hatte großes Glück mit meinen Praktika und ich war wieder viel unterwegs mit meinen Freunden. Ich merkte in dieser Zeit auch, wie gut es mir tat zu arbeiten, wieviel Energie ich aus der Arbeit für das Studium schöpfte, wie sehr ich den Kontakt mit anderen genoss und vor allem immer wieder neu herausgefordert zu werden. Machen anstatt Denken.

    Aber meine Mutter schaffte es immer wieder mit tödlicher Treffsicherheit, mich zurück in das Tal der Tränen zu katapultieren. Sie fing an, Stimmen zu hören, und eines Tages stand sie aus heiterem Himmel in meinem Apartment. Ich weiß noch, wie ich die Tür öffnete und sie dort auf meinem Sofa sitzen saß. Sie hatte Fotos von mir zerschnitten oder überklebt, meine Heizung mit einer weißen Farbe übermalt, die so stank, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte. Ich war total geschockt. Und sie? Sie lächelte nur. Ist doch alles nicht so schlimm, sie verstehe gar nicht, was ich habe, sie wolle mich doch nur sehen. Und ich? War innerlich zerrissen, wollte sie einerseits rausschmeißen und gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil es doch meine Mutter war. Nach einem weiteren unangemeldeten Besuch aber ließ ich das Türschloss auswechseln. Dennoch fühlte es sich an, als könnte ich ihr nicht entkommen, als dürfte es mir nicht gutgehen. Ich traute mich nicht, den Kontakt zu ihr komplett abzubrechen. Ich hatte ihn schon reduziert, aber es gab noch diese Hoffnung in mir, dass sich vielleicht etwas ändern könnte. „Vielleicht macht sie ja eine Therapie? Vielleicht helfen mir mein Bruder und mein Vater? Vielleicht wird es ja auch bessern, wenn ich selber Kinder bekomme und sie Oma wird?" Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und auf dem Weg, den Kontakt mit ihr aufrecht zu erhalten, betrog ich mich um meine Wünsche und Bedürfnisse.

    Dann, über meinen Freund, kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit Therapien. Es war Zeit, den ersten Schritt zu machen und ich machte ihn 1998. Ich lernte die klassische Familienaufstellung nach Bert Hellinger kennen und kann mich noch sehr gut an meine erste Aufstellung in der Gruppe erinnern. Ich weiß nicht mehr, welches Anliegen ich gewählt hatte für meine eigene Familienaufstellung, aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass der Therapeut mich aufforderte, mich vor die Repräsentantin meiner Mutter und meines Vaters niederzulegen, Gesicht nach unten und ausgestreckten Armen. Denn: „Du sollst Vater und Mutter ehren. Am Ende der Aufstellung meinte der Therapeut, dass sich mein Verhältnis zu meiner Mutter ändern würde, wenn ich auch selber Kinder hätte. Gott, wie ich diesen Moment gehasst habe! „Nie mehr wieder wirst du das machen, Natalie! Dich so erniedrigen lassen! Ich habe diese Arbeit auch nicht mehr wiederholt. Aber: Ich dachte tatsächlich, dass meine Mutter meinen Kindern eine liebevolle Oma sein könnte! Ich konnte die Worte des Therapeuten nicht vergessen. „Vielleicht

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