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Frauenhaus
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eBook288 Seiten3 Stunden

Frauenhaus

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Über dieses E-Book

Bettinas Alltag ist bestimmt von ihrer Arbeit mit Frauen in einem Frauenhaus im Ruhrgebiet, deren schwierigen Familiensituationen und Bettinas unermüdlichem Einsatz bei Behördengängen, Terminen mit Rechtsanwälten und Jugendämtern. Außerdem ist sie gleichzeitig Schlichterin und Trösterin der dort lebenden Kinder.
Schafft Bettina den Spagat zwischen Beruf und ihrer Familie? Welche Herausforderungen muss sie meistern, um allen gerecht zu werden?
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum1. Aug. 2023
ISBN9783957203823
Frauenhaus
Autor

Marlies Zollenkopf

Marlies Zollenkopf wurde in Hamm, Westfalen, geboren, ist da auch aufgewachsen und ging zunächst auch in Hamm, später in Paderborn zur Schule. Anschließend studierte sie in Bremen Sozialpädagogik mit den Schwerpunkten Resozialisierung und Familienarbeit. Nach ihrem Studium arbeitete sie in der Straffälligen Betreuung und der Bewährungshilfe und dann viele Jahre in einem Frauenhaus. Die Autorin ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

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    Buchvorschau

    Frauenhaus - Marlies Zollenkopf

    1. Spätdienst – Nadja, Matilda

    Dienstags hatte Bettina Spätdienst im Frauenhaus, seit achtundzwanzig Jahren, immer am gleichen Tag. Manchmal konnte sie nicht glauben, dass so viel Zeit vergangen war.

    Fast genauso lange war sie mit Hassan verheiratet, ihre beiden Töchter Laura und Selma wurden geboren.

    Sie hatte unzählige Frauen betreut, war mit ihnen zum Jobcenter oder früher zum Sozialamt gefahren, hatte ihre Lebensgeschichten gehört, sie getröstet, hatte sie zur Entbindung in die Klinik begleitet oder zum Schwangerschaftsabbruch.

    Wie viele Briefe hatte sie vorgelesen, erklärt und beantwortet? Wie viele Deutsch- und Integrationskurse beantragt? Schulden reguliert, Wohnungen gekündigt, Kindergartenplätze gesucht?

    Bettina mochte ihre Arbeit, und sie mochte die Frauen. Aber die Strukturen der Einrichtung machten sie manchmal müde.

    Die beiden Kolleginnen vom Frühdienst verabschiedeten sich am frühen Nachmittag. Bettina sah auf die Uhr. Drei Mal hatte sie in den letzten Tagen versucht, ihre jüngste Tochter Selma anzurufen, und sie nicht erreicht.

    Jetzt hatte sie Glück. Selma war gleich am Telefon. »Mama«, rief sie, »ich wollte mich auch schon bei dir melden! Du glaubst nicht, wie spannend das Fotoprojekt hier im Flüchtlingsheim ist! Die Jungs arbeiten so toll mit, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich komme in den nächsten Tagen zu Hause vorbei, versprochen. Ich habe dir und Papa ganz viel zu erzählen. Fotos bringe ich auch mit. Aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit!«

    »Bis bald, meine Kleine«, sagte Bettina, aber da hatte ihre Tochter schon aufgelegt.

    Selma studierte Fotografie an der Folkwang-Universität in Essen, nachdem sie im Sommer ihr Biologiestudium in Bochum abgebrochen hatte. Gerade war sie mit einem Fotoprojekt in einer Flüchtlingsunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschäftigt. Und wie immer war sie hellauf begeistert.

    Kurz vor halb vier rief ein junger Mann aus einem türkischen Lebensmittelladen an. »Hier ist eine rumänische Frau, die weint. Sie spricht etwas Deutsch. Sie sagt, ihr Freund habe sie geschlagen und aus der Wohnung geworfen. Kann ich sie zu Ihnen bringen?«

    Eine Frau, die von ihrem Partner geschlagen wurde und nicht weiß, wo sie bleiben kann, gehört in ein Frauenhaus. Aber eine Frau, die aus einem Land stammt, das zur Europäischen Union gehört, kann eigentlich nur in einem Frauenhaus aufgenommen werden, wenn sie arbeitet. Denn nur dann wird das Jobcenter die Unterbringungskosten bezahlen. Bettina fragte den jungen Mann: »Arbeitet die Frau?«

    »Nein«, sagte er, »aber sie will arbeiten. Sie hat schon hier im Laden nach Arbeit gefragt. Bitte, kann ich die Frau zu Ihnen bringen? Sie kann doch bei der Kälte nicht auf der Straße schlafen!«

    »Bringen Sie die Frau her«, sagte Bettina und nannte ihm die Adresse.

    Sogleich rief sie in der Obdachlosenunterkunft der Inneren Mission an. Vielleicht gab es dort eine andere Form der Finanzierung.

    »Nein«, sagte die Kollegin, »wir kennen das Problem. Es gibt kein Geld für diese Frauen.«

    Zwanzig Minuten später stand der junge Mann mit einer Frau vor der Tür. Sie hatte verschiedene Plastiktaschen in der Hand und eine leuchtend rote Mütze auf dem Kopf. Ihr Gesicht war verweint.

    Der junge Mann hielt Bettina einen Pappteller mit zwei Kuchenstücken entgegen. »Das ist für Sie und für die Frau. Sie heißt Nadja und hat bestimmt Hunger.«

    Bettina nahm Nadja mit ins Büro.

    »Ich arbeiten«, sagte Nadja immer wieder. Anscheinend hatte ihr der junge Mann schon gesagt, dass sie normalerweise hier nicht aufgenommen werden konnte.

    »Hier ist ein Frauenhaus, hier können Sie heute schlafen, aber eine Arbeit kann ich Ihnen nicht besorgen«, antwortete Bettina.

    »Nicht verstehen, arbeiten, working!«

    Bettina kopierte den rumänischen Pass und eine nationale Krankenkassenkarte. Sie füllte einen Antrag für das Jobcenter aus, auf dem wichtige Angaben fehlten, und faxte alles ans Jobcenter. Dann zeigte sie Nadja ein kleines Eckzimmer. »Morgen«, sagte sie, »sprechen wir.«

    »Morgen Arbeit?«

    »Nein, nur sprechen«, antwortete Bettina und schloss die Tür.

    Bettina wartete auf Matilda. Sie hatte Teewasser aufgesetzt und zwei Becher auf den Bürotisch gestellt. In der Zwischenzeit sah sie die Post durch. Auf Briefe, die im Frauenhaus ankamen, wenn die Frauen schon nicht mehr hier lebten, schrieb sie die neue Adresse und legte sie ins Postfach.

    Dann klingelte das Telefon. »Ich habe eine Frage«, sagte die Anruferin, »meine Tante ist gestorben, und ich löse gerade ihre Wohnung auf. Ich möchte Ihnen Hausrat und Bettwäsche spenden. Können Sie so etwas gebrauchen?«

    »Ja«, antwortet Bettina, »auf jeden Fall! Wenn Sie die Sachen in den nächsten Tagen vorbeibringen, freuen wir uns.«

    Bettina sah auf die Uhr. Schon 17:15 Uhr. Matilda wollte um 17 Uhr bei ihr sein. Die Frau aus Nigeria hatte einen Brief von ihrer Baugesellschaft bekommen, den sie nicht verstand. Ab 18 Uhr putzte Matilda bei der Deutschen Bank um die Ecke. Die Zeit zum Brieflesen, Erklären und vielleicht Beantworten wurde knapp.

    Getrappel von kleinen Füßen im Gang. Die Zwillinge Aylin und Ayse standen vor der Tür. Beide trugen rosa T-Shirts und rosa-weiß gepunktete Leggins. Sie hielten sich für alle Fälle an der Hand.

    »Weißt du, wo unsere Mama ist?«, fragte Ayse (oder war es Aylin?).

    »Kommt mit«, sagte Bettina, »vielleicht ist sie in der Waschküche.« Bettina nahm ihren Schlüssel vom Tisch und ging zur Treppe.

    Aylin und Ayse hüpften hinterher.

    Nermin, ihre Mutter, stopfte Wäsche in den Trockner. »Ah bu benim iki kiz!« Nermin lachte. »Könnt ihr nicht fünf Minuten allein bleiben?«

    Es klingelte. Bettina schaute auf den Bildschirm der Gegensprechanlage. Tatsächlich, Matilda war eingetroffen. Sie lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür.

    »Hello«, schnaubte Matilda, die seit 20 Jahren in Deutschland lebte. Dann folgte die Begrüßungsformel, die Bettina bei jedem Treffen mit Matilda hörte: »I am sorry, I am late!«

    »Wie geht es dir?«, fragte Bettina.

    »Pain«, antwortete Matilda »Pain in my back«, und sie legte ihr Gesicht in Falten. Die Perücke mit dem schwarz glänzenden Kunststoffhaar saß etwas schief auf dem Kopf.

    Im Büro angekommen, packte Matilda gleich ihren Brief aus. Die HGW als Vermieterin hatte geschrieben. Die Betriebskostenendabrechnung musste beglichen werden.

    Gab es ein englisches Wort für Betriebskostenendabrechnung? Als Matilda vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal ins Frauenhaus kam, zusammengeschlagen von ihrem damaligen und seit Jahren verstorbenen deutschen Ehemann, sprach sie kein deutsches Wort. Ein paar Jahre später nahm sie an einem Deutschkurs teil, aber sie konnte sich die schwierigen Wörter in der fremden Sprache nicht merken.

    Inzwischen ging das besser, sodass Matilda und Bettina seit einiger Zeit Deutsch miteinander sprachen.

    Bettina versuchte nun, den Begriff zu erklären, aber auch damit konnte Matilda nichts anfangen. »Ich habe alles bezahlt, Treppenhauslicht, Müllabfuhr, Straßenfeger. Mein Mann zahlt gar nichts, warum er nicht zahlen?«

    »Weil du den Mietvertrag unterschrieben hast«, antwortete Bettina. »Frag deinen Mann, er soll dir Geld geben. Du musst einfach 153 € nachzahlen.«

    »Ha!«, rief Matilda »Dieser Mann gibt kein Geld, er versteht Deutschland nicht, denkt wie Afrika!« Matilda war zum vierten Mal verheiratet. Sie wohnte mit ihrem Mann in Eickel. Nach ihrem letzten Frauenhausaufenthalt vor drei Jahren war sie allein in eine kleine Hochhauswohnung gezogen. Damals arbeitete sie und arbeitet auch heute noch morgens von fünf Uhr bis um zehn Uhr im Hotel als Zimmermädchen und putzt abends die Büros der Deutschen Bank. Sie wünschte sich, dass jemand da wäre, wenn sie abends todmüde nach Hause käme. Vielleicht mit dem Essen auf sie warten würde, sonntags mit ihr in die African Church ginge und ihr abends den schmerzenden Rücken einriebe.

    Als Matildas Vater vor drei Jahren mit 96 Jahren starb, reiste sie nach Lagos. Ihre Mutter stellte ihr John vor. Sechzig Jahre alt, wie sie, geschiedener Taxifahrer, mit drei erwachsenen Kindern, und seine Sprache war Igbo, genau wie Matildas. John wollte nach Deutschland, noch ein paar Jahre arbeiten und von dem Geld ein eigenes Taxi für sich und seinen ältesten Sohn kaufen. Matilda und John heirateten drei Tage später, und Matilda flog zunächst allein zurück.

    Ein halbes Jahr später konnte John als Familienangehöriger nachkommen. Matilda war nicht mehr allein; John kochte auch das Abendessen, aber er war bald unzufrieden, weil er keine Arbeit fand. Wie sollte er Geld für sein Taxi sparen?

    Matilda hatte sich eine finanzielle Entlastung durch die Heirat vorgestellt, nun musste sie für Johns Lebensunterhalt aufkommen. Es gab häufig Streit. Erst als der Mann eine Arbeit in einer Fleischfabrik fand, vertrugen sich die beiden besser. Sie teilten sich die Miete, die Stromkosten übernahm Matilda, denn John wollte nicht einsehen, warum er dafür bezahlen sollte. Und mit einer Betriebskostenendabrechnung wollte er schon gar nichts zu tun haben.

    »Jetzt ich habe kein Geld«, meinte Matilda. »Ruf an, Bettina, ich zahle 20 €.«

    Bettina wählte die Nummer der Baugesellschaft und ließ sich durchstellen. Ja, der Sachbearbeiter würde eine monatliche Ratenzahlung von 20 € akzeptieren. Glück gehabt.

    Bettina füllte den Antwortbogen aus, ließ Matilda unterschreiben und steckte den Brief in einen Umschlag.

    Matilda stand bereits an der Tür. Sie musste sich beeilen. Nächste oder übernächste Woche würde sie wiederkommen, mit einem Brief, einer unverständlichen Lohnabrechnung oder einem Kummer, den sie besprechen wollte.

    Bettina schaltete den PC aus, schloss die Tür zum Kopierraum ab, löschte das Licht im Flur. Als sie die Treppe hinunterging, überlegte sie, ob sie heute Abend wohl einen Parkplatz in ihrer Straße finden würde.

    2. Kindheit in Paderborn

    Bettina wuchs mit ihrer kaum eineinhalb Jahre jüngeren Schwester Sonja am östlichen Stadtrand von Paderborn auf. Ihre Oma hatte das Fachwerkhäuschen, in dem die Familie lebte, in den 30er Jahren von einem kinderlosen Onkel geerbt.

    Bettina, Sonja und die Eltern wohnten in den unteren Zimmern, die Großmutter lebte in zwei kleinen, schrägen Zimmern unter dem Dach.

    Bettina hielt sich gern in Omas Wohnküche auf. Dort kämmte sie ihre Puppe Hildegard, die früher ihrer Mutter gehört hatte und die diese bei einem Bombenangriff in Wanne-Eickel gerettet hatte.

    Sie zog Hildegard neue Kleider an, die Oma auf ihrer versenkbaren Nähmaschine nähte, und hörte der Oma zu, wenn sie Geschichten von früher erzählte. Manchmal sprach die Oma von ihrem Sohn, dem älteren Bruder des Vaters, der im Zweiten Weltkrieg auf der Krim gefallen war.

    Auf dem Glastischchen unter dem Fenster stand ein Foto von einem Jungen mit dichten, blonden Locken und einem strahlenden Lächeln. »Da war mein Hans-Gerd 16 Jahre alt«, sagte die Oma, wenn Bettina das Foto in die Hand nahm. »Mit 18 Jahren lebte er nicht mehr.«

    Bettina stellte sich manchmal vor, wie es wäre, wenn ihr Onkel aus Russland zurückgekommen wäre. Er würde dann hier, bei der Oma, wohnen und an verregneten Nachmittagen mit ihr und Sonja Mensch-ärgere-dich-nicht spielen.

    Am liebsten mochte es Bettina, wenn die Oma den Schuhkarton mit den alten Fotografien, Zeitungsausschnitten, Schulzeugnissen und Totenbildchen aus dem Kleiderschrank holte. Dann betrachteten sie gemeinsam die Kinderfotos des Vaters und Hans-Gerds, das Hochzeitsfoto der Großeltern und die auf Pappe gezogenen Fotos der Urgroßeltern. Urgroßmutters Haare waren streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Ihr Kleid hatte einen weißen, steifen Stehkragen, und um den Hals trug sie eine Kette mit einem schmalen Kreuz. Ernst und ohne Lächeln sah sie in die Kamera.

    Der Urgroßvater wirkte sehr jung. Wie alt mochte er auf dem Foto sein? 20 Jahre vielleicht. Seine Locken waren kurzgeschnitten, ordentlich gescheitelt, und er lächelte wie ein Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hat. Er starb mit 39 Jahren.

    »Nach andächtigem Empfang der heiligen Sakramente gab Bruder Johann sein Leben in die Hand des Schöpfers zurück«, stand auf seinem Totenbildchen.

    Acht Kinder hatten die Urgroßeltern bekommen, von denen fünf bereits im ersten Lebensjahr starben, Großmutter war die Jüngste.

    Bettinas Lieblingsfoto zeigte die Oma als junges Mädchen in einem weißen Sommerkleid. Sie lachte und rief dem Fotografen etwas zu.

    »Das war beim Gemeindefest St. Liborius. Ein Jahr später habe ich dort deinen Großvater kennengelernt«, erzählte die Oma. Dann faltete sie die vergilbte Zeitung auseinander und zeigte Bettina den Zeitungsartikel vom Bombenangriff auf Paderborn, bei dem der Großvater ums Leben gekommen war. »Ich konnte nicht zu seiner Beerdigung gehen«, sagte die Großmutter. »Ich wollte nicht, dass er tot ist.«

    Wenn Bettina Glück hatte, las ihr die Oma abends ein Märchen vor. Ihr Lieblingsmärchen war Brüderchen und Schwesterchen. Aber immer wieder hielt sich Bettina die Ohren zu, wenn die Oma zu der Stelle kam, an der Brüderchen ein Wolf geworden wäre, hätte es aus der verbotenen Quelle getrunken, oder als die böse Stiefmutter Schwesterchen in der glühend heißen Badekammer einsperrte.

    Die Oma schüttelte den Kopf. »Warum möchtest du gerade dieses Märchen hören, wenn es dir so viel Angst macht?«, fragte sie dann immer.

    In der Straße, in der sie lebten, gab es große Gärten hinter den Häusern. Hier wuchsen und reiften Kartoffeln, Salat, Erbsen, Porree und Zwiebeln. Es gab Johannis- und Stachelbeersträucher, Himbeeren und Rhabarber. Bettina und Sonja durchstreiften den eigenen Garten und die Gärten der Nachbarn. Nebenan wohnte Opa Korte. Die Mädchen hörten ihn schon von weitem, wenn er auf seinen Acker arbeitete. Er litt unter Asthma und atmete pfeifend aus. Manchmal zog er zwei Möhren aus dem Boden, wischte sie im Gras ab und gab sie Bettina und Sonja.

    Die steckten sie gleich in den Mund. Es störte sie nicht, dass es etwas zwischen den Zähnen knirschte.

    Ein paar Häuser weiter lebten zwei ledige, ältere Schwestern. Eine arbeitete, angetan mit großer Kittelschürze und Kopftuch, im Garten, die andere, Luise, war für das Haus zuständig.

    Manchmal klopften Bettina und Sonja an die hintere Tür.

    »Woher wusstet ihr, dass ich Plätzchen gebacken habe?«, fragte Luise. »Setzt euch auf die Küchenbank! Gleich sind sie kalt, und dann dürft ihr euch eins aussuchen.«

    Zwölf Uhr mittags, beim Agnus-dei-Läuten, mussten die Mädchen zum Essen zu Hause sein. Die Oma hatte Kartoffeln und Gemüse aus dem Garten geholt, die Mutter kochte.

    Bettina und Sonja wuschen sich die Hände und setzten sich auf die Eckbank. Manchmal, wenn das Essen noch nicht fertig war, schnitt ihnen die Mutter einen schmalen Streifen fetten, weißen Speck ab, den die Mädchen auslutschten.

    Hinter dem Haus gab es den Schuppen mit der Waschküche und dem Hühnerstall. Zehn Hühner und ein Hahn fanden dort Platz. Morgens fütterte die Oma die Hühner mit getrockneten Maiskörnern und Fischmehl.

    Bettina und Sonja waren der Meinung, das könne auf keinen Fall für den Tag reichen und halfen später mit Löwenzahn und Regenwürmern nach.

    Im Frühjahr brütete eine Glucke Küken aus. Die Mädchen nahmen die piepsenden Küken aus ihrem Käfig und streichelten vorsichtig die weichen Federn. Beim Hühnerschlachten wollten Bettina und Sonja auf keinen Fall zusehen. Das erledigte sowieso Opa Korte, denn ihr Vater war dazu nicht in der Lage.

    War ein Huhn erst geschlachtet, begann Omas Arbeit, die man mit Interesse verfolgte. Großmutter band sich die dunkle Hühner-Rupf-Schürze um, packte das Huhn an den Beinen und rupfte die Federn aus, die in den alten Zinkeimer fielen. Dann hielt sie das Huhn vorsichtig über eine Gasflamme und brannte so die Federansätze ab.

    Zum Ausnehmen ging es in die Küche. Oma breitete ein altes Geschirrtuch auf dem Küchentisch aus, während sich Bettina und Sonja auf die Eckbank knieten, damit sie besser sehen konnten. Oma förderte die Innereien zu Tage und legte sie sorgfältig nebeneinander: Leber, Magen, Nieren und die Eierstöcke mit den halbfertigen Eiern.

    Bettina und Sonja waren jedes Mal fasziniert.

    Ein Huhn wurde oft geschlachtet, wenn Mutters Eltern am Wochenende aus Wanne-Eickel zu Besuch kamen. Dann hatten Sonja und Bettina zwei Großmütter im Haus. Auch Mutters Mutter band sich kurz nach ihrem Eintreffen eine Schürze um und half in der Küche.

    Samstagnachmittags wurde ein Ungetüm von Küchenmaschine ausgepackt. Die Oma aus Wanne-Eickel stellte Schüsseln und Messbecher auf den Tisch und machte sich an die Arbeit. Sie backte einen Rosinen- oder Marmorkuchen und einen Tortenboden, den sie später mit Obst belegte. Von dem Rosinenkuchen gab es sonntags, nach dem Besuch der Heiligen Messe, ein kleines Stück.

    Vor ihrer Heirat war Oma Köchin in einem Kloster der Vinzentinerinnen. Sie entschied immer, was und wie etwas gekocht wurde, auch wenn sie zu Besuch war.

    Abends saß sie dann unter der Leselampe, stopfte Stümpfe und nähte abgerissene Knöpfe an.

    Sonntagmorgens stand sie schon früh am Herd, briet das Huhn, schnitt eine Gurke in dünne Scheiben für den Gurkensalat und schlug Eischnee, den sie unter den Vanillepudding hob.

    Sie schimpfte, wenn Bettina und Sonja ihre weißen Sonntagskniestrümpfe beim Spielen schmutzig gemacht hatten, und nicht nur die Mutter, sondern auch Bettina und Sonja waren froh, wenn sich die Großeltern nachmittags, nach dem Kaffeetrinken, auf dem Weg zum Bahnhof machten.

    Bettina und Sonja hatten viel Platz zum Spielen. Im Sommer gab es den Garten, Hühnerställe, Schuppen, Gartenhäuschen. Im Winter war der Dachboden ihr Reich. Ganz in der hinteren Ecke stand ein wuchtiger, alter Kleiderschrank, dessen Türen beim Öffnen knarrten. Unter dem Dachfenster gab es eine Chaiselongue und einen wackligen Tisch. Natürlich war es kalt hier oben, aber mit einem dicken Pullover und Wollstrümpfen ließ es sich aushalten.

    Im Kleiderschrank hingen Mäntel, Kleider und Blusen der verstorbenen Urgroßmutter. Bettina und Sonja liebten es, sich zu verkleiden. Manchmal stritten sie sich, wer den Witwenhut, einen schwarzen Filzhut mit einem kleinen Schleier, tragen durfte. Oder die schwarze Bügelhandtasche und den Muff aus gefärbtem Kaninchenfell.

    Hatten die Mädchen genug vom Verkleiden, zogen sie den wackligen Tisch vor die Chaiselongue und spielten Schule. Bettina war die Lehrerin und Sonja ihre einzige Schülerin. Malen und Biblische Geschichte standen auf dem Stundenplan. Gerechnet wurde nur ganz kurz, denn das konnte die Lehrerin selbst nicht.

    Nach einiger Zeit meldete sich Sonja und fragte: »Kann ich jetzt mal Lehrerin sein?«

    »Nein«, antwortete Bettina. »Das geht nicht, weil ich das schon bin!«

    Im letzten Winter, bevor Bettina in die Schule kam, gingen die Mädchen in den katholischen Kindergarten neben der Kirche, weil die Mutter ins Krankenhaus musste. Nach einigen Tagen war sie blass und erschöpft zurück. Sie schlief viel, und der Vater sagte, die Mädchen sollten leise sein und sich nicht zanken.

    Erst viele Jahre später erfuhr Bettina, dass die Mutter eine Fehlgeburt gehabt hatte.

    Der Kindergarten gefiel Bettina nicht besonders. Sie war es gewöhnt, allein mit Sonja unterwegs zu sein. Die vielen anderen Kinder machten ihr Angst. Die beliebten Kreisspiele

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